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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

Estomihi, 03.02.2008

Predigt zu Lukas 18:31-43, verfasst von Arne Simonsen

            Noch sehen wir in einem Spiegel, in einem Rätsel...
            Es war so dunkel für die Jünger, was er ihnen erzählt hatte.
            Er hatte ein Bild des Leidens und des Todes gezeichnet, und sie verstanden es nicht. Es war nicht das Bild, das sie vor sich sahen. Sie sahen etwas ganz Andres: ein Bild des Glücks - aber das, wovon er sprach, war dunkel und düster.
            Dass er auch von Auferstehung am dritten Tage gesprochen hatte - sie hörten es nicht. Nur die Worte über Leiden und Tod standen da - erschreckend und unverständlich.
            Siehe, wir gehen hinauf nach Jerusalem.
            Vor langer Zeit hatte man von Jerusalem als dem Ort gesprochen, wo alle Träume und Sehnsüchte einmal ihre Erfüllung finden sollten. Jerusalem war der Ort, wo eine lange Reise, voller Leiden und Mühen und Umwälzungen, ihr endliches Ziel erreichen sollte. Hier sollten sich einmal alle Völker versammeln und vereinen.
            So hatte man Jahrtausende lang geträumt.
            Siehe, wir gehen hinauf nach Jerusalem.
            Und er sprach jetzt von Leiden und Sterben - er allein. Nur er. Und warum?
            Sie wollten nichts davon hören, die Jünger.
            Sie hatten ihre Träume, wie diese Reise für sie enden sollte.
            Auch wir haben unsre Träume, wie unsre Lebensreise sein soll.
            Und spricht jemand davon, dass er sterben wird - so wird sein Nächster ihm oft widersprechen und seine Worte in den Wind schlagen. Der Tod ist das Fremde, das Grausame, das unsre Pläne zerstört, und wir schließen oft die Augen davor und versuchen, stattdessen etwas Andres zu sehen. Wir lassen uns durch unser Wunschdenken blenden und sehen oft das Leben nicht: wie es zu uns kommt.
            Die Jünger hatten einen Traum vom Glück - aber er sprach von etwas Andrem: er sprach von Tod. Für sie war es das Ende von allem...
            Noch sehen wir in einem Spiegel, in einem Rätsel...
So vieles im Leben, was rätselhaft wirken kann - völlig undurchschaubar.
            Krankheit kann uns treffen und alles verändern. Alle Träume können in wenigen Augenblicken vor unsren Augen zerstört am Boden liegen - und wir versuchen dann, durch all das Treibgut hindurchzusehen - hin zu einem Sinn in dem Ganzen.
            Hiob rief anklagend zu Gott um eine Erklärung für alle seine Leiden, für alles, was er an Unglück und Prüfungen zu bestehen hatte.
            Hiobs Klage kennen viele. Überall lautet sie aus Millionen Kehlen - entweder in stiller Verzweiflung oder wie ein Schrei des Protests und des Zorns.
            Was ist der Sinn all dessen, was wir durchzumachen haben?
            Warum so viel Unglück?
            Träume zerstieben so leicht.
            Das Bild, das wir vom Leben und voneinander haben, entspricht nie der Wirklichkeit. Die Wirklichkeit ist die Probe aller Dinge. Hier werden wir vorgeladen. Von wem? Von Gott selbst?
            Ja, von Gott selbst, glaube ich.
            Da ist so viel, was wir bei uns selbst nicht durchschauen können.
            Ein jeder Mensch kommt mit verborgenen Befehlen zur Welt  - schreibt Sören Kierkegaard.
            In jedem von uns sind Muster gelegt - Muster, die mit der Zeit deutlicher werden, und vielleicht können wir sie eines Tages deutlich sehen. Sehen wir zurück, wird da ein Leben mit vielen verschiedenen Ereignissen und Erlebnissen sein - und langsam entseht dein Bild, vielleicht - und das Bild wird vieles von dem enthalten, was wir nicht verstanden. Aber es ist Zeit dazu nötig.

            Noch sehen wir in einem Spiegel, in einem Rätsel...
            Auch der blinde Bettler am Tor nach Jericho muss es gedacht haben.
            So ein hartes Schicksal, so aussichtslos: so grausam war das Leben gegen ihn gewesen. So viele, die dasselbe Schicksal wie er haben, auch heute.
            Ihre blinden Augen starren auf eine Welt hinaus, die an ihnen vorbeieilt und sie nicht sieht.
            Wir sehen - und doch sehen wir nichts.
            Wir haben unsre Ziele - und wir können nicht alles umfassen: Etwas müssen wir liegen lassen, so verteidigen wir uns - aber zugleich wissen wir auch irgendwo in unserem Innern, dass das nicht wahr ist.
           
            Siehe, wie gehen hinauf nach Jerusalem.
            Die Jünger sahen nichts - nur ihre eigenen Ziele und Träume.
            Sie wanderten hinauf - mit dem Blick auf das Paradies gerichtet.
            Die ewige Wanderung hinauf.
            Sie sahen die Welt nicht, die sie umgab.
            So kann die Welt alle Bedeutung verlieren für Menschen, die sich nur nach der Vollendung im Paradies, im Himmel sehnen.
            Sie sehen sich weg von der Erde und all ihrem Unheil und Leiden - hin in eine andre Welt. Das Leben existiert überhaupt nicht mehr für sie.
            Sie sind Pilger in der Welt - auf der Reise zu einem andren und größeren Ziel.
            Siehe, wir gehen hinauf nach Jerusalem.
            Sie sahen die Liebe nicht, die nahe an ihrer Seite ging.
            Die Liebe, die ihr Leben opfert, um allen das Leben zurück zu geben.
            Die Liebe, die nicht das Ihre sucht.
            Die Liebe, die alles erträgt, alles glaubt, alles hofft, alles duldet.
            Die Liebe, die nie aufhört.

            Sie sahen nur hinauf - und versuchten, ihr Bild von dem Glück festzuhalten, das sie erwartete.
            Aber sein Wort von Leiden und Tod saß in ihnen wie eine bohrende Unruhe und wie Zweifel. Und die Wirklichkeit drängt sich nun auf: in einem Ruf um Hilfe von einem Menschen in Not.
            Der blinde Bettler dort drüben am Tor rief Jesu Namen mit lauter Stimme.
            Er rief nicht nur um Hilfe. Er rief einen Namen - und fügte hinzu: Sohn Davids!
            Er wusste, wer es war. Davids Sohn ist nur einer - er, von dem die Propheten so lange gesprochen hatten und der nun gekommen war.
            Der blinde Bettler "sah" alles vor sich - die lange Wanderung war zuende, nicht nur für ihn, sondern für alle.
            Erbarme dich meiner! - rief er. Dieser Ruf ist der Ruf von Millionen Menschen - es ist der Ruf: nicht um Sinn, sondern um Liebe. Es ist der Ruf, nicht seinem eigenen grausamen Schicksal überlassen zu werden.
            Siehe, wir gehen hinauf nach Jerusalem!
            Die Jünger - und alle andern - hatten keinen Platz für Unterbrechungen. Es ging jetzt um die großen Visionen. Es gab keinen Platz für störende Rufe vom Wegesrand.
            So hat der Idealismus immer das konkrete Leben im Stich gelassen und es oft verachtet und viele Menschenleben auf seinem Altar geopfert.
            Der blinde Bettler sah, was alle andren nicht sehen konnten.
            Sie sahen und sahen - und sahen doch nichts.
            Noch sehen wir in einem Spiegel, in einem Rätsel, dann aber von Angesicht zu Angesicht.
           
Der blinde Bettler stand von Angesicht zu Angesicht vor Jesus, das wusste er.
            Davids Sohn! - nannte er ihn. Da war nichts Rätselhaftes mehr.
            Hier war die Wahrheit - und er griff nach ihr.
            Sie versuchten, ihn zum Schweigen zu bringen.
            Wie die Jünger einst den Frauen gedroht hatten, die mit ihren kleinen Kindern zu Jesus gekommen waren, damit er sie berühre - so drohten sie wieder diesem Bettler. Sie glaubten zu wissen, worum es ging - und trafen selbst die Entscheidung.
            Sie sahen nichts - sie sahen nur hinauf, und sie sahen nur ihre eigenen Träume.
            Sie gingen eng an der Seite von Davids Sohn - und sie sahen es nicht.
            Sie sahen nicht, was er wollte: Eine Liebe, die sich nichts einbildet - die nicht das Ihre sucht und alles duldet, alles glaubt, alles hofft, alles enthält.
           
So sind wir blind füreinander. Wir sehen ein Bild - unser eigenes Bild - von einem Andern und nicht den wirklichen Menschen.
            Das Bild der Jünger von Jesus war ihr eigenes - Sie sahen ihn nicht. Noch nicht.
            Noch sehen wir in einem Spiegel, in einem Rätsel, dann aber von Angesicht zu Angesicht.
            Aber der blinde Bettler "sah" ihn.
            Deshalb rief er - wie wir um Hilfe rufen müssen, wenn es um uns selbst geht und es ein Kampf auf Leben und Tod ist. Das ist das echte Gebet - nicht in feinen Sätzen geformt und in geborgener Umgebung, sondern es entsteht dort, wo das Leben bedroht ist.
            Das ist das nackte Gebet: Erbarme dich meiner, Herr!

            Der Blinde fürchtete, nicht gesehen zu werden.
            Er wurde erst - nicht als er seine Sehfähigkeit erhielt - sondern als er gesehen und voll erkannt wurde.
            Von Angesicht zu Angesicht mit der Liebe selbst.
            Nur in dem Angesicht können wir die Wahrheit über uns selbst voll und ganz erkennen - weil wir schon voll und ganz erkannt sind.
            Zeig mir dein Angesicht, ehe alles vorbei ist,
            dann sind wir beide nahe.
                                   (Benny Andersen)

            Durch den blinden Bettler kam alles zum Stehen.
            Der Sohn Davids - auf dem Wege, das Werk Gottes mit seinem gesamten Schöpferwerk zu vollenden - hielt inne bei diesem Ruf um Hilfe von einem Menschen in Not, der gesehen wurde und sich gesehen fühlte.
            In dem Augenblick war er kein elender Bettler mehr, sondern ein begnadeter Mensch: Begnadet durch einen lieben Blick.
            Was willst du, dass ich für dich tun soll?
           
- als ob es nicht für alle völlig offensichtlich war, nicht zuletzt für Jesus selbst.
            Aber er soll es selbst sagen - es soll von ihm selbst kommen: Jesus will ihm von Angesicht zu Angesicht begegnen: als ein redender Mensch mit einer Bitte um Liebe.
            Die Begegnung ist bereits geschehen: Er ist gesehen worden, der blinde Bettler - aber zu dieser Begegnung gehört auch, dass man sein Herz öffnen und sagen soll, was es an Gebet und Verlangen in sich birgt.
            Wenn die Liebenden bloß aufgehört haben, einander von ihrer gegenseitigen Liebe zu erzählen: Du weißt doch, dass ich dich innigst liebe - das brauche ich doch nicht zu sagen! - dann wissen wir, dass die Liebe in Bedrängnis ist.
            So auch mit dem Gebet: Immer ist es konkret - denn sonst ist es gar kein Gebet. Im Gebet treten wir vor Gott hin: von Angesicht zu Angesicht - und in dem Glauben, dass wir erhört werden.
            Von Angesicht zu Angesicht mit Gott selbst: Er kennt uns voll und ganz - und darin bekommen wir eine neue Sicht und ein neues Ziel, das wir verfolgen. Das Himmlische und das Irdische, das Größte und das Kleinste, das Ferne und das Nahe fügen sich zueinander.
            Das ist die wahre Liebe,
            Die das Ziel kennt und den Weg,
            und doch Halt macht, wenn sie sieht
            ihres Nächsten Not, ihres Bruders Weh.





Pastor Arne Simonsen
Silkeborg (Dänemark)
E-Mail: asi(a)km.dk

Bemerkung:
Übersetzung aus dem Dänischen: Dietrich Harbsmeier


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