Göttinger Predigten

Choose your language:
deutsch English español
português dansk

Startseite

Aktuelle Predigten

Archiv

Besondere Gelegenheiten

Suche

Links

Konzeption

Unsere Autoren weltweit

Kontakt
ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

11. Sonntag nach Trinitatis, 27.08.2017

Predigt zu Matthäus 21:28-32a, verfasst von Rainer Stahl

„Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus,

die Liebe Gottes

und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes

sei mit Euch allen!“

 

Liebe Schwestern und Brüder!

 

Unser Bibelwort für den heutigen Sonntag können wir von hinten nach vorn lesen. Gerade seine letzte Bemerkung bedeutet eine große Herausforderung für uns. Sie antwortet auf die Frage, wer eigentlich wirklich glaubt. Dazu benennt Christus eine entscheidende Erfahrung: Schon dem Johannes dem Täufer gegenüber waren es „die Zöllner und die Prostituierten – die Gierigen, die Geilen, die Triebgesteuerten –, die ihm glaubten“ (Vers 32aβ).

 

Also Menschen, die mit ganzem Einsatz auf die Karte des irdischen, des vergänglichen Lebens gesetzt haben – und begreifen, dass sie dabei sich selbst verlieren:

 

Bankerinnen und Banker, die als Zockerinnen und Zocker viel Geld eingesetzt und gewonnen – aber auch verloren haben. Wobei zu beachten ist, dass viele Bankerinnen und Banker ihren Beruf mit hoher Verantwortung ausüben. Wie es vor einigen Wochen in einer Todesanzeige in der „Frankfurter Allgemeinen“ dokumentiert war: „Mit seiner besonders kundenorientierten Einstellung sowie seinem starken Engagement, seiner hohen Verlässlichkeit und großen Loyalität war er ein Vorbild für Viele. Dabei hatte er stets die Stabilität und das Ansehen unserer Bank im Blick. Das Vorbild des ehrbaren Kaufmanns brauchte er nicht. Er war es – kein Banker, sondern ein Bankier mit Format.“ Diese Wirklichkeit sei deutlich anerkannt!

 

Dann aber alle, die dem Werbespruch „Geiz ist geil!“ gefolgt sind – und am Ende kaum etwas in Händen halten.

Diejenigen, die Partner oder Partnerinnen wie das Hemd gewechselt haben, höchstens zu „Lebensabschnittsgefährtinnen“ und „-gefährten“ fähig waren – und letztlich in der Einsamkeit landen.

 

Sie werden es sein – wenn sie denn tiefer fragen, wenn sie denn über Ablenkung, über Alkohol, über Nikotin oder über Drogen gar hinausfinden –, über die Christus dasselbe sagt, was er mit Blick auf Johannes den Täufer festgehalten hatte:

 

„Voller Überzeugung, voller Gewissheit sage ich jeder und jedem von euch: Die Gierigen, die Geilen, die Triebgesteuerten werden an den Punkt kommen, dass sie nach Gott fragen – und dann den Weg offen finden in Gottes Welt hinein“ (Vers 31b).

 

Es geht im Gleichnis von den beiden Brüdern nicht wirklich um korrektes Verhalten Erziehungsberechtigten gegenüber, es geht nicht um die Erfüllung von Erwartungen anderer an uns – es geht darum, dass wir den Sinn und das Ziel unseres Lebens erreichen und nicht verfehlen. Eines der hebräischen Wörter, die wir mit dem Wort „Sünde“ übersetzen – das Wort חטאה – Chatta’ah – meint die Verfehlung des Ziels, den Irrflug eines Pfeils, der irgendwo landet, nur nicht im gejagten Tier: Wer sündig lebt, verfehlt sein, verfehlt ihr Lebensziel, seinen, ihren Lebenssinn.

 

Solchen Menschen wendet sich Christus zu. Für sie hat er gelebt, ist er gestorben, ist er auferstanden, ist er in der Welt Gottes, ist er Gott. Wie Martin Luther im Choral „Ein feste Burg ist unser Gott“ gedichtet hat: „Fragst du, wer der ist? Er heißt Jesus Christ, der Herr Zebaoth. Und ist kein andrer Gott“ (Vers 2). Denen, für die dieser Gott, für die Gott da ist, gilt die gehörte Zusammenfassung, die Christus in unserem Bibelwort gibt: „Die Gierigen, die Geilen, die Triebgesteuerten werden an den Punkt kommen, dass sie nach Gott fragen – und dann den Weg offen finden in Gottes Welt hinein.“

 

Allerdings bedeutet dies eine wirkliche Lebensänderung. Im Rahmen der Begegnung mit Christus geht es ohne Änderung nicht ab. Wie vor 500 Jahren Martin Luther in seiner ersten These zur Frage des Ablasses festgehalten hatte:

„Dominus et magister noster Iesus Christus dicendo: Penitentiam agite etc. omnem vitam fidelium penitentiam esse voluit“

(vgl. Luther! 95 Schätze – 95 Menschen, hg. von Stiftung Luthergedenkstätten in Sachsen-Anhalt, München 2017, S. 93, und: Martin Luther. Lateinisch-Deutsche Studienausgabe, Bd. 2: Christusglaube und Rechtfertigung, hg. von Johannes Schilling, Leipzig 2006, S. 2).

 

Ich habe das bewusst erst einmal in lateinischer Sprache zitiert. Denn in diesem Jahr hat unsere Bundesbank eine 20-Euro-Silbermünze zum Reformationsjubiläum herausgegeben, und vielleicht hat die ja außer mir noch jemand unter uns erworben. Auf ihr ist das Gesicht Luthers zu zwei Dritteln zu sehen, denn er schaut hinter den ersten Worte der ersten sechs Thesen in lateinischer Sprache hervor! Im Deutschen heißt die erste These: „Als unser Herr und Meister Jesus Christus sagte: ‚Tut Buße‘ [...], wollte er, dass das ganze Leben der Glaubenden Buße sei“

(Martin Luther. Lateinisch-Deutsche Studienausgabe, a.a.O., S. 3).

 

Oder in einer Predigt, die Luther vielleicht schon am Tag des Versands seiner 95 Thesen, dem 31. Oktober 1517, in der Kapelle seines Augustiner-Eremiten-Klosters in Wittenberg gehalten hat, die er dann aber auf alle Fälle im März 1518 hat drucken lassen: „Das sage ich, dass man aus der Heiligen Schrift nicht beweisen kann, dass die göttliche Gerechtigkeit eine andere Strafe oder Genugtuung von dem Sünder begehrt oder fordert als allein seine herzliche und wahre Reue oder Bekehrung mit dem Vorsatz, hinfort das Kreuz Christi zu tragen...“

(WA 1, S. 244, Zeilen 15-19; oder: Martin Luther Taschenausgabe, hg. von Horst Beintker, Helmar Junghans u. Hubert Kirchner, Band 2: Glaube und Kirchenreform, Berlin 1984, S. 36).

 

Luther hat uns also vor 500 Jahren ins Stammbuch geschrieben – genauso wie Christus es vor 2000 Jahren getan hat –: Die Behauptung der Annahme von uns Menschen durch Gott wie wir sind, die wir heute immer wohlfeil hören können, ist bestenfalls nur die halbe Wahrheit. Diese Annahme durch Gott, dieses „Ja“ Gottes, das uns überwältigt und erschüttert, führt zu grundlegender, zu qualitativer Veränderung. Wir kehren von unseren, nach Leben gierenden Entscheidungen um und setzen unser Leben ein. Wie in der Bilderzählung der erste Bruder, der allen Lebenshunger, alle Angst vor Lebensverlust zurückstellt und in den Weinberg des Vaters geht. Und dann über und während der Arbeit im Weinberg seines Vaters seinen Lebenssinn findet!

 

Das ist es, was uns verheißen ist. Nicht mehr – und auch nicht weniger. So ist es das Höchste, das für uns möglich werden wird. Aus Bonhoeffers „Stationen auf dem Wege zur Freiheit“ von 1944 lese ich die Station „Tat“:

„Nicht das Beliebige, sondern das Rechte tun und wagen,

nicht im Möglichen schweben, das Wirkliche tapfer ergreifen,

nicht in der Flucht der Gedanken, allein in der Tat ist die Freiheit.

Tritt aus ängstlichem Zögern heraus in den Sturm des Geschehens

nur von Gottes Gebot und deinem Glauben getragen,

und die Freiheit wird deinen Geist jauchzend umfangen“

(vgl. a.a.O. [Luther!], S. 431 [vom Faksimile her gelesen]).

 

Ich bin nun schon über ein Jahr lang im Ruhestand. Ich denke immer wieder auch darüber nach, ob ich mit dem Gang meines Lebens zufrieden sein kann, ob ich mit meinem Lebensweg, wie er nun eben geworden ist, übereinstimmen kann oder nicht. Da gibt es natürlich viele Dimensionen. Die kann ich und will ich nicht ausbreiten. Aber eine Dimension möchte ich andeuten:

 

Ich war Forschungsstudent und dann Assistent im Fach Altes Testament an der Universität Jena. Ab 1979 habe ich mit meiner Landeskirche darüber beraten, ob und unter welchen Bedingungen ich auch die Ausbildung in der Kirche und das Zweite Examen durchlaufen und ablegen könnte. Wir haben gemeinsam einen konkreten Weg gefunden. Natürlich habe ich diesen Weg auch mit der Universität abgestimmt, an der ich ja arbeitete. 1981 waren dann mein Zweites Examen und meine Ordination. Aber schon über ein Jahr vorher musste ich zur Kenntnis nehmen, dass ich nicht an der Universität werde bleiben können. Ich konnte noch meine Habilitation abschließen, musste aber 1982 in den kirchlichen Dienst wechseln – auf den ich mich ja auch mit Vikariat und Zweitem Examen vorbereitet hatte. Nach dem Ende der DDR und unserem Beitritt in die Bundesrepublik hat mir ein damaliger Kollege einmal gesagt: „Das war eine Entscheidung der SED-Leitung an der Universität gewesen. Weil Sie sich haben ordinieren lassen!“

 

Aber meine Landeskirche hat mich ab Herbst 1982 zum Dienst in den Lutherischen Weltbund nach Genf geschickt – und der sozialistische Staat hat mir dafür das nötige Ausreisevisum erteilt –, von wo ich dann Anfang Februar 1985 in die DDR wieder zurückgekehrt bin...

 

Die Bereitschaft zum Dienst in der Kirche hat mir letztlich einen Weg verschlossen, den ich gern gegangen wäre, aber dann doch einen Weg eröffnet, den ich mir nie hätte träumen lassen können!

 

Seither meine ich, dass uns Gott schon in unserem Leben vorläufige Verwirklichungen unserer Sehnsucht nach Erfüllung und Sinn schenkt. Vorläufige Erfahrungen von Gottes Welt. Vorläufige Ahnungen des „Reiches Gottes“.

 

Das wünsche ich auch Euch.

Amen.

 

„Und der Friede Gottes,

der höher ist als unsere Vernunft,

bewahre Eure Herzen und Sinne bei Christus Jesus, unserem Herrn!“



Pfarrer i. R. Dr. Rainer Stahl
Erlangen
E-Mail: rainer.stahl.1@gmx.de

(zurück zum Seitenanfang)