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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

Drittletzter Sonntag des Kirchenjahres, 12.11.2017

Geöffnete Hände
Predigt zu Lukas 11:14-23, verfasst von Thomas Schlag

Liebe Gemeinde, folgendes sei an dieser Stelle erzählt:

Ursprünglich wollte ich gar nicht mitkommen. Allerbeste Entschuldigungen hatte ich mir zu Recht gelegt. Aber die Freunde wollten sich die Sensation nicht entgehen lassen – und dies schon gar nicht ohne mich. So bin ich am Ende wohl oder übel mitgegangen.

Wenigstens mussten wir nicht lange suchen. Ein richtiger Menschenauflauf hatte sich bereits gebildet. Das hatte ich wegen der vorauslaufenden Nachrichten sowieso befürchtet. Massenansammlungen sind mir zuwider. Zu laut und zu eng. Zu viele komische drängelnde Typen. Wie auf dem Jahrmarkt. Extrem unangenehm.

Gesehen haben wir erst einmal gar nichts. Und gehört auch nicht. Offenbar waren wir zu spät dran. Aber die Freunde haben sich durchgefragt und nach vorne durchgekämpft. Ich immer im Schlepptau: „Ist schon was passiert?“. „Man sieht gar nichts, wo ist er denn?“

Vor uns drehte sich jemand kurz um und blickte uns, genervt von der Fragerei, an. Mürrisch zeigte er auf eine schmächtige Person in einigem Abstand: „Seht ihr den da? Ich glaube, der kann wieder reden. Jahrelang war er komplett stumm. Wie wenn ihm der Teufel den Mund verschlossen hatte. Einige, die weiter vorne stehen, haben berichtet, dieser Mensch hat den Stummen einfach mit seinem Finger berührt oder auch an ihm gezerrt. So genau habe ich es auch nicht verstanden. Und jetzt kann er wieder sprechen. Unglaublich.“

Inzwischen hatten wir uns mühsam näher an das Zentrum des Geschehens herangearbeitet. Aber nun wurde unsere Gruppe auch von hinten her bedrängt. Mitten in der Masse steckten wir fest. Uns blieb fast die Luft weg. Der Stumme, der angeblich auf einmal reden konnte, war aus unserem Blickfeld verschwunden. Es wurde lauter. Aufgeregtes Durcheinander. Da kristallisierte sich deutlich eine einzelne Stimme heraus – unüberhörbar aggressiv:

Durch Beelzebul, den Fürsten der Dämonen, treibt er die Dämonen aus.“

Beelzebul? Warum fällt dessen Name hier? Ich erinnere mich lebhaft an Geschichten über diesen „Herrn des Misthaufens und der Fliegen“ – wie er auch genannt wurde. Als Kind hatte man mir mit ihm höllische Angst eingeflößt. Vom Tempel in Ekron aus, das zwischen Jerusalem und dem Mittelmeer liegt, habe dieser sein Unwesen getrieben, Menschen verzaubert und dämonisch verhext, ein eigenes satanisches Gottesreich errichten wollen.

Aber warum ist auf einmal von dieser gruseligen Gestalt die Rede? Ist dieser Beelzebul nun also hier mitten unter uns angekommen? Offensichtlich läuft hier ein jüdischer Religionsgelehrter zu höchster Form auf. Jetzt sieht er wohl seine Stunde gekommen, um einem Scharlatan das Handwerk zu legen – und sich selbst und seine Wahrheit zugleich ins hellste Licht zu stellen.

Bevor ich mir darüber weiter Gedanken machen konnte, riefen zwei andere laut aufgeregt über alle Köpfe hinweg:

„Gib uns ein Zeichen vom Himmel!“.

Was nun, Hölle oder Himmel? Und was für ein Zeichen? Ich bin allen Zeichen gegenüber überaus skeptisch eingestellt. Was erwarteten diese beiden Schreihälse eigentlich? Doch wohl nicht ernsthaft, dass jetzt irgendein Regenbogen aufgeht? Oder dass der Prophet Jona wieder in Echtzeit auftaucht. Was ist hier los?

Jetzt wurde das Gedränge angsterregend, fast panikartig. Einige der Freunde wollten schon den Rückzug antreten, aber an ein Zurück aus der Menge war überhaupt nicht zu denken.

Aber dann: Für einen kurzen Moment … Stille. Wahrscheinlich auch deshalb, weil eine Frau laut „Ruhe! “geschrien hatte: Und wir hörten, ziemlich leise, eine Stimme – seine Stimme:

„Jedes Reich, das in sich gespalten ist, wird verwüstet, und ein Haus fällt über das andere.“

Die Erfahrung des gespaltenen Reiches war mir alles andere als fremd. Mir als frommem Menschen musste man die eigene Geschichte weiß Gott nicht erklären. Ich habe am eigenen Leib miterlebt, wie die jahrhundertealten Konflikte unser Land immer wieder aufs Neue auseinanderrissen. Wie sich die Mächtigen auf Kosten ihrer Völker sinnlos bekriegten, bis nur noch verbrannte Erde da war.

Und seine Worte passten jetzt auch noch in anderer Hinsicht: Leider. Inzwischen war es unter uns so eng geworden, dass die ganze Masse von Menschen wie in einer grossen Welle hin und her wogte. Einzelne drohten wegzurutschen und übereinander zu fallen.

Einem unserer Freunde wurde das Chaos zu viel. Laut fluchend und mit ausgefahrenen Ellenbogen trat er den Rückzug an, nicht ohne uns hinterherzurufen „Das macht doch alles keinen Sinn!“.

Vorne aber setzte plötzlich eine eigenartige Stille ein. Offenbar setzte er vorne seine Rede fort, begann zu argumentieren: Noch einmal rief jemand laut „Ruhe!“ und ein anderer „Seid doch endlich still!“

Wenn nun auch der Satan in sich gespalten ist, wie kann dann sein Reich Bestand haben? Ihr sagt ja, dass ich die Dämonen durch Beelzebul austreibe.“

So also packt der da vorne den Teufel bei den Hörnern, dachte ich. Er wehrt sich gegen den Vorwurf, mit diesem König der Dämonen verglichen zu werden. Überaus klug argumentiert er: Mein Reich ist nicht von dieser teuflischen Welt. Ich beanspruche keine dämonische Zuständigkeitskompetenz. Ein solches gespaltenes Reich könnte keinen Bestand haben. Es ist schon jetzt zum Untergang verurteilt.

Und er setzte noch einen drauf:

„Wenn ich nun die Dämonen durch Beelzebul austreibe, durch wen treiben dann eure Söhne sie aus? Darum werden sie eure Richter sein.“

Wir Freunde schauten uns fragend an. Nicht sicher, ob wir es richtig verstanden. Aber zusammengereimt haben wir es uns so: Dämonenaustreibung also solche ist ja kein teuflisches Geschäft, das weiß man seit König Salomos Fähigkeit, Dämonen in Tongefäßen einzuschließen. Und tatsächlich sind viele bei uns tagtäglich auf den Straßen unterwegs – Söhne des jüdischen Volkes –, die Menschen von bösen Geistern heilen, und dies alles mit bester Unterstützung der religiösen Autoritäten. Und deshalb würden die eigenen Söhne ein hartes Urteil fällen, würde man ihnen unterstellen, dass sie mit dem Teufel im Bund sind.

Also schon wieder gibt dieser da vorne den Böswilligen eine überaus kluge Antwort.

Viel Zeit hatten wir aber nicht, um weiter über dieses Argument nachzudenken. Immer noch war es extrem mühsam, in der aufgeregten Menge die eigene Position irgendwie zu halten, sich nicht wieder abdrängen zu lassen.

Und dann wurde auf einmal die Sicht nach vorne frei. Nur für wenige kurze Augenblicke. Durch die Menge hindurch, an den wogenden Schultern, den breiten Rücken und sich wild bewegenden Köpfen vorbei öffnete sich für Momente mein Blick: Da war einmal ein Stück Gewand zu sehen, kurz seine Füße, einige Haarsträhnen. Sein Gesicht habe ich nicht sehen können.

Aber für einen Moment seine Hände. Mir sind sofort die Adern auf seinen Handrücken aufgefallen. Fast ganz parallel gegliedert und etwas angeschwollen, pulsierend. Durch die blasse Haut hindurch erschienen sie fast ein wenig bläulich.

Und dann – durch das ganze aufgeregte Stimmenchaos und die Enge hindurch – hörte ich ihn diesen leisen und zugleich erstaunlich klar verständlichen Satz sagen:

Wenn ich jedoch durch den Finger Gottes die Dämonen austreibe, dann ist das Reich Gottes zu euch gelangt.“

In dem Moment konnte ich noch einmal seine offenen Hände sehen, ruhig und aufmerksam waren sie auf die Menschen um ihn herum gerichtet.

Mehr habe ich nicht mitbekommen. Und mehr war auch nicht mehr möglich. Jetzt drohte alles Weitere im panikartigen Tumult unterzugehen. Wir Freunde ergriffen die Flucht – auf dem Weg ins Freie.

Angeblich hat dieser Mensch – so wurde uns später berichtet – noch gesagt, was wirkliche, göttliche Stärke bedeutet. Er hat dabei in Bildern von Waffen und Rüstung und Beute gesprochen. Aber das alles haben wir schon nicht mehr selbst gehört. Und für mich hätte das auch keinen Unterschied mehr gemacht – ehrlich gesagt kann ich mit militärischen Beispielen ohnehin nicht viel anfangen.

Deshalb hat mir dieser eine leise und klare Satz vollauf genügt:

Wenn ich jedoch durch den Finger Gottes die Dämonen austreibe, dann ist das Reich Gottes zu euch gelangt.“

Erstaunlich. Seit meiner Kindheit höre ich vom Reich Gottes, das alles neu machen wird. Und dann alles so hell wie eine kostbare Perle zu leuchten beginnt.

Und nun traut sich einer, genau davon ganz frei zu sprechen. Nicht irgendwann, sondern schon jetzt. Gegen alle Anfeindungen und mitten im ganzen Menschentumult hebt er die bedrohliche Enge auf.

Dazu braucht er nicht viel mehr als die Energie seiner Hände, manchmal nur einen einzelnen Finger. Wenn es uns im Innersten umtreibt, wie wertvoll ist dann schon die kleinste Berührung, Wenn wir wie durch einen Faustschlag niedergestreckt sind, wie kostbar sind dann geöffnete Hände.

Jetzt riecht es nicht mehr dämonisch nach dunklem Krieg und verbrannter Erde. Mich umweht ein leichter, frischer Hauch. Kein Wunder, dass manche Menschen seine „heilenden Hände“ bis heute in Erinnerung behalten haben. Und nicht verwunderlich, dass seine Berührung als neuer Anfang erlebt wird.

Erstaunlich, dass er selbst in all der Aufregung um ihn herum die ganze Zeit über so ruhig und gelassen geblieben ist. Gegen die boshaften Vorwürfe hat er sich gar nicht lautstark verteidigt. Als ob er schon einen Schritt weiter ist als wir alle.

Na ja. Diejenigen, die noch länger vor Ort geblieben waren, erzählten noch das Folgende: Am Ende sei er noch einmal sehr deutlich, ja sogar richtig laut geworden. Geradezu bedrohlich habe es gewirkt, als er sagte:

Wer nicht mit mir ist, der ist gegen mich, und wer nicht mit mir sammelt, der zerstreut.“

Er kann also auch ganz anders, radikal sein – das gibt mir zu denken. Auch wenn es mir im Moment schwerfällt, mich ganz eindeutig zu positionieren. Die Dinge sind irgendwie zu komplex für ein einfaches „Schwarz oder Weiß“. Mein Leben ist ziemlich kompliziert.

Jedenfalls scheint sich die ganze Versammlung nach diesem Ereignis schnell aufgelöst haben. Die allermeisten sind in ihre Privathäuser und in ihren Alltag zurückgekehrt ... so viel zum Thema „Zerstreuung.“

Einige sind, so höre ich, mit ihm weitergezogen. Sie befinden sich offenbar auf dem Weg nach Jerusalem. Ich habe mir ein paar Tage frei genommen. Ich möchte seine geöffneten Hände noch einmal sehen … Amen.



Prof. Dr. Thomas Schlag
CH-8001 Zürich
E-Mail: thomas.schlag@theol.uzh.ch

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