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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

10. Sonntag nach Trinitatis, 20.08.2017

Predigt zu Römer 9:1–5.31–10,4, verfasst von Dietz Lange

Liebe Gemeinde! Paulus war kein Langweiler, sondern ein leidenschaftlicher Mensch. Nicht nur unsere niedersächsische Unterkühltheit war ihm fremd, sondern auch die Art, wie viele Menschen in Deutschland heute mit der Religion umgehen. Den einen ist sie völlig egal, und sie treten nur aus Bequemlichkeit nicht aus der Kirche aus. Die anderen machen aus Gott einen willfährigen Diener zur Erfüllung ihrer Wünsche und werden richtig zornig, wenn er nicht spurt. Für Paulus als Juden war Gott ein verzehrendes Feuer, das uns widerspenstige Menschen befällt und doch einer, der aus lauter Güte sein Volk als sein eigenes erwählt hat. In mächtiger religiöser Anspannung hatte er die junge Christengemeinde verfolgt, mit jeder Faser seines Wesens davon überzeugt, dass er recht daran tat. Und dann kam die Wende vor Damaskus. Alles erscheint durch Christus in neuem Licht.

Konvertiten wie er haben es nicht leicht. Viele von den damaligen Juden haben ihn als Verräter betrachtet. Das kann man verstehen. Viel spannender ist die Frage, wie Paulus jetzt zu seinen früheren Religionsgenossen stand. Wenn heute ein Katholik evangelisch wird oder umgekehrt, wird er oft seine alte Konfession besonders scharf ablehnen und heftig auf sie schimpfen. Manchmal so sehr, dass sogar die Leute in der neuen Gemeinde ihn bremsen müssen. Von so etwas finden wir bei Paulus keine Spur. Er ist einfach nur tieftraurig über all die Juden, die nicht den gleichen Weg gegangen sind wie er. Er bricht nicht alle Brücken ab. Vieles von seinen alten Überzeugungen ist geblieben. Gott fordert die Menschen mit großem Ernst, aber er vergibt ihnen auch, wenn sie seine Gebote halten. So hat er es gelernt. Doch Jesus Christus hat das für ihn in ein ganz neues Licht gestellt. Gott fordert jetzt sogar, die eigenen Feinde zu lieben. Das grenzt ans Unmögliche. Zugleich aber ist er dem Menschen gnädig, längst bevor der auch nur eine einzige gute Tat vorzuweisen hat. Er vergibt dem ihm feindlich gesonnenen Menschen und wirkt in ihm die Kraft, Hass mit Liebe zu vergelten. Von diesem Glauben ist Paulus durchdrungen. Deshalb ist seine Trauer über den Unglauben seiner früheren Gesinnungsgenossen so frei von Ärger. Es ist vielmehr zugleich die Trauer darüber, dass er sie nicht hat überzeugen können. Das geht so weit, dass er sogar verflucht und fern von Christus sein möchte, wenn es denn etwas helfen würde, seine alten Freunde auf den neuen Weg zu bringen. Es ist ihm unmöglich, sie einfach abzuschreiben. Zwischenfrage: Wie halten wir es mit Menschen, an denen uns liegt und die unseren Glauben nicht teilen?

Dem Paulus jedenfalls lässt die Frage keine Ruhe, warum sich die Angehörigen seines Volkes so hartnäckig weigern, auf das neue Evangelium zu hören. Muss man sich einfach damit abfinden? Hat Gott das einfach so beschlossen: Ich erbarme mich, wessen ich will, und ich verstocke, wen ich will? Ist er etwa ein Willkürherrscher? Solche Fragen stellt Paulus sich in dem Zwischenstück, das zwischen den beiden Teilen unseres Predigttextes ausgelassen ist. Warum lässt Gott das zu, dass sich die Menschheit so auseinanderentwickelt? Warum tut er nichts dagegen, dass Menschen in seinem Namen sich gegenseitig bekämpfen? Er hätte doch die Macht, sie zur Umkehr zu bewegen, so wie er das bei ihm, Paulus, getan hat. Paulus beantwortet solche Fragen auf sehr jüdische, geistvolle Weise mit einer Gegenfrage: Wer bist du, Mensch, dass du mit Gott rechten willst? Mancher von uns mag sich mit so einer Reaktion nicht beruhigen. Mein alter Vikariatsleiter, dem ich sehr viel verdanke, hat vor Jahren erleben müssen, dass einer seiner Enkel zum Islam konvertierte. Alle Gespräche haben nichts genützt. Wie konnte das passieren? Auch er hat keine andere Antwort gefunden.

Paulus ist mit seinen Fragen noch nicht fertig. Wenn man nicht Gott die Schuld geben kann, dann liegt es ja nahe zu denken, dass die Juden einfach nur halsstarrig sind, wenn sie nicht an Jesus glauben wollen. So kann man das verstehen, wenn er sagt: Sie kennen die Gerechtigkeit nicht, die vor Gott gilt, sie wollen aus sich selbst vor Gott gerecht sein. Sie sind selbst schuld! So hat auch unsere Kirche das lange gesehen. Dieses „selbst schuld“ hat dazu beigetragen, den Hass von Christen auf die Juden durch die Jahrhunderte hindurch zu befeuern. Es ist schlicht zynisch. Zu der liebevollen Sorge des Paulus um sein Volk passt das wie die Faust aufs Auge.

Nun will Paulus die Juden nicht von der Verantwortung freisprechen. Er verweist in der Fortsetzung seines Briefes auf den vielfachen Ungehorsam des Volkes Israel, wie er im Alten Testament beschrieben ist. Aber in dem Stück, mit dem wir uns heute beschäftigen, lesen wir auch, dass sie einen ehrlichen, echten Eifer für den Willen Gottes an den Tag legen. Das ist die „eigene Gerechtigkeit“, die sie suchen! Paulus stellt sie also überhaupt nicht als die ekelhaften selbstgerechten Angeber vor, die wir Christen so gerne in „den“ Pharisäern verkörpert sehen. Die Juden haben sich in ihrer Geschichte überdurchschnittlich oft für eine menschlichere Gestaltung menschlicher Gemeinschaft eingesetzt und tun das bis heute. Es gibt für uns Christen überhaupt keinen Grund, uns den Juden überlegen zu fühlen. Und wie viel Selbstgerechtigkeit gibt es unter uns Christen! Wir brauchen da gar nicht mit dem Finger auf irgendwelche fanatischen Randgruppen zu zeigen, sondern sollten uns an die eigene Nase fassen.

Aber wir müssen noch weiter bohren. Die Frage bleibt ja beunruhigend: Wie ist das denn nun, wenn Gott doch durch Christus allen Menschen helfen will, warum lassen sich so viele davon nicht ansprechen, Juden ebenso wie Angehörige anderer Religionen und Religionslose? Vor nicht einmal 100 Jahren haben begeisterte Christen von einer „Evangelisation der ganzen Welt noch in diesem Jahrhundert“ geträumt. Das ist einer der großen Antriebe der ökumenischen Bewegung geworden. Davon scheint heute so gut wie nichts mehr übrig zu sein. Muss uns das nicht trübsinnig machen, ja mehr noch: Weckt das nicht Zweifel, ob wir überhaupt im richtigen Boot sitzen?

Paulus antwortet zweierlei. Die Juden, zumindest sehr viele von ihnen, haben sich ehrlich bemüht, Gottes Gebot zu befolgen und sind trotzdem nicht ans Ziel gelangt. Ja, es ist gerade ihr felsenfester Glaube an den uns gemeinsamen Gott, der sie keinen Zentimeter von ihrem Weg abweichen lässt. Ein älterer evangelischer Ausleger hat das zu Recht als tragisch bezeichnet. Das können wir auch auf uns beziehen. Mancher von uns weiß aus eigener Erfahrung, wie das ist, wenn ein Lebensplan, mit Überzeugung und Herzblut zum Nutzen anderer Menschen gefasst, trotz aller Mühe nicht zustande kommt. So etwas fällt dann zwar in die eigene Verantwortung. Niemand kann sich da herausreden, und doch ist offenbar noch anderes im Spiel, das mächtiger ist als wir. Vielleicht sogar Gott selbst, warum auch immer.

Die zweite Antwort gibt Paulus ein ganzes Stück später in seinem Brief. Da sagt er, der Ungehorsam der Juden gegenüber Christus habe dazu gedient, dass auch den Heiden das Evangelium gepredigt wird. Er sagt das auf eigene Kappe. Nicht dass er nun doch Gott in die Karten sehen wollte. Aber es ist vom Glauben her eine sehr einleuchtende Erklärung. Wie wäre es denn gewesen, wenn die Juden in Scharen Jesus zugelaufen wären, auch alle Hohenpriester und Pharisäer, und die Römer nicht eingegriffen hätten? Wir wissen es nicht, aber vielleicht wäre nur eine Reform des Judentums herausgekommen, die auf Palästina beschränkt geblieben wäre.

Wie immer: Jedenfalls wird Gott sein Volk nicht verlassen, davon ist Paulus überzeugt. Am Ende werden auch die Juden erlöst werden. Er meint ausdrücklich: erlöst durch Christus. Wie er sich das vorstellt, lässt er offen. Vielleicht dadurch, dass Christen Juden im Gespräch überzeugen. Das wird heute oft verpönt. Aber wenn das mit der gebührenden Achtung geschieht, Achtung auch vor einer negativen Entscheidung, dann ist nichts dagegen einzuwenden.

Gott verlässt sein Volk nicht. Das gilt auch uns in unserer ganz anderen Lage. Viele von uns sind bekümmert, wenn uns nahestehende Menschen, vielleicht sogar die eigenen Kinder, vom christlichen Glauben nichts wissen wollen und aus der Kirche austreten. Wir fragen uns dann, was wir da falsch gemacht haben. Mit Recht. Aber vielleicht waren auch ganz andere Gründe entscheidend. Auf jeden Fall dürfen wir hoffen, dass Gott solche uns nahestehenden Menschen nicht fallen lässt, auch wenn uns einstweilen verborgen ist, wie das geschehen könnte.

 

                                                                                                          Amen.

 



Prof. Dr. Dietz Lange
Göttingen
E-Mail: dietzclange@online.de

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