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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

Sexagesimae, 04.02.2018

Einfluss durch Schwachheit
Predigt zu 2. Korinther 12:1-10 , verfasst von Sabrina Müller

Paulus in der Rolle des Narren

18 Da viele sich rühmen nach dem Fleisch, will ich mich auch rühmen.

23 Sie sind Diener Christi? Ich rede wider alle Vernunft: Ich bin's weit mehr! Ich habe mehr gearbeitet, ich bin öfter gefangen gewesen, ich habe mehr Schläge erlitten, ich bin oft in Todesnöten gewesen.

24 Von Juden habe ich fünfmal erhalten vierzig Geißelhiebe weniger einen;

25 ich bin dreimal mit Stöcken geschlagen, einmal gesteinigt worden; dreimal habe ich Schiffbruch erlitten, einen Tag und eine Nacht trieb ich auf dem tiefen Meer.

26 Ich bin oft gereist, ich bin in Gefahr gewesen durch Flüsse, in Gefahr unter Räubern, in Gefahr von meinem Volk, in Gefahr von Heiden, in Gefahr in Städten, in Gefahr in Wüsten, in Gefahr auf dem Meer, in Gefahr unter falschen Brüdern;

27 in Mühe und Arbeit, in viel Wachen, in Hunger und Durst, in viel Fasten, in Frost und Blöße;

28 und außer all dem noch das, was täglich auf mich einstürmt, die Sorge für alle Gemeinden.

29 Wer ist schwach, und ich werde nicht schwach? Wer wird zu Fall gebracht, und ich brenne nicht?

30 Wenn ich mich denn rühmen soll, will ich mich meiner Schwachheit rühmen.

 

Offenbarungen des Herrn und die Schwachheit des Paulus

1 Gerühmt muss werden; wenn es auch nichts nützt, so will ich doch kommen auf die Erscheinungen und Offenbarungen des Herrn.

2 Ich kenne einen Menschen in Christus; vor vierzehn Jahren – ist er im Leib gewesen? Ich weiß es nicht; oder ist er außer dem Leib gewesen? Ich weiß es nicht; Gott weiß es –, da wurde derselbe entrückt bis in den dritten Himmel.

3 Und ich kenne denselben Menschen – ob er im Leib oder außer dem Leib gewesen ist, weiß ich nicht; Gott weiß es –,

4 der wurde entrückt in das Paradies und hörte unaussprechliche Worte, die kein Mensch sagen kann.

5 Für denselben will ich mich rühmen; für mich selbst aber will ich mich nicht rühmen, außer meiner Schwachheit.

6 Denn wenn ich mich rühmen wollte, wäre ich kein Narr; denn ich würde die Wahrheit sagen. Ich enthalte mich aber dessen, damit nicht jemand mich höher achte, als er an mir sieht oder von mir hört.

7 Und damit ich mich wegen der hohen Offenbarungen nicht überhebe, ist mir gegeben ein Pfahl ins Fleisch, nämlich des Satans Engel, der mich mit Fäusten schlagen soll, damit ich mich nicht überhebe.

8 Seinetwegen habe ich dreimal zum Herrn gefleht, dass er von mir weiche.

9 Und er hat zu mir gesagt: Lass dir an meiner Gnade genügen; denn meine Kraft vollendet sich in der Schwachheit. Darum will ich mich am allerliebsten rühmen meiner Schwachheit, auf dass die Kraft Christi bei mir wohne.

10 Darum bin ich guten Mutes in Schwachheit, in Misshandlungen, in Nöten, in Verfolgungen und Ängsten um Christi willen; denn wenn ich schwach bin, so bin ich stark.

 

 

 

Das Fitnessstudio um die Ecke wirbt mit Plakaten von durchtrainierten 60-Jährigen, die aussehen wie 30-Jährige. Das Spital in der Gegend entlässt jemanden nach einer Leistenbruchoperation am selben Tag und eine Mutter mit ihrem Neugeborgenen binnen 48 Stunden. Eine Grippe sollte nicht mehr als einen Tag dauern und der Trauerprozess nach einem Todesfall nicht mehr als einen Monat. Kaum ein Foto wird mehr gepostet ohne dass es mit dem entsprechenden App so retuschiert wurde, dass die Haut samtweich, der Po knackig hoch und die Augen gross sind. Die Helden und Heldinnen der Gegenwart sind sportliche, erfolgreiche und immer gut gelaunte Influencer, die auf Instagram und Twitter tausende von Followers beeinflussen. Da wird kaum eine Schwäche sichtbar, ausser man gönnt sich ein Eis, fotografiert es und nennt es Sünde.

Schwäche, Versagen, Elend, psychische und physische Not gehören nicht zur aktuellen Lebenskonzeption. Die spätmoderne, westliche Gesellschaft zeichnet sich nicht durch besondere Fehlerfreundlichkeit und Empathie für Schwachheit aus. Jung, stark, erfolgreich, sportlich, gutaussehend und immer fröhlich, so sehen die Gewinnerinnen und Gewinner unserer Gesellschaft aus.

Paulus steht im 2. Korintherbrief auch Influencern gegenüber. Diese religiösen Influencer beeinflussen die korinthische Gemeinde. Sie schwingen beeindruckende Reden und rühmen sich grosser religiöser Erlebnisse und Visionen. Sie fühlen sich Paulus überlegen und betonen, dass sie grössere Wunder- und Krafttaten auszuüben vermögen. Paulus steigt mit ironischen Worten nun in das Format dieser Selbstlobesreden seiner Gegner ein. Deshalb wird 2. Kor 11,18.23b-30;12,1-10 auch als Narrenrede bezeichnet.

Paulus nutzt das Format der Selbstlobesrede, um seine apostolische Qualifikation aufzuzeigen. Nur dass er da, wo seine Lesenden einen Bericht seiner Zeichen, Wunder und Offenbarung erwarten, von seinen Leidens-, Krankheits- und Defiziterfahrungen erzählt. Paulus wird damit wohl alle überrascht haben, denn anstelle ausserordentlicher Stärke und Vollmachtserweise zählt er Schwachheitserfahrungen auf. Für seine Gegner mag das lächerlich und für die korinthische Gemeinde komisch geklungen haben. Aber für Paulus liegt genau darin die Berechtigung und Rechtfertigung seiner apostolischen Existenz, die eben den gekreuzigten Christus zum Zentrum hat. Wie in seiner Aufzählung von Not und Leid im Kapitel 11 steht auch im Kp 12, 1-10 nicht die Himmelsreise im Zentrum, sondern seine Krankheit und Schwachheit. Paulus spricht zwar von seiner Gottesoffenbarung, darauf haben die Korinther und die Gegner gewartet. Denn das zeichnet jemanden als richtigen Apostel aus. Ein richtiger spiritueller Influencer, zur Zeit der Korinther, hat zumindest ein paar ekstatische Erlebnisse zu berichten! Warum sollen ihm die Leute sonst folgen? Heute haben die wirklich erfolgreichen Influencer entweder gute Fitness- und Ernährungstipps oder wissen wo, wie und mit wem man die erlebnisreichsten, schönsten und besten Reisen unternehmen kann.

Paulus nimmt nun seine Rolle als Influencer wahr und spricht von seiner Himmelsreise. Allerdings erzählt er seine Erfahrungen in der dritten Person, obwohl allen klar ist, dass er sich selbst damit meint. «Bis in den dritten Himmel», da wo nach damaliger Tradition das Paradies zu finden war, bis dahin war diese Person gereist. Und da «hörte [er] unaussprechliche Worte, die kein Mensch sagen kann.» War es einem Menschen unmöglich diese Worte weiterzugeben? Hatte er ein göttliches Schweigegebot bekommen? Paulus erzählt nicht mehr über diese Reise, es bleibt bei unkonkreten Schilderungen. In der ganzen Erzählung sind seine Vorbehalte spürbar, denn diese Erfahrung bringt bestenfalls ihm persönlich etwas, nützt jedoch niemandem sonst, auch nicht der Gemeinde. Solche Erfahrungen sollen nicht zur Steigerung des persönlichen Ansehens dienen. Keine ekstatischen oder pneumatischen Erfahrungen machen den wahren Apostel aus, sondern alleine die Berufung durch Christus (Vgl. 2 Kor 4,6). Insbesondere gehört für Paulus Schwachheit, Not und Leiden genuin zum apostolischen Dienst.

 

Darin ist auch die Zuspitzung von Paulus Darstellung zu finden. Der Spannungsaufbau liegt in seiner Kontrastierung von Hoheit und Schwachheit. Paulus eröffnet seinen Adressatinnen und Adressaten einen neuen hermeneutischen Horizont für das Wirken Gottes (Vgl. Gäckle, 2005). Gerade in der Schwachheit (wenn auch nicht ausschließlich in ihr) kann und will sich Gott als wirksam und heilvoll erweisen. Dies spricht Paulus, der Versagen und physische und psychische Schwachheit persönlich erlebt hat, der Gemeinde in Korinth zu. Er kennt die Sorgen, Zweifel und Nöte der Gemeindeglieder.

 

Das Verständnis von Schwachheit, das man bei Influencern auf social Media findet, ähnelt dem der Stoiker damals: Schwachheit ist ein Mangel. Mangel an positivem Denken, an Disziplin, an innerer Abwehrkraft. Jeder ist seines Glückes eigener Schmied. Heute, wo für den modernen Menschen fast alles machbar ist, wird Schwachheit so weit wie möglich ausgemerzt. Darin wird ersichtlich, welche Aktualität die Narrenrede des Paulus auch heute hat. Paulus fordert keine Überwindung der Schwachheit, denn gerade in ihr vollendet sich die Kraft Christi, darin wird Gnade erlebbar. Nicht nur für ihn, sondern für jede Christin und jeden Christen. Trotzdem ist es auch verständlich, wenn Paulus über seine Leiden klagt und um Linderung des Schmerzes bittet. Und wenn seine Bitten unerwidert bleiben, so mindert das in keiner Weise seine apostolische Autorität. Christliche Existenz zeigt sich nicht darin, dass Leiden abgenommen werden. Deshalb ändert Paulus nun die Argumentationslinie. Er wird vom Influencer zu einem Anti-Influencer. Er erzählt die Himmelsreise nur, um auf seine Schwachheit hinzuweisen. Theologisch gibt er dieser eine neue Bedeutung. Keine Schwäche und keine äusseren Grenzen sind ein Hindernis um im Dienst Gottes zu stehen. Paulus weist weg von sich und hin zu Gott.

Dies galt nicht nur damals. Es kann auch ein Korrektiv für heute sein. Indem im Zeitalter der Influencer, der schönen, fitten und immer jungen Menschen der Text auf den Wert der Schwachheit hinweist.

 

Gerade in Menschen, die Schwachheit und Zerbrechlichkeit zulassen und nicht versuchen den Schein vollkommener Makellosigkeit zu wahren, stecken starke Persönlichkeiten. In solchen Personen kann sich Gottes Wirken entfalten. Denn gerade die «schwachen» Anteile im Menschen, seien es Traurigkeit, Ohnmachtsgefühle oder Versagen, können zu Offenbarungsorten werden, in denen sich Gottes Kraft und Wirksamkeit zeigt. Gott kommt nicht in der Aufhebung der Schwachheit zum Ziel, sondern durch die Schwachheit.

 

Deshalb plädiert Paulus für Toleranz und Respekt vor Schwachheit, vor dem, was nicht den gesellschaftlichen Werten und Normen entspricht. Sei das in anderen Menschen aber auch in einem selbst. Paulus setzt sich diakonisch und seelsorgerlich für Menschen in Schwachheit und Not ein und fordert dazu auf, dies auch in Korinth so zu handhaben. Sein Engagement gründet in seiner persönlichen Erfahrung von Begrenztheit und in seiner Erfahrung, dass die Kraft Christi durch die Schwachheit wirksam wird.

Amen.



Pfrn. Dr. Sabrina Müller
Bubikon, Zürich, Schweiz
E-Mail: sabrina.mueller3@uzh.ch

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