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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

Silvester, 31.12.2017

Aufbruch in das Land der Zukunft
Predigt zu Exodus (2. Buch Mose) 13:18-20, verfasst von Ulrich Pohl

Aufbruch. Auszug aus dem, was war. Aufbruch in etwas Neues. In ein Land, das vor uns liegt. Unbekannt. Aufbruch in ein Land, das sich uns erst erschließt, wenn wir uns auf den Weg machen. Das wir erst dann kennenlernen, wenn wir es Schritt für Schritt erkunden. Aufbruch in das Land der Zukunft.

Nichts war klar für das Volk Gottes. Es war nicht klar, wohin der Weg führen sollte. Es gab kein vorgegebenes Ziel, es gab keine Karte mit vorgezeichneter Route. Ein Navi erst recht nicht. Nur für den ersten Tag, da war die Richtung allen klar: Dem Land, was da hinten liegt, den Rücken zuwenden. Dem Land von gestern. Dem Land von früher. Veraltet, überholt, kein Platz mehr zum Leben darin.

Eingeschnürt in Altes war man gewesen. Verstrickt in die Dinge, die waren, wie sie eben waren. In Gewohnheiten. In Anforderungen. In ein Gestrüpp aus Abläufen, die keiner mehr in Frage stellte. Fremdbestimmt war man gewesen, versklavt unter das, was immer schon war. Und eigentlich immer so hätte bleiben sollen.

Doch dann: Der Aufbruch, der Weg ins Freie, von dem eben keiner wußte, wohin er führen sollte. Nur, dass er eben ein Weg ins Freie war. In die Freiheit. Das erste Aufatmen außerhalb der Mauern. Das erste Nachtlager am Rand der Wüste, dort in Etam. Die klare Luft. Der Duft der Pflanzen. Die Weite. Der leere Raum. Die Stille.

Die Freiheit. Die Freiheit verbunden mit dem Vorsatz, diese Freiheit nie mehr loszulassen. Mit dem Vorsatz, nichts soll so bleiben wie es war. Mit dem Vorsatz: Von nun an lebe ich anders. Genügsamer. Aufmerksam. Aufmerksam für mich, aufmerksam für andere. Und ich fange neue Rituale an. Feste Zeiten und Übungen, die meinem Leben einen Rhythmus geben. Einen selbst gewählten Rhythmus. Der eigene Atem - nicht die Stechuhr. Die Stille - nicht das Gedudel. Das Gebet - nicht das Gerede. Und statt den unablässigen Meldungen über vermeintliche Lenker und bedeutende Entscheidungen – die Botschaft dessen, der die Welt in Händen hält.

Dann kam die erste Nacht. Das Dunkel. Die ungewohnten Geräusche. Die Kälte. Die Mauern der Städte hatten eben auch geschützt. Sie hatten Geborgenheit gegeben. Dort hatte jeder seinen Platz gehabt. Man wusste, wohin man gehörte.

So mancher aus dem Volk Israel wird in dieser Nacht hinausgeschaut haben in das Dunkel der Wüste. Mit Sorge. Mit Bangen: Hier beim Auszug bin ich mit dabei. Aber bin ich auch noch dabei, wenn wir ankommen? Bin ich dem gewachsen, was auf uns zukommt? Wo bleibe ich, wenn ich es nicht mehr bin? Überhaupt: In welchem Tempo werden wir marschieren? Werden die nach vorne drängen, die stets ihren eigenen Vorteil suchen? Werden die zurückbleiben, die auch nach den andern schauen? Sind die, die uns führen, bereit, ihre Entscheidungen so zu treffen, dass möglichst viele mitkommen? Oder sind sie, wie es so schön heißt, „zielorientert“? Sind sie bereit, uns zuzuhören? Sind sie im Zweifelsfall bereit, zurück ins Glied zu treten, wenn sie die Orientierung verloren haben? Wenn es neue Anführer braucht?

Nein, nichts war klar für das Volk Gottes. Kein vorgegebenes Ziel, keine vorgezeichnete Route. Für den ersten Tag war die Richtung klar gewesen. Doch war diese Klarheit nun aufgebraucht und es kam die Nacht. Und mit ihr die Ungewissheit. Der Zweifel: Ist das richtig. Ist es richtig, allem bisherigen den Rücken zu kehren? Den Rücken zu kehren, wenn ich nicht weiß, wohin sonst?

Man erzählt sich, damals, in der ersten Nacht, hätten einige plötzlich ein Leuchten gesehen. Einen Feuerschein, wie von einem fernen Licht – dann wieder übergroß und ganz nah. Man erzählt sich, dort am Rande der Wüste habe es angefangen. Die ersten, die es sahen, hätten es für eine Einbildung gehalten. Eine Täuschung der Sinne. Doch dann habe man festgestellt, dass sich die Erscheinung in den Gesichtern der Betrachter spiegelte. Das Leuchten, die Helligkeit. Und schließlich sei allen deutlich gewesen: Was wir sehen, ist tatsächlich da. Schon machten sich die ersten auf den Weg, um dem Lichtphänomen näher zu kommen. Die anderen folgten. Bald war das notdürftige Lager abgebrochen und das Volk war auf dem Weg durch die Nacht. Die Wagemutigen eilten, und streckten die Hand aus, um das, was sie sahen, zu greifen. Doch so sehr sie sich mühten: Immer habe das Licht die gleiche Distanz gehalten. Es gab kein Näher und Ferner. Es gab für alle nur ein gleich nah und gleich fern zu dieser Säule aus Feuer. So, erzählt man sich, habe es begonnen: Das Volk Israel habe Führung erfahren, dort in Etam. Es war aufgebrochen auf das Wort dessen hin, der es rief. Und der, dem es gefolgt war, war nun da, um ihm die Nacht hell zu machen und den Weg zu weisen.

Und er blieb. Es ist einer der schönen Sätze über die Gegenwart Gottes: Die Feuersäule wollte nicht mehr weichen. Sie ging nicht mehr weg. Sie harrte aus bei denen in der Dunkelheit. Sie hielt aus. Filigran und machtvoll in einem zeichnete sie sich - nun für alle sichtbar - vor dem Horizont ab, lodernd in Glut und in sich ruhend zugleich. Ein Zeichen der Gegenwart Gottes? Mehr als ein Zeichen! Gottes Gegenwart selbst!

 

Heute Nacht werden auch wir ein neues Land betreten, werden die Linie überqueren. Wenn alle Glückwünsche gesprochen, alle Böller gezündet und das Gläserklingen verstummt ist, dann werden wir wohl einen Moment lang für uns alleine stehen unter dem dunklen Himmel. Dann wollen wir hinhören, ob nicht auch wir vernehmen, wie er uns ruft. Und wir wollen ihn bitten, dass er zu uns kommt. Sichtbar und spürbar. Dass er bei uns bleibt, wie die Feuersäule damals beim Volk Israel. Die niemals wich, bei Tag nicht und bei Nacht nicht. So soll seine Gegenwart auch von uns nicht weichen. Mag sein, wir wissen nicht, wohin es gehen soll. Mag sein, manchem von uns ist beklommen zu Mute, weil er ahnt, dass ihn die Zukunft führt, wohin er nicht will. Aber an einem dürfen wir festhalten: Er ist da, er, der uns ruft. Er ist da, er geht uns voran und er bleibt. Er weicht nicht von unserer Seite.

Darauf wollen wir vertrauen. Und dass er dazu unseren Glauben stärke, darum wollen wir ihn bitten. Heute, morgen und an jedem Tag, der kommt.



Pfarrer Ulrich Pohl
Neuss
E-Mail: Ulrich.Pohl@EKiR.de

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