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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

Estomihi, 03.02.2008

Predigt zu 1. Korinther 3:16-23, verfasst von Konrad Stock

„Wisset ihr nicht, daß ihr Gottes Tempel seid und der Geist Gottes in euch wohnt? Wenn jemand den Tempel Gottes verdirbt, den wird Gott verderben; denn der Tempel Gottes ist heilig; der seid ihr.

Niemand betrüge sich selbst. Welcher sich unter euch dünkt, weise zu sein, der werde ein Narr, auf daß er möge weise sein. Denn dieser Welt Weisheit ist Torheit bei Gott. Denn es steht geschrieben: ‘Die Weisen erhascht er in ihrer Klugheit' (Hiob 5,13), und abermals: ‘Der Herr weiß der Weisen Gedanken, daß sie nichtig sind' (Ps 94,11). Darum rühme sich niemand eines Menschen; denn es ist alles euer: es sei Paulus oder Apollos oder Kephas, es sei Welt oder Leben oder Tod, es sei Gegenwärtiges oder Zukünftiges, alles ist euer, ihr aber seid Christi, Christus aber ist Gottes." (1Kor 3, 16-23)

 

                                                                 I

Lang war dieser Brief unterwegs. Daß er bei uns angekommen ist, grenzt an ein Wunder. Paulus schrieb ihn in Kleinasien, im Gebiet der heutigen Türkei. Von dort nach Korinth war es in antiken Zeiten ein weiter und gefährlicher Weg - sei es zu Lande, sei zu Wasser. Ein Bote konnte leicht überfallen und ausgeraubt und totgeschlagen werden, oder ein Schiff konnte kentern und mit Mann und Maus untergehen. Immerhin: dieser Brief - übrigens ein Stück aus einer größeren Korrespondenz - erreichte seine Adressaten. Aber daß er nicht nur seine Adressaten damals, sondern auch uns heute und hier erreicht, ist keineswegs selbstverständlich. Anders als andere Briefe aus antiker Zeit fiel dieser Brief keinem Brand zum Opfer, keinem Aufstand, keinem Krieg, keiner Völkerwanderung. Er überstand die Vandalen und die Araber und die Mongolen. Er wurde von Generation zu Generation abgeschrieben und verfielfältigt, gedruckt und ausgelegt als eine der wichtigsten und tiefsten Urkunden aus der Anfangszeit unseres Glaubens. Inzwischen ist er in Millionen und Milliarden von Bibeln und in Hunderten und Tausenden von Sprachen und Dialekten verbreitet. Viel gekauft. Wenig gelesen. Und verstanden?

 

                                                               II

In diesem ersten Brief des Paulus an die Gemeinde Gottes zu Korinth geht es um viele einzelne Themen eines bewußten christlichen Lebens; es geht um die vielen alltäglichen Situationen, in denen sich das Leben in der Gewißheit des Glaubens abspielt. Vor allem aber geht es um die einheitliche Linie oder den einheitlichen Gedanken, der unsere Handlungen und unsere Haltungen in den vielen alltäglichen Situationen zusammenbindet. Es geht um die Richtung eines Glaubenslebens. Und es geht hier deshalb um die bestimmte christliche Richtung eines ganzen Lebens, weil wir Menschen alle einer Richtung unseres ganzen Lebens bedürftig sind.

Nun verdanken wir die Richtung eines ganzen Lebens der religiösen Überzeugung, der Gewißheit eines Glaubens. Solcher religiöser Überzeugungen und solcher Glaubensgewißheiten gibt es viele. Welche Richtung eines ganzen Lebens verdanken wir dem Glauben an Gott den Vater, den Allmächtigen, den Schöpfer des Himmels und der Erde, und an Jesus Christus, seinen eingeborenen Sohn, unsern Herrn, und an den Heiligen Geist, den Geist des Vaters und des Sohnes? Und wie wirkt sich diese Richtung eines ganzen Lebens im Alltag aus - wohltuend, heilsam, hilfreich, befreiend?

 

                                                                  III

Für die Richtung unseres ganzen Lebens, die wir dem Glauben an Gott den Vater und den Sohn und den Heiligen Geist verdanken, gibt es viele Namen, viele Bilder, viele Begriffe, viele Geschichten, viele Lieder. In diesem ersten Brief des Paulus an die Gemeinde Gottes zu Korinth lesen wir für diese Richtung unseres ganzen Lebens ein geheimnisvolles Bild und einen tiefen Grundgedanken:

„Wisset ihr nicht, daß ihr Gottes Tempel seid und der Geist Gottes in euch wohnt? Wenn jemand den Tempel Gottes verdirbt, den wird Gott verderben, denn der Tempel Gottes ist heilig; der seid ihr."

Wir verstehen auf Anhieb die stillschweigende, die scharfe Kritik - aber noch nicht die Bedeutung, das Nein - aber noch nicht das Ja. Wenn das wahr ist, daß ihr Gottes Tempel seid - das Heiligtum, der heilige Ort der Zuflucht, des Gebets und der Gabe, dann gibt es Tempel, Heiligtümer, heilige Orte in heiligen Städten höchstens noch in einem abgeleiteten, in einem instrumentellen Sinne. Kein Parthenon auf der Akropolis zu Athen, kein Tempel in der heiligen Stadt Jerusalem, keine Kaaba in Mekka, kein Petersdom in Rom, kein Jakobsweg, keine Olympischen Spiele in Peking, keine Börse in New York, kein Silbener Bär in Berlin, kein Nobelpreis für Chemie oder Physik oder Literatur  - nur die Gemeinde Gottes zu Korinth und wer sich mit ihr bis auf diesen heutigen Tag in Gemeinschaft weiß, ist Gottes Tempel. Ein Tempel, an dem Gott selbst baut nach seinem Plan, den nur Gott kennt. Ein Tempel, nicht aus Stein und Eisen, sondern aus lebendigen, aus freien, aus selbstbewußten Wesen. Ein Tempel, der nicht an einem wohlbestimmten Orte steht, sondern der sich in der Zeit und in der Geschichte bewegt, der groß und weit wird und viele Einzelne zu einem Ganzen integriert. Nicht durch eine großartige physikalische Statik zusammengehalten, sondern durch die Gemeinschaft lebendiger, freier, selbstbewußter und sich selbst bestimmender Wesen.

Wie kommt diese Gemeinschaft lebendiger, freier, selbstbewußter und sich selbst bestimmender Wesen zustande? Warum ist es so wichtig, daß es sie gibt? Wie wie wirkt sie sich im Alltag unseres Lebens aus? Wenn diese Fragen unsere Fragen sind, wenn wir die Antwort auf diese Fragen suchen wollen und wissen wollen, wenn wir einer Richtung unseres Lebens bedürftig sind, dann sind wir auf dem Wege, die Bedeutung dieses geheimnisvollen Bildes und dieses tiefen Grundgedankens zu verstehen.

     

                                                                 IV

Gemeinschaft zwischen lebendigen, freien, selbstbewußten und sich selbst bestimmenden Wesen? Wir wissen alle aus eigener Erfahrung, wenn wir nicht die Augen zumachen und blinde Kuh spielen, daß das ein Problem ist. Gemeinschaft beruht nämlich auf gemeinsamem Verstehen. Wer den Sinn und die Richtung und die Perspektive seines Lebens mit anderen teilen kann, der ist fähig, Gemeinschaft zu praktizieren und auszuhalten. Er ist - mit Paulus gesprochen - fähig, weise zu sein. Aber wir wissen alle aus eigener Erfahrung, daß es dieses Weise-Sein nicht von Anfang an gibt. Was es von Anfang an gibt, ist der Streit, ist der Kampf, ist der Konflikt. Es ist der Konflikt zwischen Männern und Frauen in der ehelichen Gemeinschaft um die dominierende Rolle. Es ist der Konflikt zwischen Geschwistern um die Liebe und die Anerkennung der Eltern. Es ist der Konflikt zwischen den sozialen Klassen und Schichten um ihren Anteil am gesellschaftlichen Wohlstand. Es ist der Konflikt zwischen den Staaten um Macht und Einfluß im Verhältnis zwischen den Staaten. Und es ist schließlich der Konflikt zwischen den Weltanschauungen in unserer Gegenwart - zwischen der ernsten und inbrünstigen Gottesliebe in den Klöstern und der Propaganda eines Gotteswahns. Und zuletzt ist es der Konflikt in der Geschichte des Christentums selbst, zwischen den Kirchen und den Konfessionen und vor allem der schreckliche und zerstörerische Konflikt zwischen der christlichen und der jüdischen Glaubensgemeinschaft. Wir kommen alle her von solchen Konflikten, und wer ehrlich ist, wird sich eingestehen, daß auch das eigene Leben von solchen Konfikten gezeichnet ist.

Wie lassen sich diese Konflikte alle lösen und vielleicht sogar aufs Ganze überwinden? Lassen sie sich überhaupt lösen und überwinden, oder sind sie nicht unser unabänderliches Schicksal, liegen sie uns nicht im Blut, wie kluge Leute behaupten?  

Antwort des Paulus: „Niemand betrüge sich selbst. Welcher sich unter euch dünkt, weise zu sein in dieser Welt, der werde ein Narr, auf daß er möge weise sein."

In seinem ersten Brief an die Gemeinde Gottes zu Korinth praktiziert Paulus - wie die Bibel insgesamt - eine Psychoanalyse avant la lettre. Er sucht auf seine Art diesen Konflikten auf die Spur zu kommen. Und was er in ihrem Grunde findet, das ist Täuschung, Wahn, Lug und Trug: Wahn, Wahn, überall Wahn, wie es in Wagners Meistersingern heißt. Alle diese Konflikte - so gibt uns Paulus zu bedenken -, alle diese Konflikte beruhen auf einer Selbsttäuschung; sie sind Symptome einer eingebildeten Welt, einer großen Illusion. Es ist eine große Illusion, die uns Menschen voneinander trennt und die uns in die kleinen alltäglichen wie in die großen geschichtlichen Konflikte treibt.  

Ich rede von der Täuschung, vom Wahn, von der Illusion des Sich-Rühmens oder ganz einfach des Groß-Sein-Wollens. „Wir sind wieder wer." „We are the champions". „Wir sind Papst". Wir sind Weltmeister: im Fußball (jedenfalls im Frauenfußball), oder im Export; oder wir wollen Weltmeister werden und bleiben. Wir - jedenfalls Menschen unseresgleichen - streben nach der Weltherrschaft wie Alexander der Große oder wie das Rom der Kaiser, wie Dschingis Khan oder wie Napoleon oder wie Hitler. Wir - jedenfalls Menschen unseresgleichen - verbreiten die Weltrevolution. Wir - jedenfalls Menschen unseresgleichen - lösen wie Ernst Haeckel die „Welträtsel" und wir machen dieses Buch und andere Bücher dieses Schlages zu Bestsellern. Wir - jedenfalls Menschen unseresgleichen - erforschen das Weltall und wetteifern darum, als die ersten auf dem Mond oder auf dem Mars zu landen. Das ist - die Bibel kann auch sehr ironisch sein - unsere Weisheit, die Weisheit dieser Welt, die Weisheit, die alles können und alles wissen und alles besiegen will und die sich dafür sogar auf einen Gott dieser Welt, auf einen Fürsten dieser Welt beruft. Und wo dieser Welt Weisheit zur Wirkung und zur Dominanz gelangt, da ist es jedenfalls nichts mit dem Tempel Gottes, nichts mit der Gemeinschaft lebendiger, freier, selbstbewußter, sich selbst bestimmender Wesen, nichts mit Gottes Heiligtum auf dieser Erde und in dieser Zeit. Dieser Welt Weisheit ist buchstäblich asozial.

 

                                                                V

Und nun ist es doch so, daß uns diese biblische Psychoanalyse nicht ganz fremd und nicht ganz unbekannt ist. Wir reden nicht wie Blinde von der Farbe. Wir sind dem menschlichen Hang zum Selbstbetrug, zur Selbsttäuschung, zur Lebenslüge nicht mehr völlig ausgeliefert. Denn wir sind dessen gewiß geworden, daß der Gott Israels, der schöpferische Grund aller Realität, diesen Hang zum Selbstbetrug, zur Selbsttäuschung, zur Lebenslüge unwirksam gemacht hat. Gott macht dieser Welt Weisheit zur Torheit. Gott offenbart die Torheit dieser Weisheit, ihren Unsinn und Schwachsinn. Gott macht die Selbstbetrüger, die Selbsttäuscher, die Lebenslügner zum Narren, und zwar damit, daß er ihnen in der Rolle eines Narren erscheint. Gott erscheint ihnen in der Rolle eines Narren, um ihnen wahre Größe zu zeigen: wahre Größe kann sich beugen, wahre Größe beugt sich herunter, wahre Größe macht sich verantwortlich. Das ist der Schlüsselgedanke des Paulus und überhaupt die Quintessenz der biblischen Gotteserkenntnis.

In diesem Geheimnis hat unser Glaube seinen Grund. Und an diesem Geheimnis haben wir Anteil, wenn wir und indem wir immer wieder zu seinem Ursprung zurückkehren. Und wir kehren immer wieder zu seinem Ursprung zurück, wenn wir uns in die Gedankenwelt der Weihnachtslieder und der Passionslieder versenken und wenn wir uns von ihnen berühren und erschütten lassen.

„Er ist auf Erden kommen arm, / daß er unser sich erbarm / und in dem Himmel mache reich / und seinen lieben Engeln gleich. / Kyrieleis." (EG 23,5)

Oder: „Er äußert sich all seiner G'walt, / wird niedrig und gering / und nimmt an eines Knechts Gestalt, / der Schöpfer aller Ding." (EG 27,3)

Oder: „O Welt, sieh hier dein Leben / am Stamm des Kreuzes schweben, / dein Heil sinkt in den Tod. / Der große Fürst der Ehren läßt willig sich beschweren / mit Schlägen, Hohn und großem Spott." (EG 84, 1).

So haben die Dichter der Glaubensgemeinschaft die Narrenrolle Gottes zur Sprache gebracht: die Torheit, und das heißt geradezu die Dummheit, mit der Gott dieser Welt Weisheit begegnet. Und die Denker der Glaubensgemeinschaft suchen diesen Gedanken in einen Begriff zu fassen und ringen dafür um Worte, etwa indem sie fragen: Wie kann Gott in seiner unsichtbaren, ewigen, allmächtigen Gottheit im Sichtbaren, im Zeitlichen, im Endlichen erscheinen, also in unserem Fleisch und Blut?

Antwort des Paulus: Gott erscheint uns in seiner unsichtbaren, ewigen, allmächtigen Gottheit im Kreuz. Und dieses Kreuz ist beileibe nicht nur jener grauenhafte Marterpfahl auf Golgatha, sondern dieses Kreuz ist ein Mensch - ein Mensch wie wir, und doch ein Mensch, der auf das Groß-Sein-Wollen verzichtet. Die Größe dieses Menschen zeigt sich darin, daß er sich beugt. Als der gebeugte Mensch, wie ihn die Kreuzwegdarstellungen zeigen, sucht er die Gemeinschaft mit allen, die gebeugt sind. Seine Suche nach Gemeinschaft mit denen, die gebeugt sind, ist - der Weisheit dieser Welt zum Trotz - das Bild des wahren und darum des guten Lebens.

 

                                                               VI

Was bedeutet das für unseren Alltag? Was ist das für eine Lebensrichtung, die sich auf dieses Kreuz im Alltag gründet? Was ist das für ein Leben, das sich jeden Sonntag, den Gott werden läßt, auf dieses Fundament einer Gemeinschaft freier, selbstbewußter und sich selbst bestimmender Wesen zurückbesinnt? Sich des Evangeliums von Gottes Größe in seiner Suche nach Gemeinschaft mit allen, die gebeugt sind, erinnert?

Der Briefschreiber Paulus faßt diese Lebensrichtung in einen kühnen Satz zusammen:

„..alles ist euer, ihr aber seid Christi, Christus aber ist Gottes."

Er will offenbar sagen: aus dem Verzicht auf das Groß-Sein-Wollen, aus dieser Lebensbasis, erwächst eine großartige Freiheit.

Alles ist euer. Das heißt: Wer auf das Groß-Sein-Wollen zu verzichten lernt, ist fähig dazu, Konflikte in den Ehen und in den Familien zu schlichten.

Alles ist euer. Das heißt: nimm deine politische Verantwortung wahr und kümmere dich darum, wie wir hierzulande und in der weiten Welt die Konflikte zwischen den sozialen Klassen und Schichten, zwischen furchtbarer Armut und riesigem Reichtum lösen können.

Alles ist euer. Das heißt: wirke mit deinem Wissen und mit deinem Können, mit deinem Beruf und mit deinen Interessen auf den Frieden im Verhältnis zwischen den Staaten hin.

Alles ist euer. Das heißt: suche das Gespräch mit den Kritikern der Religion und begib dich ruhig in den Streit mit den Lesern Ludwig Feuerbachs oder Friedrich Nietzsches oder Sigmund Freuds.

Alles ist euer. Das heißt: stelle dir die Frage, warum es eigentlich keine sichtbare Einheit zwischen den getrennten Kirchen und Konfessionen gibt und woher das kommt.

Alles ist euer. Das heißt: erinnere dich an die entsetzlichen Verfolgungen der jüdischen Glaubensgemeinschaft in der Geschichte und halte fest an der Idee eines Volkes Gottes auf dieser Erde.

Alles ist euer. Das heißt: denke daran, daß die Künste und ganz besonders die Musik eine unvergleichliche Sprache des Glaubens sind.

Alles ist euer. Der große Kirchenlehrer Augustin sagte es so: Liebe, und tu, was du willst.

Amen.

 



Prof. Dr. Konrad Stock

E-Mail: konrad_stock@freenet.de

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