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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

10. Sonntag nach Trinitatis, 20.08.2017

Predigt zu Römer 9:1-5.31; 10,1-4, verfasst von Ulrich Pohl

Große Traurigkeit, Schmerzen, Wünsche von Herzen! An nur wenigen Stellen zeigt Paulus in seinen Briefen so viel von sich selbst. Er lässt sein Herzblut fließen: Sie sind meine Schwestern. Sie sind meine Brüder. Sie sind meine Stammverwandten, von ihnen komme ich her!

 

Wie weh dem Apostel tut, was hier getrennt ist. Wie sehr er sich wünscht, dass die beiden zusammengehen: Die junge Christengemeinde und das Volk Israel.

 

Ob Paulus geahnt hat, was später kam? Jahrhunderte schlimmster Auseinandersetzungen zwischen Juden und Christen. Auseinandersetzungen, in denen die Christen bald die Oberhand gewannen. Das Christentum wurde zur Staatsreligion des Römischen Reiches. Der gesamte Mittelmeerraum wurde christlich, dann ganz Europa. Für das Judentum begann eine Zeit der Unterdrückung. In der Christenheit war die Überzeugung weit verbreitet, dass die Juden Jesus umgebracht hätten; deshalb sei das Volk für alle Zeit verflucht. Sätze, die dies nahelegen, stehen tatsächlich in den Evangelien. Sie führten dazu, dass Juden verleumdet, vertrieben, verfolgt und schließlich umgebracht wurden. Eine Blutspur, die sich durch die Geschichte des Christentums zieht. Sie mündet in die systematische Judenvernichtung im dritten Reich. Und das Evangelium, das uns so lieb ist, stand am Beginn all dessen.

 

Es tut weh, das zu hören. Es fällt nicht leicht, es zu sagen. Aber es ist so. Und weil es so ist, gibt es in der evangelischen Kirche einen Sonntag, an dem wir uns vergegenwärtigen, was geschehen ist. An dem wir daran arbeiten, unseren Glauben so zu fassen, dass er frei ist von allem Hass gegen das Volk Israel. Wenn wir uns zu Jesus Christus bekennen, dann soll darin keine Ablehnung mitschwingen, sondern Versöhnung und Verbundenheit mit dem Volk, dem Jesus selbst entstammt.

 

So besinnt sich unsere Kirche jährlich am Israelsonntag auf Bibelabschnitte, die zur Sprache bringen, wie eng wir mit dem Volk Israel verbunden sind.

 

Vielleicht ist es hier angebracht, zu erklären, was mit „Volk Israel“ gemeint ist. Wenn man das Wort Israel hört, denkt man gleich an den Nahen Osten und an Krieg mit den Palästinensern. Aber das führt in die Irre. Denn das „Volk Israel“ ist eine religiöse Bezeichnung für die weltweite Gemeinschaft der Juden, deren Glaube sich aus der hebräischen Bibel herleitet. Ihr wichtigster geographischer Bezugspunkt ist der Staat Israel und Jerusalem. Das „Volk Israels“ ist etwas anderes. Wenn man diese Formulierung überhaupt gebrauchen will, dann bezeichnet sie die Einwohner des Staates Israel. Hierzu gehören zum Beispiel auch arabische Staatbürger, und viele Israelis, die der jüdischen Religion kritisch gegenüberstehen. Wenn wir uns also damit beschäftigen, was uns Christen mit „Israel“ verbindet, dann sind damit die jüdischen Gläubigen weltweit und über alle Zeiten hinweg gemeint, die sich selbst als das „Volk Israel“ bezeichnen.

 

Paulus zählt in den Versen vier und fünf des neunten Kapitels auf, was ihm und ihnen wichtig ist: Sie sind Israeliten und ihnen gehört die Gotteskindschaft und die Herrlichkeit, das Gesetz, die Bundesschlüsse und die Verheißungen. Die Väter zählen zu ihnen, und Christus, als er unter den Menschen wandelte, stammte auch aus ihrem Volk.

 

Aber der Apostel übt auch Kritik. Er übt Kritik daran, wie sich das Volk Israel verhält: Sie eifern fleißig dem nach, was Gott will. Aber sie machen es nicht richtig. Sie mühen sich, das Gesetz zu erfüllen. Sie versuchen, alle Gebote bis in Detail zu halten. Aber das bringt sie Gott nicht näher. Im Gegenteil! Sie versuchen, ihre eigene Gerechtigkeit aufzurichten, schreibt der Apostel. Und indem sie alles von sich selbst erwarten, erwarten sie nichts mehr von Gott. Mit einem Wort: Sie kümmern sich nicht um die wirkliche Gottesgerechtigkeit. Sie wissen nichts von der Gerechtigkeit, die Gott ihnen schenken will.

 

„Israel will sich von Gott nichts schenken lassen! Das Volk Israel lehnt die Rechtfertigung aus Glauben ab, es steht dem Kern des christlichen Glaubens ablehnend gegenüber!“ Vorsicht, wenn man heute diese Sätze gebraucht. Sie atmen etwas von der alten Ablehnung. Mitunter hat es den Anschein, als treibe mit solchen Behauptungen ein theologisch neu begründeter Antijudaismus seine Blüten.

 

Es mag sein, dass die Aussagen, die Paulus damals über ein selbstgerechtes Judentum machte, stimmten – aber sie stimmten zunächst nur für die Jerusalemer Tempelaristokratie, in deren Umfeld der Apostel ausgebildet wurde. Vielleicht stimmten sie auch noch für die jüdischen Gemeinden, die Paulus auf seinen Reisen kennenglernt hat. Für den jüdischen Glauben insgesamt stimmen sie nicht. Das Volk Israel sieht sich sehr wohl als von Gott beschenkt. Besonders deutlich wird das beim Passahfest, dem wichtigsten Fest im jüdischen Jahreskreis. Wenn jüdische Familien am Abend des Pessach das große Festmahl halten, vergegenwärtigen sich Alt und Jung, dass der Anfang des Volkes Israel auf eine Befreiung zurückgeht, auf die Befreiung aus der Sklaverei. Und diese Befreiung, der Auszug aus Ägypten, ist allein Gott zu verdanken, seiner Verschonung, seiner Rettung. Dies ruft sich das Volk Israel Jahr für Jahr ins Gedächtnis. Es versteht sich als aus der Liebe Gottes geboren und von der Treue Gottes begleitet. Wenn es versucht, die Gebote Gottes treu zu halten, tut es dies, um Gott etwas von seiner Liebe und Treue zurückzugeben.

 

Natürlich: In jeder Religion gibt es Strömungen, die unerbittlich auf der Erfüllung eines göttlichen Gesetzes bestehen – in der jüdischen, aber auch in der christlichen. In jeder Religion gibt es diejenigen, die sich in eine selbstgewählte Sklaverei begeben, in die Sklaverei unter vermeintlich göttliche Forderungen – in der jüdischen, aber auch in der christlichen. Doch in jeder Religion gibt es auch immer wieder die Bewegung derer, die daran erinnern, dass wir in diesem Leben zuallererst von Gott beschenkt werden. Der Theologe Eugen Drewermann hat das einmal „die Generalerlaubnis zum Sein“ genannt. Er meint damit die mich als ganzen Menschen umfassende Erlaubnis Gottes, so zu sein, wie ich bin.

 

Gott nimmt mich an, wie ich bin: Das ist der erste Schritt allen Glaubens an die Rechtfertigung. Wenn ich das in mein Leben hineinhole, dann werde ich aus Freude und aus Dankbarkeit auch auf das achten, was Gott von mir will. Gott nimmt mich an, wie ich bin - aber ich muss nicht bleiben, wie ich bin. Ich darf mich weiterentwickeln. Ich darf mich auf Gott hin entwickeln. Ich darf werden, wie Gott mich gemeint hat.

 

So stimmt das Beste unseres christlichen Glaubens mit dem Besten aus der jüdischen Religion überein. Das Judentum und das Christentum sind von der Wurzel her mit einander verbunden. Das ist es, was der Apostel Paulus betonen will. Wir Christen dürfen unseren Weg in die Freiheit gehen, weil uns unser Herr Jesus Christus aus Sünde und Knechtschaft erlöst hat. Unsere jüdischen Geschwister folgen dem Weg in die Freiheit, weil Gott sie einst aus der Verstrickung in das Sklavenhaus der Pharaonen geführt hat. Am Anfang und am Ziel beider Wege steht der barmherzige Gott. Er ist der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs und der Vater Jesu Christi. Von ihm kommen wir her. Auf ihn gehen wir hin, Juden und Christen. In ihm gehören wir zusammen.

 

Amen.



Pfarrer Ulrich Pohl
Neuss
E-Mail: Ulrich.Pohl@ekir.de

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