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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

21. Sonntag nach Trinitatis, 05.11.2017

Predigt zu Matthäus 5:1-12 (dänische Perikopenordnung; Allerheiligen), verfasst von Marianne Frank Larsen

Eva erinnert sich an ihre Großmutter. Es ist vielleicht 70 Jahre her, aber sie erinnert sich daran, wie die Großmutter sie am Sonntag mit auf den Friedhof nahm. Das war ein kleiner abgelegener Friedhof hinter einer alten Kirche, und Eva spielt, während ihre Großmutter ihre Gräber pflegte. Die Großmutter erzählte nicht sonderlich viel von denen, die dort begraben waren. Sie war keine Frau, die viele Worte machte, aber die Fürsorge lag in ihren Bewegungen und Handlungen. „Sie nahm sich ihrer Toten an“, stand dort, und was Eva vor ihrem inneren Blick sah, ist dies, wie die Großmutter vorsichtig neue Blumen zwischen die Pflanzen anbrachte, die schon auf den Gräbern wuchsen. Wie sie gleichsam einen Teppich über die Wurzeln der Blumen mit der dunklen, schweren Erde legte. Wie sie den Schnee im Winter wegfegte. Und wie sie ein kleines Licht zur Weihnachtszeit anzündet und es stehen lässt, wenn sie nach Hause gehen. „So als ob sie auch Licht brauchten, die Toten“, steht da.

In dem guten Buch von Merethe Lindstrøm mit dem Titel „Tage in der Geschichte der Stille“ ist die Großmutter schon viele, viele Jahre tot. Aber in der bestimmten Erinnerung ist sie ganz lebendig im Herzen von Eva. Sie pflanzt Blumen, sie zündet Lichter an, sie nimmt sich ihrer Toten an. Die Spaziergänge zu dem kleinen abgelegenen Friedhof liegen in einer fernen Vergangenheit, die längst vorbei ist. Aber in der Erinnerung wird das, was Vergangenheit ist, in die Gegenwart hineingetragen, so dass es dennoch nicht vorbei ist – nicht jedenfalls in unseren Herzen. Erinnerung – das Wort hat etwas damit zu tun, dass etwas in unser Inneres dringt, nämlich das, was eigentlich vorbei ist. Wir können selbst die Erinnerung aufsuchen, uns bildlich gesprochen in ihr bewegen wie in einem Raum, wo das, was einmal war, liegen bleibt und neu entdeckt werden kann. Aber die Erinnerung kann auch zu uns kommen, ohne dass wir darum gebeten haben, sie melden sich von selbst, weil wir etwas sehen oder hören oder merken, einen Duft, ein Stück Musik, ein bestimmtes Licht über die Landschaft, das die Erinnerung unwillkürlich hervorruft, ob wir es wollen oder nicht. Wie Eva, die an einer anderen Stelle des Buches sie Hände ihres alten Mannes sieht, als sie ihn vom Pflegeheim holt, und sich unwillkürlich daran erinnert, wie sie es liebte, diese Hände auf ihrem Rücken zu spüren, wie diese Hände seine Patienten untersuchten, wie diese Hände ihre Kinder trösteten, als sie klein waren. Glückliche Erinnerungen, die uns zum Lächeln bringen, oder schwere Erinnerungen an das, was wir am liebsten vergessen wollen. Aber wir kommen davon nicht los. Die Erinnerung kehrt zurück, denn wir sind nicht Herr über sie.

Im Unterschied zum Gedächtnis, das nicht von selbst kommt. Es ist eine Aktivität in unseren Gehirnen, ein Stück Arbeit, die wir verrichten, solange wir können, um im Gedächtnis zu behalten: Jahreszahlen, Namen, Tatsachen, Formeln, Verfahren, Rezepte, Vorgehensweisen und so weiter. Unsere Erinnerungen können zu Erzählungen werden, so wie Eva von ihrer Großmutter und ihrer Fürsorge für die Toten erzählt. Erzählung und Erinnerung sind eng mit einander verbunden und regen einander an. Diese Beziehung existiert nicht im Gedächtnis. Das Gedächtnis hat keine Form von Erzählung, sondern von Tatsachen aus der Vergangenheit, die Vergangenheit bleibt. Nicht das Gedächtnis macht die Vergangenheit lebendig. Das tut die Erinnerung. Aber auch wenn wir vergessen, wie man den Staubfilter in der Waschmaschine reinigt oder wie der Geschichtslehrer am Gymnasium hieß, also das Gedächtnis verlieren, kann die Erinnerung durchaus noch hell-lebendig sein. Søren Kierkegaard sagt an einer Stelle, dass der Greis das Gedächtnis verliert, aber nicht die Erinnerung. Und, fährt er schön fort und sagt, „die glückliche Erinnerung des Alters“ ist die „Gnadengabe der Natur“. Ja, denn in der glücklichen Erinnerung ist die Vergangenheit ganz lebendig und trotz allem Verlust gegenwärtig.

Genau dasselbe kann man von der Erinnerung des Trauernden sagen. Auch die glückliche Erinnerung des Trauernden ist eine Gnadengabe der Natur. Vielleicht ist sie es, die bewirkt, dass ich noch immer der sein kann, der ich bin, auch wenn ich die lieben Menschen verloren habe, für die ich da war. Dass sie in meiner Erinnerung leben; dass ich sehen kann, wie sie mir zulächeln, sie meinen Namen rufen höre und ihre warmen Hände fühle, so dass ich daran festgehalten werde, wer ich bin, auch wenn sie fort sind. Und daran festgehalten werde, dass das Leben nicht nur Krankheit ist, Verlust und Leid. Dass es letztlich gut und freudvoll ist und wert zu leben, und das dies das erste ist, was man über das Leben sagen muss. Das weiß ich, wenn die Erinnerung die Freuden herbeiruft. Deshalb ist die Erinnerung lebenswichtig. Und ich denke, dass wir deshalb instinktiv damit beginnen, auf all das Gute zurückzublicken, sobald wir einen geliebten Menschen verloren haben. Indem wir erzählen und uns erinnern und auf diese Weise die Vergangenheit in die Gegenwart hineinbringen, können wir uns langsam selbst sammeln und das Leben, das ausgeloschen ist. Denn aus der Erinnerung daran, dass es die Freude gibt, entspringt auch die Erwartung, dass sie wiederkommen kann. Vielleicht jetzt, vielleicht einmal in der Ewigkeit, aber sie kommt.

Das Haus hier ist ein Raum er Erinnerung. Es stellt den Rahmen dar für die vielen verschiedenen Erinnerungen, die ein Teil von uns allen sind mit unserem Leben. Der Taufstein erinnert uns an unsere Taufe. Weckt die Erinnerung an damals, als wir da standen mit unseren kleinen Kindern auf dem Arm. Für einige von uns erinnert der Altar an einen Hochzeitstag, oder den Tag der Konfirmation im April oder im Mai. Vielleicht bringen die Kirchenglocken oder der Klang der Orgel unseren Verlust in Erinnerung. Als wir hier waren, weil wir jemanden verloren hatten. In dieser Jahreszeit erinnern die angezündeten Lichter an Weihnachten. Das Dunkel, den Baum, den Stern, den Heiligen Abend oder den Heiligen Abend in diesem Raum. Unsere Erinnerungen sind mit vielen verschiedenen Gesichtern bevölkert, aber hier werden wir daran erinnert, dass sie gemeinsame Züge tragen. Dass wir nicht allein sind, wenn wir lieben, verlieren oder einmal sterben müssen, und das ist in der Tat eine große Beruhigung. Dass wir trotz aller Unterschiede Geburt und Tod, Jugend und Alter, Liebe und Verlust gemeinsam haben.

Und im gleichen Atemzug werden unsere vielen unterschiedlichen Erinnerungen hier mit der Erinnerung verknüpft, die uns gemeinsam gegeben ist. Das ist die Erinnerung an ihn, der in der Weihnacht geboren wurde, Karfreitag begraben wurde. Wir haben also nicht nur Geburt und Tod mit einander gemeinsam, sondern auch mit ihm, der Ostermorgen vom Grabe auferstand. Mit ihm, der die Freue zu neuem Leben erweckte, als alles vorbei war. Wenn wir hören, was er sagt, denken wir nicht nur an etwas, was vor 2000 Jahren gesagt wurde. Wir bringen seine Worte in Erinnerung, und dann werden sie lebendig. Das ist nicht nur Vergangenheit. Das ist hier und jetzt. Wir hören ihn sagen, selig sind die Trauernden und die Armen und die Sanftmütigen; selig sind alle Menschen, die wir überhaupt nicht für selig halten, aber sie sind es in seinen Augen. Im Lichte seines liebenden Blickes sind alle Menschen selig, die nicht glücklich sind und erfüllt und zufrieden. Alle, die sich sehnen, die Mangel leiden und jemanden vermissen, sind selig, weil er bei ihnen ist – und bei uns – mit der Zukunft Gottes schon hier und jetzt. Die Zukunft, wo wir getröstet werden und Gottes Kinder heißen, denen das Himmelreich gehört und denen Barmherzigkeit widerfährt. Das ist nicht nur eine ferne Vergangenheit. Das ist auch nicht bloß eine ferne Zukunft. Das ist Gegenwart. Nicht: Selig werden sie einmal, sagt er, sondern selig sind die Armen und Trauernden und die Sanftmütigen, und selig sind wir – schon hier und jetzt, trotz all unserer Verluste – weil er auch heute Gottes Zukunft bringt mit Trost und Barmherzigkeit mitten in unser Leben hinein.

An Allerheiligen erinnern wir an die, die wir geliebt haben und verloren haben, indem wir ihre Namen nennen. So nehmen wir uns unserer Toten an die die Großmutter in dem Buch, die auf ihren Gräbern pflanzte und Lichter anzündete. Denn solange die Toten in Erinnerung gebracht werden, so lange sind sie in uns und unserem Leben lebendig. So lange hat die Dankbarkeit eine Chance, die Bitterkeit und die Finsternis in uns zu überstrahlen.

Hier in der Kirche wird uns gesagt: An dem Tag, wo unsere Erinnerung zugrunde geht, leben wir und unsere Toten noch immer in der gewaltigen Erinnerung Gottes. Sie reicht von Ewigkeit zu Ewigkeit, und in ihr wird niemand vergesse. Das Haus hier ist ein Bild für seine Erinnerung, weil es die Erinnerung an das Leben, das Glück, den Verlust und den Tod und den Glauben und die Hoffnung und die Liebe der Menschen von 900 Jahren enthält. Aber das Haus hier ist auch ein Bild für unsere Hoffnung. Denn hier werden unsre vielen verschiedenen Erinnerungen in das Licht der Ewigkeit gestellt, wenn Gott seine Zukunft in unsere Gegenwart bringt und uns bei dem Guten festhält, das kommen wird. Die Erinnerung daran, wie die Freude wiederkam am Ostermorgen, als sie glaubten, dass alles aus war, weckt unsere Zuversicht, dass die Freude auch für uns und unsere Toten wieder erwacht. Und die Dichter stellen die Freude der Ewigkeit dar in Bildern, von denen unsere Erwartung leben kann. Wenn wir nun in die Finsternis des Novembers gehen mit all unseren Verlusten, dann gehen wir im Lichte der glücklichen Erinnerung und der frohen Zuversicht. Auch das ist wirklich eine Gnadengabe. Amen.



Pastorin Marianne Frank Larsen
DK 8000 Aarhus C
E-Mail: mfl(at)km.dk

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