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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

10. Sonntag nach Trinitatis, 20.08.2017

Wüstenwege
Predigt zu Exodus (2. Buch Mose) 19:1-6, verfasst von Manfred Wussow

Im dritten Monat nach dem Auszug der Israeliten aus Ägyptenland, an diesem Tag kamen sie in die Wüste Sinai.

Sie brachen auf von Refidim und kamen in die Wüste Sinai, und Israel lagerte sich dort in der Wüste gegenüber dem Berge.

 

Und Mose stieg hinauf zu Gott. Und der HERR rief ihm vom Berge zu und sprach:

So sollst du sagen zu dem Hause Jakob und den Israeliten verkündigen:

Ihr habt gesehen, was ich an den Ägyptern getan habe und wie ich euch getragen habe auf Adlerflügeln und euch zu mir gebracht.

Werdet ihr nun meiner Stimme gehorchen und meinen Bund halten, so sollt ihr mein Eigentum sein vor allen Völkern; denn die ganze Erde ist mein.

Und ihr sollt mir ein Königreich von Priestern und ein heiliges Volk sein.

Das sind die Worte, die du den Israeliten sagen soll

 

Sie suchen noch ein schönes Ziel für den nächsten Urlaub? Refidim - vielleicht? Schauen Sie einfach mal im Internet, ob das was sein kann. Aber Sie müssen die Wüste lieben! Und so manche Sicherheit zurücklassen können. Was für eine Weite! Allerdings werden Sie es dem Volk Israel nicht nachmachen können. Eine Erfahrung fehlt: die Erfahrung einer langen Gefangenschaft, einer großen Fremde, einer bitteren Sehnsucht. Israel wird von Gott in die Freiheit geführt. Aus Ägypten, dem Sklavenhaus. Und Ägypten muss Israel ziehen lassen. Wir sehen Mose mutig voranschreiten. Das Abenteuer, auf das er sich eingelassen hat, wird in unendlichen Geschichten erzählt. Das Volk Israel ist halsstarrig, uneinsichtig und fordernd. Aber auch zweifelnd, kleingläubig und ängstlich. Kein Zuckerschlecken. Auf einem langen Weg. Durch die Wüste. Sollten Sie mal nach Refidim kommen - oder was davon noch übriggeblieben ist -, dann tauchen Sie ein in eine Geschichte, die so beginnt: "Im dritten Monat nach dem Auszug der Israeliten aus Ägyptenland, an diesem Tag kamen sie in die Wüste Sinai." Kommen Sie aber nie in diese Gegend, dann erzählen Sie sich eine Wüstengeschichte. Aus Ihrem Leben. Ich kenne Menschen, die länger als drei Monate trockene, harte Zeit hinter sich haben. Und die immer noch nicht angekommen sind. Der Sinai, müsst Ihr wissen, ist auch Traumort, Sehnsuchtsort und Ort der Begegnung mit Gott. Er, der eigentlich überall und nirgends zu Hause ist, trifft hier auf dem Berg - Gott und die Welt. Doch es ist eine Begegnung in der Wüste. In das gelobte Land zeigtnicht einmal ein Wegweiser. Nirgendwo ein Schild, eine Markierung, ein Pfeil. In welche Richtung jetzt?

 

Auf Adlerflügeln

Wenn wir Refidim links liegen lassen, begegnen wit tatsächlich Gott. Wir hören seine Stimme. In den Worten eines Menschen, der sich ihm nahen durfte. Mose wird Knecht Gottes genannt. Er verkündet, stellvertretend, was uns Gott sagt. Was unser ganzes Leben ausmacht. Was unser Leben reich macht. Gott erzählt, dass er uns getragen hat. Auf Adlerflügeln! Es ist eine alte Geschichte. Kein Mensch weiß, woher sie kommt. Adler sollen ihre Jungen auf ihren Flügeln tragen, um ihnen das Fliegen beizubringen. Von oben stürzt kein Feind auf sie, von unten trifft sie kein Pfeil. Die Jungen sind geschützt und abgeschirmt, bewahrt eben. Ein tolles Bild. Gleichzeitig werden die Jungen in die Freiheit entlassen, sie werden flügge und selbständig. Adlerflügel messen die Lüfte aus, beherrschen den Horizont, verwandeln sich in Schatten. Hat ein Mensch das schon gesehen? Dass ein Adler auf seinen Flügeln die Jungen trägt? Und wenn es nur ein Traum ist - schöner kann Gott nicht ausdrücken, wie er uns Menschen trägt und doch die Freiheit schenkt. Es ist ein herrschaftliche Bild, glanzvoll und großartig. Mäuse könnten eine solche Geschichte nie erzählen. Vor jedem Loch müssten sie die Katze fürchten. Adler hausen nicht in Löchern.

 

Eigentlich ist es eine Liebeserklärung Gottes. Ich trage euch. Auf Adlerflügeln. Sagt Gott. Ich habe euch immer getragen. Mit euren bitteren Erfahrungen, euren grossen Träumen, eurem Scheitern. Ich war von Anfang an bei euch. Ihr habt es nicht einmal gemerkt. Adler durchmessen sozusagen den Himmel, haben alles im Blick und sehen, was in den Tiefen geschieht. Jede Bewegung ist in ihren Augen. Wenn Gott das sagt, ist es eine Liebeserklärung. Für Menschen, die Wegstrecken nicht überschauen und sich in den Weiten verlieren

 

Der Weg in die Freiheit.

Das Volk Israel ist auf auf dem Weg in die Freiheit, in das gelobte Land. Dass Gott sein Volk trägt, einem Adler gleich, wird zum Urbekenntnis dieser Menschen. Doch die Erfahrung, flügge zu werden, ist auch bedrohlich. Die kindliche Sicherheit trägt nicht mehr. Es wird ein beschwerlicher Weg. Erst in der Wüste, dann in einem geordneten Gemeinwesen. Erst von der Hand in den Mund, dann mit vollem Bauch. Für ihre Zukunft, für ein erfülltes Leben, trägt ihnen Gott auf, seiner Stimme zu folgen und seinen Bund zu bewahren. Die neu geschenkte Freiheit muss bewahrt und mit Leben gefüllt werden. Gott gibt dafür sein Wort, seine Gebote. Sie geben Richtung und Halt, sie verleihen Glanz und Würde, sie nehmen Angst und Unsicherheit. Mit Gottes Gebot bleiben wir auf Adlerflügeln getragen. Das Bild von dem Adler verspricht Schutz und Freiheit, aber auch Zugehörigkeit und Vertrautheit. Eine Beziehung für die Ewigkeit wird in den Geboten Gottes geschenkt. Israel ist Gottes Volk - Gott der Gott Israels. Partner, die einander treu verbunden sind. Eine Adlererfahrung. Auf Gottes Fittichen entdecken Menschen den Platz in der Welt und füllen ihn aus. Mit seinem Wort, mit seiner Liebeserklärung

Israel wird sagen: Wir sind Gottes Volk! Es ist ein stolzer, sogar ein gewagter Satz. Gott wird gewissermassen reklamiert und vereinnahmt . Im schlimmsten Fall wiegen sich Menschen in falscher Sicherheit. Aber es ist auch ein Bekenntnis. Ein Grundvertrauen. Wir sind Gottes Volk.

 

Gottes Volk

Es ist so einfach, sich auf Gott zu berufen - und sich hinter ihm zu verstecken. So einfach, genau zu wissen, was er will. Was er von den anderen will. Von den anderen! Gleichwohl hat der Satz, wir sind das Volk, für Furore gesorgt. Skandiert, ein Refrain, ein Schlachtruf. Wir sind das Volk. Sie erinnern sich? 1989. Dieser Satz hat Geschichte gemacht: Wir sind das Volk. In diesem Satz drückt sich Trotz aus. Wir sind das Volk - ihr nicht. Eine Abgrenzung wird sichtbar. WIR - IHR.Die Mächtigen, die da oben, bekommen den Stuhl vor die Türe gestellt. Ein Befreiungsschlag. Ohne Gewalt. Nur ein Satz: Wir sind das Volk. Es ist ein Bekenntnis. Wir hören das neue Selbstbewusstsein und spüren gewachsenes Vertrauen. Eine neue Ära beginnt. In vielen Kirchen haben Menschen Mut gefunden. Alte Texte leuchteten ganz neu. Bilder aus einer anderen Welt zeichneten auf einmal die Konturen einer neuen Zeit. Dann gingen die Menschen auf die Straße. Wir sind das Volk. Ein gefährlicher Satz. Es hätte böse ausgehen können.

Heute müssen wir den Satz "Wir sind das Volk" allerdings noch einmal anders lesen. Ihn noch einmal umwenden. Heute ist der 10. Sonntag nach Trinitatis. Er wird auch "Israelsonntag" genannt. Als er eingeführt wurde und zur Ehre kam, im Kirchenjahr eine Rolle zu spielen, wurde Israel als ein abtrünniges und verlorenes Volk beklagt. Israel, das waren die Juden. Gottesmörder. Älteste Vorurteile bekamen ein Forum. Im evangelischen Gottesdienst. Was war geschehen? Israel wurde - von Christen - enterbt. Sie nannten sich jetzt "Volk Gottes". Wir sind das Volk Gottes! Wir! Nicht die. Eine unheilvolle Entwicklung, die ihre ersten Spuren schon im Neuen Testament zurück gelassen hat.

Hat Gott sein Wort zurückgenommen? Konnten wir Christen es ihm aus den Mund nehmen? Nach einer schrecklichen Geschichte, die mit dem Namen Antisemitismus nicht einmal zureichend beschrieben werden kann, feiern wir heute den 10. Sonntag nach Trinitas als einen Tag, an dem wir uns darüber freuen, dass Gott sein Wort hält und seinem Volk die Treue hält. Es muss ein Israel-Sonntag sein! Uns zu Liebe. Denn nähme Gott sein Wort zurück, könnten wir ihm nicht mehr trauen. Wenn wir in unseren Liedern singen, dass wir das Volk Gottes sind, von ihm ausersehen, singen wir von seiner Treue, die er uns in Jesus schenkt. Wir sind hinzugekommen. Adoptiert? Israel steht am Anfang! Wir lesen seine Geschichten. In der aktuellen Situation im Nahen Osten dürfen wir Gottes Adlerflügel zum Maßstab nehmen - für uns, für Israel. Dass die ganze Erde Gott gehört, macht seine Erwählung nicht zunichte. Nur größenwahnsinnig darf kein Mensch, kein Volk, kein Land dabei werden. An Gottes Verheißung und Gebot gebunden, wird Israel zu einem Zeichen für alle Menschen. Manchmal unterhalte ich mich mit jüdischen Menschen darüber. Im Gespräch sind wir uns nah. Die Zerrissenheit, die Gewalt, die Ausweglosigkeit beklagen wir gemeinsam. Wir sprechen über unheilvolle Verstrickungen, über Schuldgeschichten und über Hoffnungen. Mir kommt dann das Bild in den Sinn: Ich habe euch auf Adlerflügeln getragen. Aber wir sind seinem Wort untreu geworden. Wir haben seinen Bund gebrochen. Wir teilen diese Erfahrungen. Ungeschützt. Doch mit dem Vertrauen, dass Gott treu bleibt. Er schenkt uns sein Gebot. Damit wir leben können.

  

Kein Weg zurück

Ich möchte nicht nach Refidim zurück. Alles noch einmal. Das Sklavenhaus. Die Unterdrückung. Die Fremde. Ich freue mich, dass Israel nach drei Monaten schon so weit gekommen ist - und noch viel weiter kommen wird. Inzwischen bin ich Familienmitglied geworden. Ich gehe den Weg mit. Auch die Wüste bleibt mir nicht erspart. Aber ich höre, erstaunt und überrascht: Ich habe dich auf Adlerflügeln getragen. An seinem Wort will ich mich messen - und messen lassen. Amen

 

Und der Friede Gottes,

der höher ist als unsere Vernunft,

bewahre unsere Herzen und Sinne

in Christus Jesus,

unserem Herrn.

 

 

 

 

 

 

 

 



Pastor Manfred Wussow
Aachen
E-Mail: M.Wussow@gmx.de

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