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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

15. Sonntag nach Trinitatis, 24.09.2017

Die Löffelliste
Predigt zu Lukas 18:28-30, verfasst von Wolfgang Vögele

Friedensgruß

Der Predigttext für den 15.Sonntag nach Trinitatis steht Lk 18,28-30:

„Da sprach Petrus: Siehe, wir haben, was wir hatten, verlassen und sind dir nachgefolgt. [Jesus] aber sprach zu ihnen: Wahrlich, ich sage euch: Es ist niemand, der Haus oder Frau oder Brüder oder Eltern oder Kinder verlässt um des Reiches Gottes willen, der es nicht vielfach wieder empfange in dieser Zeit und in der kommenden Welt das ewige Leben.“

 

Liebe Schwestern und Brüder,

ganz schnell findet dieses Gespräch zwischen Petrus und Jesus sein Ende: Aussage und Aussage, keine Entwicklung, kein Höhepunkt. Petrus spricht, Jesus spricht. Punkt. Und dennoch verbirgt sich in diesen wenigen Worten ein tiefes Gedankengebäude über Alltag und Endlichkeit, über Begeisterung und die Überfülle des Reiches Gottes. Mich haben diese Worte an einen meiner liebsten Filme erinnert: „Das Beste kommt zum Schluß.“ Jack Nicholson und Morgan Freeman spielen großartig zwei ältere Männer, die sich im Doppelzimmer eines Krankenhauses kennenlernen. Beide sind an Krebs erkrankt und erfahren von ihren Ärzten, daß sie nur noch wenige Monate zu leben haben. Deswegen beschließen sie, etwas aufzustellen, was man im Englischen die „bucket list“ nennt. Im Deutschen ist das mit Löffelliste übersetzt worden. Wer älter wird, sagen wir über fünfzig, der stellt an einem ruhigen Winterabend bei brennendem Kamin und einem Glas samtigen Rotweins eine Liste im Notizbuch auf. Die Liste wird zum Abhaken alles enthalten, was der Schreiber in seinem verbleibenden Leben noch unternehmen will. Wer stirbt, der gibt umgangssprachlich den Löffel ab, deswegen heißt die Liste Löffelliste.

Der witzig-ernste Film erzählt, wie sich Nicholson und Freeman unter einigen Schwierigkeiten und holprigen Wendungen an diese Lister abarbeiten: Sie springen mit einem Fallschirm aus einem Flugzeug, sie besichtigen die Pyramiden in Gizeh und das Taj Mahal in Indien; sie brettern mit einem Shelby Mustang über den Highway und gehen in der afrikanischen Steppe auf Großwildjagd. Am Ende sind beide tot, und der Assistent des reicheren Mannes bestattet ihre Asche auf einem Berggipfel im Himalaja. Den aussichtslosen Kampf gegen ihre Krankheit konnten sie nicht gewinnen, aber die letzten Monate ihres Lebens haben sie genutzt.

Nach diesem Film wurde es sehr populär, solche Löffellisten zu erstellen. Jeder von Ihnen, liebe Schwestern und Brüder, kann das nachholen, wenn Sie gleich nach dem Gottesdienst nach Hause kommen. Die abzuhakenden Punkte spiegeln Ihre Vorlieben:

Einmal das Polarlicht im Winter sehen.

In Australien am Great Barrier Reef tauchen.

In einem Heißluftballon fahren.

Mit Delphinen schwimmen.

Auf einem Elefanten reiten.

Chinesisch lernen, nach Shanghai reisen und dort in der Landessprache das Mittagessen in einer Suppenküche bestellen.

Silvester und Neujahr am Times Square in New York verbringen.

Ein Tattoo stechen lassen.

Einmal mit dem Gleitschirm fliegen.

Löffellisten enthalten Reisewünsche, gefährliche Aktionen und im Moment noch Unerfüllbares. Die Pyramiden, den Eiffelturm und den Grand Canyon will jeder einmal gesehen haben. Die Ängstlicheren unter uns schrecken vor Gleitschirm, Fallschirm, Bungee Springen und Achterbahn zurück. Viele hoffen, diese verständliche Angst wenigstens einmal im Leben überwinden zu können. Es geht darum, das Leben intensiver, spannender, aufregender, ungewöhnlicher zu gestalten. Nervenkitzel, Spannung und Aufregung vertreiben die Langeweile.

Der Alltag, der sich wiederholt, gilt demgegenüber als Inbegriff von Langeweile, Routine und Stress. Die Wiederholung des Immergleichen lähmt irgendwann. In jedem Menschen wohnt, manchmal sehr verborgen, der Wunsch, die Routine des Alltags hinter sich zu lassen und Neues zu wagen. Mindestens einmal sollen Enthusiasmus und Spannung an die Stelle von Gleichgültigkeit und Wiederholung treten. Das Gespräch von Petrus und Jesus zielt genau auf dieses Verhältnis von Wiederholung und Enthusiasmus und gibt ihm eine überraschende Wendung des Glaubens.

Aber bevor ich darauf komme, will ich einige Worte verlieren über die Bundestagswahl, weil sie sich doch wunderbar einordnen läßt in dieses Gegenüber von Langeweile und Enthusiasmus. Viele Beobachter haben die fehlenden Auseinandersetzungen beklagt, den pflichtschuldigen Austausch von Argumenten, die verbreitete Gleichgültigkeit, weil jeder das Ergebnis schon zu kennen meint. Der Vorwurf lautete, daß sich die großen Parteien in ihren oft luftigen Parolen und Slogans gar nicht mehr unterscheiden. Demokratie ist zu einer solchen Selbstverständlichkeit geworden, daß sie langweilig und erstarrt wirkt. Aber das ist eine gefährliche Fehleinschätzung, denn viele Wähler übersehen, wie zerbrechlich und zerstörbar das Selbstverständliche ist. Demokratie, Menschenrechte und Menschenwürde, Gewaltenteilung und europäische Einigung sind ohne das begeisterte Engagement von Bürgerinnen und Bürgern nicht zu haben, auch wenn viele Wähler mit den Kandidaten, den Wahlslogans und den möglichen Regierungskoalitionen, die uns ab 18.00 Uhr erwarten, nicht zufrieden sein mögen. Trotzdem zählt jede Stimme. Demokratie lebt von der Wahlbeteiligung, auch der Christenmenschen. Liebe Schwestern und Brüder, Sie tun sich selbst etwas Gutes, wenn sie nach dem Segen des Gottesdienstes und vor dem Erstellen Ihrer Löffelliste hinüber in die Wahllokale gehen und dort Ihre Stimme abgeben. Und genauso sollen Sie wissen, daß Wahlbeteiligung nur den ersten Schritt hin in eine stabile und lebenswerte Demokratie darstellt. Mehr noch als Wahlbeteiligung braucht eine demokratische Bürgergesellschaft Engagement.

Der Jünger Petrus und Jesus von Nazareth wären nie auf den Gedanken gekommen, bei einer Wahl ihre Stimme abzugeben. Sie lebten in einem römisch besetzten und unterdrückten Palästina. Petrus und seine Mitjünger wären auch nicht auf den Gedanken gekommen, sich eine Löffelliste zu erstellen. Petrus und seine Mitjünger wußten nichts vom Grand Canyon oder vom Taj Mahal, und über Gleitschirme, Hubschrauber und Tauchausrüstungen wären sie sehr erstaunt gewesen. Und dennoch bewegte sie diese Frage: Was fange ich mit der Zeit meines Leben an? Wie kann ich einen großen Schuß Begeisterung in den grauen Topf mit dem Einheitsbrei des Alltags gießen?

Die Löffelliste des Jüngers Petrus sieht ganz anders aus als die modernen Reise- und Risikolisten. Sie enthält im Grunde nur einen einzigen Punkt, und der heißt: Nachfolge. Alles andere, Familie, Fischerberuf, Fischerboot und -netze, Verwandte, Besitz, ist in den Hintergrund gerückt. An die Stelle des Alten, Hergekommenen, Alltäglichen ist etwas radikal Neues gerückt. Petrus und seine Mitjünger haben sich darauf eingelassen, dem Lehrer aus Nazareth nachzufolgen. Die Löffelliste des Glaubens gestaltet sich eindeutig, nicht vielfältig. Sie zielt nicht auf die Intensivierung des Lebens, sondern auf   radikale Veränderung.

In der Geschichte des Christentums haben sich immer wieder junge und alte Menschen auf das radikal Neue des Glaubens eingelassen. Die Wanderprediger der ersten Jahrhunderte zogen von Gemeinde zu Gemeinde, ohne zu wissen, wer ihnen am nächsten Tag Übernachtung und Essen zur Verfügung stellen würde. Die Säulenheiligen und Eremiten zogen sich in Wüsten oder abgelegene Wälder zurück, um im Bruch mit Welt und Familie allein für und mit Gott zu leben. Die ersten Klöster, gegründet vom heiligen Benedikt auf dem Monte Cassino stellten einen Rahmen des Glaubens für das Leben mit Gott zur Verfügung. Erst mit dem sicheren Rahmen der Gelübde konnten sich Novizen und Brüder auf die zentrale Regel des „Betet und Arbeitet“ einlassen. Wer Mönch oder Nonne wurde, der ließ die Welt hinter sich. Die Klosterangehörigen verzichteten auf Heirat, ließen die Familie zurück, verzichteten auf Besitz und unterwarfen sich gehorsam den Weisungen des Abts und einer strengen Tagesordnung. Sie schworen der Welt ab und übten ihre Frömmigkeit für das verheißene Reich Gottes. Sie benötigten nicht mehr die Vielfalt und die Mannigfaltigkeit und die Buntheit der Welt. Sie konzentrierten sich einzig auf den Enthusiasmus des Glaubens. Liebe Schwestern und Brüder, das ist ein vornehmer und gangbarer Weg zum Reich Gottes, aber es ist nicht der einzige Weg, den der christliche Glaube bereithält.

Zunächst scheint Jesus von Nazareth dieses mönchische Modell des Glaubens zu bestätigen: Wer alles verläßt, Familie, Besitz, Vorgeschichte, der wird im Reich Gottes die Überfülle des Glaubens finden.

Was ist dieses Reich Gottes, von dem Jesus spricht? Jesus meint nicht die Erlösung und das Heil für einzelne Menschen, sondern eine Gemeinschaft von Glaubenden, die sich ganz von Gott bestimmen läßt. Er spricht begeistert vom Übergang in eine Welt, in der Gottes Gnade und Barmherzigkeit alles Leben bestimmen, jenseits von Lethargie, Sachzwängen und verbreiteter Trostlosigkeit. Entscheidend ist hier das Wort Übergang. Jünger, Apostel, Mönche, Eremiten und Nonnen haben den Übergang so aufgelöst, daß sie gelobten, mit ihrem ganzen Leben und Denken für dieses Reich einzustehen, das Jesus den Menschen verkündigt hat.

Viele andere Menschen, vor allem viele Protestanten lösen den Übergang anders auf. Denn sie wissen sich in vielem – und das nicht zu Unrecht – noch dem verbunden, was Petrus hinter sich gelassen hat: Familie, Verwandte, Beruf und Freunde. Und trotzdem versuchen diese Menschen, in ihrem Glauben ein Verhältnis zu dem zu gewinnen, was Jesus Gottes Reich genannt hat. Auch das ist ein Übergang: Diese Welt nicht aufgeben und ihr ein begrenztes Recht zugestehen. Das Vorläufige und Alte ist noch da: Dazu gehört zum Beispiel das Wählen, ich habe darüber schon gesprochen, auch wenn der Wahlkampf durch Langeweile und Unscheinbarkeit viele Wähler gelähmt hat. Aber diese Welt mit Wahlen, Familienbeziehungen, Altwerden, mit Alltag und den kleinen Kämpfen, die Zeit und Nerven kosten, diese Welt braucht so etwas wie eine Perspektive darauf, daß die Wirklichkeit sich ganz anders verhalten könnte.

Und dieses nennt Jesus den Glauben für einzelne und das Reich Gottes für alle Menschen, die sich auf seine Barmherzigkeit verlassen wollen. Glaube begeistert sich für das kommende Reich Gottes, für seine Fülle und seinen Überfluß. Wer glaubt, der überwindet die Lähmung und die Betäubung, die jeden überfallen, der sich zu lange auf die Routinen des Alltags verlassen hat. Es kommt entscheidend darauf an, daß der Glaube an diesen barmherzigen Gott in den kleinen Grabenkämpfen des Alltags nicht untergeht. Der Glaube setzt ein kleines Zeichen, daß diese Welt in den Sachzwängen und Kleinigkeiten der Wirklichkeit nicht aufgeht. Reisen und Risiko verschaffen ein intensiveres Leben, aber letztendlich keinen Sinn. Wer am Grand Canyon steht, hat schließlich immer noch die Erinnerung an sein vergangenes Leben dabei. Glaube hingegen macht das Leben nicht intensiver, sondern er ordnet es ein, er setzt dieses Leben mit all seinen wichtigen und unwichtigen Kleinigkeiten in das richtige Verhältnis. Deswegen lebt der Glaube nicht aus der Vergangenheit oder der Gegenwart des Alltags, sondern aus der Zukunft. Glaube ist die tröstende Zuversicht auf die Barmherzigkeit Gottes, mit deren Hilfe er sein Reich aufbaut und immer mehr erweitert.

An dieser Zukunft hält der Glaube fest und läßt sich darin durch keine Langeweile, keine Lethargie, keine Zähigkeit betäuben. In einem tieferen Sinn gilt dann: Das Beste kommt zum Schluß, nämlich die Überfülle von Gottes Gnade.

Und der Friede Gottes, der jeden Alltag überragt und jede Langeweile durch die Begeisterung des Glaubens überwindet, sei mit euch allen. Amen.



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