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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

11. Sonntag nach Trinitatis, 27.08.2017

Jesu Vollmacht und unser Verhalten
Predigt zu Matthäus 21:28-32, verfasst von Thomas Bautz

Liebe Gemeinde!

In der Literatur steht ein Text nicht für sich allein; das gilt auch für die Evangelien. Dieses Mal ist der Kontext für das Verständnis immens wichtig. Bei Matthäus geht es um die Vollmacht Jesu und wie man sich dazu verhält. Der Nazarener vertreibt als messianischer Lehrer Israels die Händler und Geldwechsler aus dem Vorhof des Tempels, weil er den Tempel (Gottes) als Ort des Gebets ansieht, wo er auch Blinde und Gelähmte heilt. Er unterstreicht die Bedeutsamkeit seines Handelns mit einer Anspielung auf die Tempelrede des Propheten Jeremia (Jer 7,1–11 in Auszügen):

„Bessert euren Wandel und euer ganzes Tun, so will ich euch an diesem Orte wohnen lassen! Setzt euer Vertrauen nicht auf Trugworte, daß ihr sagt: ‚Der Tempel des HERRN, der Tempel des HERRN, der Tempel des HERRN ist dies!‘

Denn nur, wenn ihr ernstlich euren Wandel und euer ganzes Tun bessert, wenn ihr wirklich das Recht bei den Streitigkeiten des einen mit dem anderen gelten laßt, wenn ihr Fremdlinge, Waisen und Witwen nicht bedrückt und kein unschuldiges Blut an diesem Orte vergießt und nicht anderen Göttern nachlauft zu eurem eigenen Schaden: nur dann will ich euch an diesem Orte wohnen lassen, in diesem Lande, das ich euren Vätern gegeben habe, von Ewigkeit bis in Ewigkeit.

Aber seht: ihr verlasst euch auf Trugworte, die keinen Wert haben! Nicht wahr? Stehlen, morden und Ehebruch treiben, falsch schwören, dem Baal opfern und anderen Göttern nachlaufen, die euch nichts angehen! Und dann kommt ihr her und tretet vor mein Angesicht in diesem Hause, das nach meinem Namen genannt ist, und sagt: ‚Wir sind wohlgeborgen!‘, um dann alle jene Gräuel weiter zu verüben. Ist denn dieses Haus, das meinen Namen trägt, in euren Augen zu einer Räuberhöhle geworden? Ja wahrlich, auch ich sehe es so an!“ – so lautet der Ausspruch des HERRN.

Die Vertreibung der Händler, aber mehr noch die wundersamen Heilungen im Tempel erregen Anstoß bei  der religiösen Führungselite, den Hohepriestern, und bei den Ältesten, den Jerusalemer Aristokraten, eine von vielen Zweiergruppen, die bei Matthäus als Gegner des Rabbi Jesus auftreten. Die Gegner fragen nach Jesu Vollmacht; sie wollen wissen, wer ihm diese gegeben hat (cf. Luz, EKK I/3, 208f). Jesus antwortet zunächst mit einer Gegenfrage, nämlich nach der Vollmacht des Johannes, welche die Gegner unbeantwortet lassen, während Jesus die Auflösung des Problems vorenthält.

Stattdessen formuliert der Nazarener ein kurzes Gleichnis nach dem Muster jüdischer Gleichnisse, indem er zwei Verhaltensweisen einander gegenüberstellt und kommentiert (Mt 21,28–32):

„Was meint ihr aber (über folgendes)? Ein Mann hatte zwei Söhne. Er ging nun zu dem ersten und sagte: ‚Mein Sohn, gehe hin und arbeite heute im Weinberg.‘ Der antwortete: ‚Ja, Herr‘, ging aber nicht hin. Dann ging er zu dem zweiten und sagte zu ihm das gleiche. Der gab zur Antwort: ‚Ich will nicht!‘ Später aber besann er sich eines Besseren und ging hin.

Wer von den beiden hat nun den Willen des Vaters getan?“ Sie antworteten: ‚Der zweite‘ (Zur Reihenfolge der Söhne, s. die textkritische Problematik nach U. Luz, EKK I/3 (1997), 204–205).

Da sagte Jesus zu ihnen: „Wahrlich ich sage euch: Die Zöllner und die Huren kommen eher als ihr in das Reich Gottes. Denn Johannes hat euch Gerechtigkeit lehren wollen, und ihr habt ihm nicht geglaubt, während die Zöllner und die Huren ihm Glauben geschenkt haben. Ihr dagegen seid wider besseren Wissens auch hinterher nicht in euch gegangen, daß ihr ihm geglaubt hättet.“

In den Evangelien geht es immer wieder um das Verhältnis von äußeren Kennzeichen einer Religion, einer Glaubensgemeinschaft, äußeren Überlieferungen, Merkmalen von Bekenntnissen einerseits und einer Glaubenspraxis, die einzig und allein im kindlichen Vertrauen auf die Existenz einer geistig und sprachlich unbestimmbaren Vollmacht gründet. Für diese Vollmacht bzw. für ihre Quelle haben sich freilich verschiedene Bildworte, Gleichnisse, Parabeln usw. gebildet, weil ohne sie Religiosität nicht kommunizierbar wäre. Wer im Sinne Jesu „Gott“, „dem Vater“, „dem Heiligen Geist“ vertraut, diesem Menschen wird stets bewusst bleiben, dass weder religiöse Begriffe noch sakrale Stätten als solche für die Nachfolge Jesu von entscheidender Bedeutung sind.

Es kommt alles darauf an, dass die durch den Nazarener inspirierte Religiosität oder Frömmigkeit einen gesellschaftlich und sozialpolitisch nachvollziehbaren Ausdruck gewinnt, bis in das Privatleben hinein. Glauben muss das Leben prägen, das Verhalten; Glauben bringt Früchte hervor, von denen andere Menschen, besonders Benachteiligte und Notleidende, profitieren können. Frömmigkeit, die abstrakte Bekenntnisse mit einer kaum noch verstehbaren Begrifflichkeit propagiert, wirkt heute mehr denn je unglaubwürdig. Es kommt eben nicht auf Denominationen (oder Konfessionen) an:

Eine religiöse Denomination ist eine Untergruppe innerhalb einer Religion, deren Angehörige in ihren gemeinsamen Glaubensaussagen und Praktiken geeint sind. Der Name der Denomination steht für die gemeinsame Identität und für die typischen Glaubensaussagen der Gemeinschaft, die damit eine Abgrenzung zu anderen Gemeinschaften und die Besonderheit der eigenen Erkenntnis und Praxis hervorhebt. Solche „Benennungen“ führen religionsgeschichtlich und soziologisch gesehen zum religiös oder pseudoreligiös bestimmten Konkurrenzdenken, auch innerhalb von Konfessionen.

Dass Matthäus auffallend häufig die Gegner Jesu in Gestalt der Hohepriester und der Ältesten, den Jerusalemer Aristokraten, erwähnt, stimmt nachdenklich. Vor allem, wenn man in Betracht zieht, worin ihre Gegnerschaft gegenüber dem Rabbi Jesus besteht. Die Ältesten („Presbyter“) des Volkes werden Lesern im weiteren Verlauf der Erzählungen bei Matthäus als die Jesus feindlichen Führer und Volksverhetzer vor Augen gemalt (cf. Luz, EKK I/3 (1997), 208–209):

„Damals kamen die Hohepriester und die Ältesten des Volkes im Palaste des Hohepriesters namens Kaiphas zusammen und berieten sich in der Absicht, Jesus mit List festzunehmen und zu töten“ (Mt 26,3–4; cf. 21,47). Es „fassten alle Hohepriester und die Ältesten des Volkes einen Beschluss gegen Jesus, um seine Hinrichtung zu erreichen“ (Mt 27,1).

Schließlich hatte man offenbar auch das Volk gegen Jesus von Nazareth aufgewiegelt (Mt 27,25): Da antwortete das gesamte Volk mit dem Ruf: „Sein Blut (komme) über uns und über unsere Kinder!“

Im Grunde ist es schwer zu verstehen, warum sich nun im entscheidenden Moment große Teile des Volkes gegen Jesus stellen, dessen Vollmacht sie – nach Matthäus – doch erkannt hatten, an seinem ersten Tag in Jerusalem, als ihm etliche Scharen nachliefen (Ausschnitt: Mt 21,8–16):

Die überaus zahlreiche Volksmenge aber breitete ihre Mäntel auf den Weg aus, andere hieben Zweige von den Bäumen ab und streuten sie auf den Weg, und die Scharen, die im Zuge vor ihm her gingen und die, welche ihm nachfolgten, riefen laut: „Hosianna dem Sohne Davids! Gesegnet sei, der da kommt im Namen des Herrn! Hosianna in den Himmelshöhen!“ Als er in Jerusalem eingezogen war, geriet die ganze Stadt in Bewegung; als man fragte: „Wer ist dieser?“ Da sagte die Volksmenge: „Dies ist der Prophet Jesus aus Nazareth in Galiläa!“

Das Volk, insbesondere das „Volk des Landes“, die einfachen und bedürftigen Leute, sind von Jesu Vollmacht fasziniert und erschrocken zugleich, denn seinen Worten folgen Taten. Seine Reden sind voller Weisheit und begleitet von Wundertaten. Der Nazarener ermahnt und ermutigt zugleich; er fordert zur Nachfolge heraus, fördert aber auch jeden Menschen, der sich ihm anvertraut. Seine „Lehre“ ist stark lebensbezogen; die Sprache ist lebendig, bildhaft, seine Reden oft gleichnishaft.

Das Volk spürt den Unterschied gegenüber der begrifflich geprägten Sprache der religiösen Führer und die Diskrepanz zwischen theologischer Lehre und Verhalten bei der religiösen Oberschicht:

Als Jesus diese Rede („Bergpredigt“) beendet hatte, waren die Volksscharen über seine Lehre ganz betroffen; denn er lehrte sie wie einer, der Vollmacht hat, ganz anders als ihre Schriftgelehrten (Mt 7,28–29).

Durch das genannte Gleichnis von den beiden Söhnen wird deutlich, dass es (nur) darauf ankommt, „den Willen des Vaters zu tun“, wenn dieser jemanden „in den Weinberg“ ruft, d.h. man solle „zuerst nach dem Reich Gottes trachten und nach seiner Gerechtigkeit“ (Mt 6,33f). Jesus relativiert aber (nach Matthäus) sogleich die Berufung auf den Willen Gottes (Mt 7,21ff):

Nicht alle, die „Herr, Herr“ zu mir sagen, werden (darum schon) ins Himmelreich eingehen, sondern nur, wer den Willen meines himmlischen Vaters tut.

Was den kurzen Kommentar zum Gleichnis von den Söhnen angeht, so muss man wissen, dass schon in der hebräischen Bibel wie auch im rabbinischen Schrifttum gern mit krassen semantischen Bildern, d.h. mit konträren Wortpaaren und Metaphern gearbeitet wird, um Sachverhalt, Bedeutung oder Pointe in einem literarischen Text hervorzuheben.

Es geht also nicht um eine direkte, womöglich moralisierende Gegenüberstellung gesellschaftlicher Gruppen oder Schichten: die religiöse Oberschicht als Gegner oder Verräter Jesu einerseits, und die soziale Randgruppe der Zöllner und Huren als Nachfolger Jesu andererseits. Diese Sichtweise wäre allzu einfach. Allerdings bieten viele Reden und Gleichnisse des Nazareners in den Evangelien genau die Identifikationsmöglichkeiten für Leser, die ihre Selbstwahrnehmung kritisch ansprechen können. Für stellen solche Texte auch eine Befreiung aus starrer Begrifflichkeit dar. Dazu präsentiere ich die Anschauungen zweier völlig unterschiedlicher Persönlichkeiten:

Schon Platon begreift das Religiöse nicht mit begrifflichem Denken; er verzichtet auf den Versuch, den religiösen Gegenstand mit der ratio in ein System des Erkennens zu bringen. Dadurch kommt das ganz Irrationale des Gegenstandes gerade so bei ihm höchst lebhaft zu Gefühl. Und nicht nur zu Gefühl, sondern auch zum Ausdruck. Daß Gott über aller Vernunft sei, hat keiner bestimmter ausgesprochen, als dieser Meister des Denkens:

„Schwer ist es, den Schöpfer … zu finden, und unmöglich ist, daß, wer ihn fand, ihn allen kündete“ – „Ich habe nicht darüber geschrieben und werde niemals darüber schreiben. Denn es lässt sich nicht wie die Objekte wissenschaftlicher Untersuchung behandeln. Der Wissenschaft ist es unaussprechlich. Nach langer Arbeit, wenn man sich hinein gelebt hat, geht plötzlich in der Seele wie wenn ein Funke herein schlüge ein Feuer auf. Das nährt sich dann selbst. Verständlich würde ein Versuch schriftlicher Mitteilung nur ganz wenigen sein. Denen aber hilft ein leiser Wink dazu es selbst zu finden.“

Ähnlich schreibt Vincent van Gogh:

„Dieser Gott der Pfaffen – für mich ist er mausetot. Aber bin ich darum Atheist? (…) aber es gibt ein gewisses Etwas, das ich nicht definieren kann und das mir, obwohl es außerordentlich lebendig und wirklich ist, als eine Art Gesetzmäßigkeit erscheint (…).“ „(...) man muß das Feuer in seiner Seele nie auslöschen lassen, sondern es anfachen.“

Amen.

Bemerkungen: Literatur

Ulrich Luz: Das Evangelium nach Matthäus (Mt 18–25), EKK I/3 (1997). Craig S. Keener: A Commentary on the Gospel of Matthew (1999). Predigtmeditationen im christlich-jüdischen Kontext. Zur Perikopenreihe III (2004), 261–265: 264f. Rudolf Otto: Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen (1979/ 1987), 117. Vincent van Gogh. Feuer der Seele. Gedanken zum Leben, zur Liebe und zur Kunst. Ausgewählt aus seinen Briefen von Ursula Michels-Wenz (1990), 43 u. 25.



Pfarrer Thomas Bautz
Bonn
E-Mail: thomas.bautz@ekir.de

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