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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

Gründonnerstag, 29.03.2018

Gedanken zu Judas - Ansprache am 29. März 2018 (Gründonnerstag)
Predigt zu Matthäus :, verfasst von Sibylle Rolf

Gedanken zu Judas

 

Christuskirche Oftersheim

 

Liebe Gemeinde,

Er sitzt gemeinsam mit den Freunden um den Tisch. Einer wird mich verraten... die Worte klingen in mir nach. Judas steht auf und geht. Vor meinem inneren Auge entsteht ein Bild. Gebückt schleicht er weg, mitten in der Nacht zu den Hohenpriestern und Autoritäten, um seinen Lohn zu kassieren. Er reibt sich die Hände, die Augen etwas schräg gestellt, ein Mensch, dem man nicht vertrauen kann. – Aber stimmt das eigentlich?

Der Name „Judas“ steht für den heimtückischen Menschen schlechthin. So heißt es im Deutschen Wörterbuch der Gebrüder Grimm von 1877. Bis heute ist es nicht erlaubt, seinem Kind den Namen Judas zu geben, und auch wenn es sich inzwischen ein bisschen abgenutzt hat – „Judas“ war lange ein Synonym für den geldgierigen Betrüger, der seinen Freund für einen „Judas-Lohn“ verrät. Was löst der Name in Ihnen aus? Wie stellen Sie sich Judas vor? Und was wissen wir überhaupt von ihm?

In den Evangelien ist Judas eine schillernde Figur. Für manche Erzählstränge ist er vom Teufel besessen, irregeleitet und nicht Herr seiner selbst. Für andere ist er eher eine tragische Gestalt, ein Freiheitskämpfer, der an Jesus und seinem Friedenswillen irre wird und ihn schließlich verrät, vielleicht in der verzweifelten Meinung, so endlich das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit herbeiführen zu können. Für manche ist Judas gar ein Werkzeug des Heils für die Welt, weil die Kreuzigung ohne ihn gar nicht hätte stattfinden können. Wer ist Judas? Ich kann ihn nicht fassen, zu viele Gesichter und Motive werden mir präsentiert.

In der Auslegungsgeschichte hat sich die Deutung von Judas als Verräter durchgesetzt und sich über viele Jahrhunderte mit einem Antijudaismus verbunden. Judas wurde der verräterische Jude schlechthin. Ich bin dankbar, dass Theologie und Kirche im 20. Jahrhundert begonnen haben, diese Auslegungen kritisch zu hinterfragen und aufzuarbeiten. Es wird Zeit, sich dieser Person der Passionsgeschichte unbefangen zu nähern.

Wir wissen nicht viel über den historischen Judas. In den Evangelien ist er einer der Zwölf, bis zum Schluss. Ausdrücklich wird sein Name in allen Jüngerlisten genannt. Als Mitglied dieses Kreises nahm er am letzten Abendmahl teil. Möglicherweise war er Mitglied einer messianischen Sekte, den Sikariern, den Trägern eines kleines Dolches. Diese Gruppe wollte die römische Besatzung beendet und das Land Israel den Juden zurückgeben und die Römer vertreiben. Judas wäre ein politischer Aktivist. Darauf verweist sein Beiname, der aber nicht ganz zweifelsfrei historisch zu belegen ist. Iskariot könnte auch auf seine Herkunft verweisen – der Mann aus Kariot. Das ist ein Ort, der außerhalb von Galiläa liegt. Judas käme dann nicht wie die anderen Jünger aus der Gegend um den See Genezareth und wäre auch kein Fischer. Vielleicht konnte er, anders als die meisten anderen, lesen und schreiben.

Die Evangelien berichten übereinstimmend, dass Judas Jesus im Garten Gethsemane an seine Feinde, die römischen und jüdischen Autoritäten auslieferte. Hier ergibt sich aber ein Fragezeichen, denn die Reich-Gottes-Verkündigung Jesu war keine Geheimbotschaft, die nur einem erlesenen Kreis zuteil wurde. Stets haben Jesus und die 12 die Öffentlichkeit gesucht oder zumindest nicht gemieden. Es brauchte eigentlich niemanden, der ihn verrät. Was hat Judas dazu getrieben, es dennoch zu tun?

Alle Evangelien sind sich außerdem einig, dass Jesus um den Verrat weiß und auch den Verräter kennt. Einer unter euch wird mich verraten. Im Johannes-Evangelium fordert er Judas sogar auf, bald zu tun, was er zu tun habe. Judas führt die Verhaftung herbei, und doch bleibt Jesus souverän und liefert sich aus. Er behält in allen Evangelien die Fäden in der Hand, indem er sich aktiv stellt und seine Passion bewusst auf sich nimmt. Braucht es Judas als den Verräter überhaupt? Und ist es wirklich ein Verrat, wenn der Verratene so souverän bleibt? An keiner Stelle wird Jesus unterlegen gezeichnet. Er stellt sich seinem Schicksal, schaut den Soldaten ins Gesicht.

Musste es also alles so kommen, und war Judas ein notwendiger Spieler in diesem Gefüge? Hat Jesus ihn auf eine ganz besondere Weise gebraucht, um seinen Weg zu gehen? Hat Judas gar mit dem Einverständnis Jesu diesen ausgeliefert? Dann wäre etwas von ihm verlangt worden, das über Menschenkräfte eigentlich hinausgeht: er hätte den ausgeliefert, den er von Herzen liebte und dem er als bester Freund verbunden war. Ist Judas der heimliche Held der Passionsgeschichte? Der Verbündete Gottes in seinem großen Heilsplan? Hätte ohne Judas die Kreuzigung zum Heil der Welt gar nicht stattfinden können?

 

Wir werden diese Fragen nicht abschließend klären können. Ich weiß selbst keine Antwort darauf, warum Judas zum Verräter und dann auch zum Selbstmörder werden musste und warum die Festnahme nicht auch ohne ihn hätte stattfinden können. Ich sehe: die Berichte in den Evangelien sind nicht daran interessiert, die Beweggründe des Judas zu erhellen. Ich finde es berührend, wie er in allen Apostellisten der Evangelien genannt wird. Es ist keine Polemik zu spüren. Er gehört dazu, weil sich mit ihm und seiner Tat Gottes Heilsplan verwirklicht. Es geht nicht darum, mit dem Finger auf Judas zu zeigen und ihn zu diffamieren. Es geht vielmehr darum auszudrücken, dass Jesus uns in seinem Leben und Sterben zeigt, wie Gott für uns sein will. Dass er sich ausliefert und sich hingibt. Dass er nicht zurückschlägt. Dass er den Schmerz erträgt, den andere auf ihn richten und an ihm auslassen. Judas wird zum Bild. Ebenso wie die anderen Figuren der Passionsgeschichte.

 

In den Passionserzählungen sehen wir in unsere menschlichen Abgründe. Wir sehen Lüge und Verrat, Verleugnung und Schuld. Wir sehen, wie einer ans Kreuz kommt, der keine Schuld trägt, nur damit alle anderen ihre Ruhe haben. Damit wird Judas zum Spiegel meiner eigenen Seele. Es ist sicher kein Zufall, dass sie alle, einer nach dem anderen fragen: bin ich es, der dich verrät? Sie alle halten es berechtigterweise für möglich. Und wenn wir ehrlich sind: wer von uns ist davor gefeit, einen Verrat zu begehen, wenn wir eine persönliche Enttäuschung oder Verletzung spüren? Wenn unsere Grenzen überschritten werden und wir nicht mehr ein und aus wissen?

Die Figuren in der Passionsgeschichte zeigen mir vor allem eines: wie schwer es ist, am Vertrauen zu Gott festzuhalten. Petrus verleugnet seinen Herrn, weil er nicht glauben kann, dass er heil davon kommt. Und Judas provoziert die Verhaftung, weil er nicht glauben kann, dass das Reich Gottes ganz ohne Gewalt kommt. Beiden fällt es schwer, die Kontrolle abzugeben und sich dem Geschehen zu überlassen, in einfachem Vertrauen, dass Gott alles zu einem guten Ende führen wird. Und vermutlich geht es den anderen aus dem Jüngerkreis ebenso. Sie alle fliehen, weil sie den Schmerz, die Ungewissheit, die Angst oder die Niederlage nicht aushalten.

Und trotzdem erhalten sie alle einen Platz am Tisch Jesu und werden alle mit einem Stück Brot und einem Schluck Wein gespeist. Damit erhalten sie Anteil an Jesus selbst, der ausgehalten hat bis zum Schluss – und am Ende durch den Tod ins Leben geht.

Die Geschichte von Judas geht unversöhnt zu Ende. Matthäus berichtet von seiner Reue. Er trägt seine 30 Silberlinge zu den Hohenpriestern zurück. Die aber nehmen seine Reue nicht an. Er bleibt mit seiner Schuld alleine und richtet sich selbst. Das ist eine harte und kalte Seite, ein erschreckender Aspekt der Passionsgeschichte. Judas, wie nahe auch immer er Jesus gestanden haben mag, was auch immer seine Rolle in dem großen Drama gewesen sein mag – er findet in diesem Leben keinen Frieden. Das ist fast nicht auszuhalten. Eine Perspektive gibt mir nur die Auferstehung Jesu Christi. Mit ihr steht jedes menschliche Leben, mit all seinen Abgründen, mit seinem Gelingen und Scheitern, im Horizont der Liebe und der Barmherzigkeit Gottes. Das gibt mir die Hoffnung, dass auch Judas Frieden finden kann, selbst wenn er ihn sich selbst versagt. Dieser Friede deutet sich für mich schon in der Erzählung des Abendmahls an, das zum Zeichen für das große himmlische Festmahl wird, in dem alle versöhnt mit Gott um einen Tisch sitzen. Der Verrat bleibt bestehen, durch den Schmerz und den Tod müssen wir hindurch – aber das wird nicht das letzte bleiben. Nicht das letzte Wort über Judas und über niemandem von uns. Nicht das letzte Wort über unserer Welt mit ihren zahllosen Verrätern, die ihre Werte, ihre Freunde und sich selbst immer wieder verraten und gar nicht anders können als wider besseres Wissen auszuliefern, was sie lieben.

Das ist meine Hoffnung. Jedes Leben steht im Horizont der Liebe und Barmherzigkeit Gottes. Jedes Gelingen und Scheitern ist von diesem Horizont umfangen. Und selbst dort, wo wir uns nicht gnädig sein können und uns unbarmherzig richten wollen, werden wir umfangen von Gottes Liebe und Gnade, die sich uns am Gründonnerstag in diesem Stück Brot und diesem Schluck Wein geschenkt hat. Schmecket und sehet, wie freundlich unser Gott ist. Wohl dem, der auf ihn traut! Amen.



Pfarrerin Apl. Prof. Dr. Sibylle Rolf
Oftersheim, Deutschland
E-Mail: sibylle.rolf@kbz.ekiba.de

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