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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

15. Sonntag nach Trinitatis, 24.09.2017

Fruchtbare Verunsicherung – hilfreiche Sicherheit
Predigt zu Lukas 18:28-30, verfasst von Kira Busch-Wagner

Liebe Gemeinde,

„Sicherheit“ spielt hier und dort im Wahlkampf eine Rolle. Innere Sicherheit des Staates, äußere. Vor allem aber der Wunsch nach Sicherheit in der Bevölkerung. Auf verschiedenen Ebenen. Wie sicher ist der Schulweg? Wie sicher ist der Arbeitsplatz? Aber auch auf die eigene Biographie gesehen: Wie sicher ist meine Rente? Wie sicher ist mein Arbeitsplatz? Wie sicher, wie beständig ist meine Lebensform: eine Ehe, eine Familie?

Überall gibt es Spielregeln, Prognosen, Statistiken. Und obwohl wir längst nicht so umfassend, so schnell getroffen werden können von Krankheiten oder Naturkatastrophen wie die Menschen vor 500 oder 100 Jahren, hat man manchmal das Gefühl, die Leute erleben sich verunsicherter als je zuvor.

Doch wie kann man eine gute Balance bekommen: Vertrauen aufbauen trotz Unsicherheiten. Leichtsinn ablegen und trotzdem etwas wagen?

Das Gefühl der Verunsicherung mag auch damit zusammenhängen, dass in immer größerem Maße akzeptiert ist, dass Menschen für sich persönlich unvorhersehbare Entscheidungen treffen können, auch wenn andere davon betroffen sind. Und plötzlich hängt mein Leben ab von den spontanen, gar radikalen, Entscheidungen anderer. Mein Partner verliebt sich. Meine Kinder gehen ins Ausland. Meine Geschwister wechseln die Religion. Mein Mitarbeiter entscheidet sich für einen neuen Beruf. Ist das gut? Ist das schlecht? Und was geschieht mit meiner Daseinsvorsorge?

Wieviel Rücksicht hat man zu nehmen bei Entschlüssen?. Muss man Rücksicht nehmen auf Abhängige, auf Schutzbefohlene? Und wann gilt eine Enscheidung als hoch ehrenwerte Gewissensentscheidung?

 

Luther war ein Mönch, aufgehoben in einer Gemeinschaft, aber ohne unmittelbare Verantwortung für einzelne Menschen, als er nach seinem Auftritt in Worms in Acht und Bann geriet, in tägliche Lebensgefahr. Jeder konnte ihn töten. Wäre ihm solches passiert: der Orden wäre dadurch nicht zugrunde gegangen. Wäre er Familienvater gewesen, hätte das anderes ausgesehen.

Als Luther staatsmännischer wurde, mit Fürsten im Kontakt stand, hat er seine Lehre von den zwei Reichen entwickelt. Man kann daraus schließen: Was für mich persönlich gilt, etwa ein radikaler Pazifismus, kann in dem Moment, wo ich für andere zu sorgen habe, falsch werden. Ich muss möglicherweise als Leitungsperson eine andere Entscheidung fällen als für mich im Privaten. Es gelten andere Regeln. Weil ich andere nicht einfach mitnehmen kann, nicht mitbetroffen lassen sein kann von meiner Entscheidung.

Vor dem Hintergrund der Lehre von den zwei Reichen haben die Reformatoren festgehalten, in der Kirche gelte das Recht „sine vi, sed verbo“, ohne Gewalt, allein durch das Wort. Das scheint plausibel. Doch wir erfahren Gewalt heute nicht erst dann gegeben, wenn wir mit dem Schwert eins übergebraten bekommen. Wer wegen Sparmaßnahmen entlassen wird, wer Sanktionen angedroht bekommt, hat keine körperlichen Schmerzen, erlebt aber durchaus eine Gestalt von Gewalt und Macht.

 

Mit dem Predigtabschnitt für den Sonntag heute legt das Evangelium nach Lukas, den Versen 28-30 aus dem 18. Kapitel einen weiteren Beitrag hinzu.

Voraus geht die Geschichte vom reichen jungen Mann, dem Jesus auf seine wiederholten Nachfragen, was er denn zusätzlich tun könne, schließlich geantwortet hat: Verkaufe alles, was du hast. Folge mir nach. Werde mein Schüler. Komm mit mir mit. Doch das war dann doch zu viel. Der Mann geht davon. „Ein Reicher kommt nur schwer ins Himmelreich, stellt Jesus fest. Aber er sagt auch: „Was bei den Menschen unmöglich ist, ist bei Gott möglich.“ Ich lese: Gott hat den radikalen Sprung zu mir längst geschafft. Auch wenn ich den radikalen Sprung auf ihn hin nicht tun kann. Gott kann für mich sich radikal entscheiden.

Die Jünger, die Schulgruppe Jesu, macht sich dazu ihre eigenen Gedanken. Es heißt dann nämlich mit dem den Versen für heute:

 

Petrus sprach: Siehe, wir haben alles, was wir hatten, verlassen und sind dir nachgefolgt. Jesus aber sprach zu ihnen: Wahrlich, ich sage euch: Es ist niemand, der Haus oder Frau oder Brüder oder Eltern oder Kinder verlässt um des Reiches Gottes will, der es nicht vielfach wieder empfange in dieser Zeit und in der kommenden Welt das ewige Leben.

 

Staunt Petrus selbst ein wenig über das, was er und die anderen gemacht haben: herausgetreten aus der Rolle, die er spielte. Ganz anderes begonnen? Eine Welt kennengelernt, die vorher undenkbar war.

Ich überlege: Meint er es triumphalistisch? Wir haben‘s gemacht. Der junge Mann nicht. Hähä.

Ist er verunsichert: Wir haben alles verlassen – und wie geht es dann weiter?

Wie auch immer: Jesus bestätigt ihn und die anderen in ihrer Entscheidung. Ich höre aus seinen Worten: Es war nicht sinnlos, dass ihr einfach lernt und zuhört und mit mir durchs Land wandert. Ihr habt euch richtig entschieden. Dass ihr euch jetzt auf mich eingelassen habt, alles verlassen, alles hergegeben, alles riskiert – es war nicht umsonst. Das ist jetzt dran. In einer kommenden Welt schenkt euch Gott das ewige Leben.

Mit solchem Trost Jesu sind immer wieder Menschen aufgebrochen, um für die Entscheidung ihres Gewissens alles herzugeben. Existenz. Freiheit. Sicherheit. Das Leben. Paul Gerhardt, der Dichter von Liedern wie „Geh aus mein Herz“ verlor seine Arbeit, weil er nicht mit seinem Landesherrn die Konfession wechseln wollte, nicht reformiert werden wollte. Der polnische Arzt Janusz Korczak, der mit seinen Waisenkindern ins Vernichtungslager mitging. Dietrich Bonhoeffer, der Karriere drangab, Familie, Bürgerlichkeit, um in den Untergrund zu gehen. Die Philosophin Edith Stein, der man in den 30er Jahren die Habilitation verweigerte, weil sie eine Frau war; die ihre Familie mit ihrer Taufe brüskierte und sich gleichzeitig als Tochter Israels verstand, als sie mit ihrer Schwester zusammen ermordet wurde.

Es gab und es gibt solche Menschen.

Und zugleich nimmt sich der biblische Abschnitt für uns heute doch sehr exotisch aus. Tatsächlich. Die Schule hat begonnen, und was man lernt, soll man fürs Leben lernen, langfristig, nachhaltig. Manchmal mit Frust und viel Frusttoleranz. Um künftige Ziele, eine Lehrstelle, einen Beruf, die Versorgung der eigenen Person, gar einer Familie irgendwann einmal besser hin zu bekommen. Wir leben in festen Häusern, manche sind erst in Jahrzehnten abbezahlt. Wir schließen Versicherungen ab und hoffen, dass sie sich in Zukunft auszahlen. Wir lesen Nachrichten und hoffen auf Stabilitiät. Soll das alles falsch sein?

 

Während meines Studiums lernte ich eine Kommilitonin kennen. Von den Eltern und auch von den Großeltern hatte sie manches bekommen: ein schönes Teeservice aus deren eigenen Beständen. Einen guten Mantel für den Winter. Ein stabiles Fahrrad. Das ein oder andere schöne Möbelstück für ihr Zimmer. Irgendwann beschloss sie, alles herzugeben. Ihr war der Glaube wichtig. Eltern und Großeltern waren irritiert, verletzt. So hatten sie sich das nicht vorgestellt.

Für irgendwelche Bewohner im Studentenwohnheim hatten sie die Geschenke nicht gemacht. Meine Kommilitonin sah genau in ihrer Loslösung von all den Dingen den Weg, Jesus nachzufolgen. Wer hatte recht? Wie radikal durfte die Tochter sein? Wieviel Rücksichtnahme auf ihre Gefühle durften die Eltern erwarten?

 

Lukas schreibt ein Evangelium, wo Menschen mit Jesus tatsächlich davon gehen. Die sich ihre Freiheit nehmen. Ihrer Überzeugung zu folgen. Ihrer Lebensaufgabe. Ihrem Auftrag. Die selbst enge Angehörige der Großfamilie überlassen. Petrus muss, wenn sie nicht vor seiner Begegnung mit Jesus gestorben ist, verheiratet gewesen sein. Und die anderen um Jesus herum? Es sind in den Evangelien nirgendwo Kinder erwähnt. Vielleicht waren die Schülerinnen und Schüler Jesu, diese Studierenden, Suchenden, tatsächlich zu jung fürs Familienleben. Wohl aber erzählt gerade der Evangelist Lukas von Jesu Mutter, die an ihrem Kind und seiner Selbständigkeit, seiner Befremdlichkeit von Beginn an leidet. Doch nicht nur Jesus geht dabei seinen Weg, sondern auch Maria.

Aber nach dem Evangelium schreibt Lukas eine Apostelgeschichte. Da sind sie erst mal nicht mehr unterwegs. Da bleiben sie zunächst in Jerusalem. Zusammen. Da beginnen sie, für die Armen zu sorgen. Da führen sie eine Gemeinschaftskasse, wo es erste Konflikte gibt. Da entwickeln sie erste Strukturen in ihrer Gruppe. Es gibt die Apostel und es gibt Diakone. Es gibt Prediger und es gibt Getaufte. Lukas selbst weiß später die Jünger auf Missionsreisen immer wieder gut aufgenommen vor allem von reichen Frauen, von Unternehmerinnen, Hausbesitzerinnen. Von solchen, die eben nicht aufgebrochen sind, die nicht alle Beziehungen abgeschnitten haben. Aber eben sich mit ihrem Reichtum denen zuwenden konnten, die sich ganz fürs Lernen der Bibel, ganz für die Lebensgemeinschaft mit Jesus entschieden hatten. Die jetzt Leute aufnahmen wie Paulus auf seinen Reisen. Ihnen Station boten. Sicherheit auf dem Weg. Ohne sie wäre die Jesusbewegung vielleicht im Nichts verlaufen.

Am Ende: die Hoffnung, was auch beim reichen jungen Mann gilt.

Was bei Menschen unmöglich ist, ist bei Gott möglich.

Sicherheit zu schenken denen, die bereit sind, radikal gegen über sich selber zu sein. Vertrauen in Gott und die Menschen wachsen zu lassen und ganz unsichere Lebensverhältnisse einzugehen.

Verunsicherung gegenüber einem Leben, wo alles für Jahrzehnte festzustehen scheint. Gerade auch in Glaubensfragen.

Was bei Menschen unmöglich ist, ist bei Gott möglich:

Die Bereitschaft, etwas zu wagen - bei aller Vorsorge.

Andere aufzunehmen, sich ihnen überraschend zu widmen mit all der Sicherheit, die man sich aufgebaut hat. Sie daran teilnehmen zu lassen.

 

Viele kennen die Fabel von Ameise und Grille. Von der Ameise, die arbeitet und der Grille, die den ganzen Sommer musiziert. Dass die Ameise für den Winter sorgt und die Grille nur den Moment wahrnimmt. Der glücklichste Ausgang dürfte der sein, wenn die Grille der Ameise und sich selbst aufspielt und die Ameise mit ihr die Vorräte teilt.

Sie könnten dann immer noch alle beiden gefressen werden. Aber soweit es an ihnen lag, hätten sie beide die Gewissensentscheidung der andern gewürdigt.

Bei Gott ist sehr viel möglich. Für diese. Und für eine kommende Welt.



Pfarrerin Kira Busch-Wagner
Aue
E-Mail: Kira.Busch-Wagner@kbz.ekiba.de

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