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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

Pfingstmontag, 21.05.2018

Geistliche Ruckrede
Predigt zu Epheser 4:11-15, verfasst von Wolfgang Vögele

Friedensgruß

Der Predigttext für diesen Pfingstmontag steht Eph 4,11-15:

„Und er selbst gab den Heiligen die einen als Apostel, andere als Propheten, andere als Evangelisten, andere als Hirten und Lehrer, damit die Heiligen zugerüstet werden zum Werk des Dienstes. Dadurch soll der Leib Christi erbaut werden, bis wir alle hingelangen zur Einheit des Glaubens und der Erkenntnis des Sohnes Gottes, zum vollendeten Menschen, zum vollen Maß der Fülle Christi, damit wir nicht mehr unmündig seien und uns von jedem Wind einer Lehre bewegen und umhertreiben lassen durch das trügerische Würfeln der Menschen, mit dem sie uns arglistig verführen. Lasst uns aber wahrhaftig sein in der Liebe und wachsen in allen Stücken zu dem hin, der das Haupt ist, Christus.“

Liebe Schwestern und Brüder,

der Pfingstmontag ist verschrien als der harmloseste aller Feiertage des Kirchenjahres. Aus der Gemeinde erscheinen nur die Treuesten der Treuen, der Kirchendiener seufzt, weil er keinen freien Tag nehmen kann. Predigerinnen und Prediger rühren eine Mischung aus Harmlosigkeiten an: Sie binden einen geistlichen Strauß aus christlichen Tugenden, schönem Wetter und frisch gepflückten Frühlingsblumen. Wie bei einem Blumenstrauß fügen sie noch ein kleines weißes Tütchen hinzu. Der Gärtner empfiehlt, das Pulver zum Vasenwasser hinzuzugeben. Für Prediger enthält es einige unverbindliche Worte über den heiligen Geist, die sie der Gemeinde zögerlich zum geistlichen Wachstum empfehlen. So halten die Pfingstrosen länger.

Liebe Schwestern und Brüder, wie viele andere Christen bin auch ich beunruhigt über die bleierne Harmlosigkeit, die in vielen Gemeinden, kirchlichen Gremien und klerikalen Funktionärsetagen verbreitet sind. Ich beobachte, wie es sich engagierte Christen, aber noch mehr die Funktionäre der Kirche bequem machen in einem dicken Schaumstoffbett aus Fatalismus, Angstlust und Unbeweglichkeit. Keine Kritik von außen oder innen kann ihr etwas anhaben, weil man sich in den Schneckenhäusern der bürokratischen Kirche so schön verstecken kann. Im Jargon heißt das: Profil und Konzentration oder auch: Prioritätenplanung und Ressourceneinsatz. Engagement, Kritik, Gemeindeaufbau sind weithin zur Pose erstarrt; jede Reforminitiative läuft sich leer in bedenkentragenden Gremien, Ausschüssen und Kommissionen. An die Stelle von Entscheidungen sind endlose Diskussionen getreten, mit trockenem Streuselkuchen, dünnem Kaffee und einem Batiktuch als gestalteter Mitte. Ehren- wie hauptamtliche Mitarbeiter sind chronisch überarbeitet, und oft dauert die Terminfindung länger als die Sitzung selbst. Man gefällt sich darin, „wertschätzende“ Kritik zu üben, angebliche „Milieusensibilität“ zu demonstrieren und jede neue Idee bis zur Unkenntlichkeit zusammenzustutzen. Alle Gremienarbeiter sind auf eine bestimmte Rolle festgelegt, und selbst der Kritiker kirchlicher Verhältnisse wird nicht mehr ernstgenommen. Man immunisiert sich gegen alle Kritik, indem man sie für selbstverständlich hält. Liebe Schwestern und Brüder, ich unterstelle Ihnen ein bleibendes Interesse an Glauben und Christentum, denn sonst wären Sie heute morgen nicht in den Gottesdienst gekommen. Dann aber stellt sich die Frage, wie man mit der kirchlichen Bürokratie umgehen soll.

Wahrscheinlich ist im Moment ein argentinischer Jesuit der protestantischste aller Bischöfe. Ich meine den gegenwärtigen Bischof von Rom, mit dem zuvor noch nie benutzten Papstnamen Franziskus. Mir ist bewußt, daß er in vielen Punkten am konservativen Dogma festhält. Aber ich bin auch der Meinung, daß er in den Weihnachtsansprachen an die Kurie in den letzten Jahren die besten Pfingstpredigten gehalten hat, die man sich als evangelischer Christ vorstellen kann. Weil er so unkonventionell handelt und redet, wird er theologisch unterschätzt. Denn diese Weihnachts-/Pfingstpredigten kamen als eindringliche Selbstkritik an kirchlicher Autorität daher. Dabei geißelte Franziskus mit scharfen Worten Bürokratie, Intrigantentum und Heuchelei der Kurie. Franziskus sagte: Es muß „die Praxis des promoveatur ut amoveatur unbedingt definitiv ad acta gelegt werden. Das ist ein Krebsgeschwür.“ Das lateinische Zitat meint: Die Sache wird weiter verwiesen, um nicht behandelt zu werden. Ins evangelische Kirchendeutsch übersetzt, bedeutet das: Was nicht verändert werden soll, macht man zum Gegenstand eines Reformprozesses (ecclesia semper reformanda). Hier soll gefragt werden, ob aus der katholischen Kritik des Papstes ein evangelischer Gewinn an Erbaulichkeit zu erzielen ist.  Denn Bürokratie, Mobbing und Pöstchenverteilen findet man auch in Konsistorien, Synoden und Kollegien, samt Schweigekartellen, einem Korpsgeist wie bei einer Burschenschaft, fehlender menschlicher Größe selbst bei den Würdenträgern der Kirchenleitung. Sie nehmen ihren seelsorglichen Auftrag nicht wahr, wenn es kirchenpolitisch nicht opportun ist. Das gilt selbst dann, wenn das seelsorgliche Gespräch zum in der Kirchenverfassung eigens hervorgehobenen Auftrag gehört. Auf den Bezirksebenen wiederholen sich die Konflikte aus der Zentrale auf banalerer Ebene. Ich erinnere mich noch gut an einen Rechtsanwalt, der im Gespräch mit einer Oberkirchenrätin sagte: Sie sind schlimmer als die katholische Kirche. Die Oberkirchenrätin war nicht einmal verblüfft, schon gar nicht beschämt.

Der Epheserbrief spricht von Aposteln, Propheten, Evangelisten, Hirten und Lehrern. Nota bene: Der Oberkirchenrat und die Konsistorialrätin kommen in dieser Reihe nicht vor. Im Reich Gottes wird es keine klerikalen Bürokraten geben. Wer dann mit den Engeln und Erzengeln die Stimme zum Lobpreis erheben soll und eingestehen muß, daß er nur intrigieren und Pöstchen an seine Freundinnen verteilen kann, der wird es bedauern, daß er seine Zeit mit Funktionärskabalen verschwendet und nicht beizeiten gelernt hat, im kirchenmusikalischen Gesangsunterricht Gott zu loben und zu preisen.

Im Inneren der Kirche herrscht ein klerikales Biedermeier, ein kitschiges christliches Kleingruppenbewußtsein, das man in einmütig eingeübter Verteidigungshaltung gegen sämtliche Blitzeinschläge der Wirklichkeit verteidigt. Im nachhaltigen Sitzungsmarathon der Synoden, Ausschüsse, Unterausschüsse, Konvente, Kommissionen, Gremien, Kollegien verflüchtigen sich Evangelium und Wirklichkeit. Kirchenrechtler wollen den Gemeinden weismachen, daß die kirchlich-bürokratische Praxis als bekenntnisgebundenes Recht ein Mittel zur Durchsetzung der Herrschaft Christi sei. De facto handelt es sich dabei um nichts anderes als den Versuch der klerikalen Zementierung eigener institutioneller Vorteile – bis an die Grenze der Rechtsbeugung. Jeder Arbeitnehmer und jeder Beamte hat mehr (Grund-)Rechte und Einflußmöglichkeiten in eigener Sache als ein kirchlicher Angestellter oder Pfarrer der evangelischen Kirche.

Liebe Schwestern und Brüder, ich will nicht jedem den guten Willen absprechen. Aber das furchtbar Schlimme ist: Diejenigen, die für dieses System stehen und es befürworten, wissen sehr genau um die Zustände in seinem Innern, auch wenn sie nicht gerne darüber reden. Aus dem Epheserbrief schlägt den Lesern und Predigthörern ein anderer Ton entgegen: Glauben tritt an die Stelle von klerikaler Bürokratie, Enthusiasmus an die Stelle von geistfernen Dauersitzungen, Liebe (sehr erstaunlich!) an die Stelle von Pöstchenverteilen, Korpsgeist und klerikaler Intrige. Die am Anfang erwähnten Pfingstrosenprediger stellen nun gern die Einheit der Kirche in den Vordergrund. Die angesprochene Einheit in Christus meint dann die Einheit des Kirchenvolks, jedoch in der devoten Befolgung konsistorialer Beschlüsse, Wegweisungen, Denkschriften und Vorgaben. Von dieser bevormundenden Einheit nehmen immer mehr Christenmenschen still und leise Abschied. Und zudem ist sie im Epheserbrief gar nicht gemeint.

Denn dort wird eine Balance von Einheit und Mündigkeit vertreten, wie sie in der kameralistischen Bevormundungstheologie der Oberkirchenräte gar nicht vorgesehen ist. Mündigkeit, wie sie im Epheserbrief gemeint ist, stellt sich als ein Produkt aus Glaube, Freiheit und Freimut dar. Von den Hintergedanken eines kirchlichen Team Building ist da überhaupt nichts zu spüren. Wer von mündigen Christen spricht, traut dem einzelnen Souveränität, Würde und Respekt vor anderen zu. Er muß sich nicht vorsichtig zwischen allen Stühlen klerikaler und egoistischer Interessen bewegen, sondern er kann unabhängig und ohne falsche Rücksichtnahmen seine Stimme erheben. Er schreckt nicht vor den Mächtigen zurück und genausowenig vor den Ängstlichen, die nicht den Mut haben, unangenehme Wahrheit auszusprechen. Genau darum gewinnt der Glaube an Jesus Christus seine ungeheure befreiende Kraft, weil er Gewissen, Persönlichkeit und Würde einzelner Menschen ernst nimmt, fördert, geradezu erst herstellt. Dem entsprechen Gemeinden, die nicht durch Klientelwirtschaft, Funktionärsinteressen oder den berüchtigten kirchlichen Strukturkonservatismus gefesselt sind.

Mündigkeit erwächst nicht aus Kirchenmitgliedschaft, sondern aus Glauben. Dieser ist zu verstehen als „Erkenntnis des Sohnes Gottes“, als Vertrauen in einen bestimmten Entwurf des Menschseins, der zu allen anderen Entwürfen des Menschseins im Kontrast steht. Die Gründe dafür sind in den Evangelien zu finden: Wie niemand sonst denkt Jesus von Nazareth Leben aus den Interessen und Bedürfnissen der Anderen. Und er denkt und predigt nicht nur so, er handelt auch danach. Wie niemand sonst versteht Jesus von Nazareth Leben und Wirklichkeit von Gott her. Er sieht das Leben aus der Perspektive Gottes. Beides – die Perspektive Gottes und die Perspektive der anderen - tritt an die Stelle des egoistischen Blickes auf die Welt. In ihm stehen eigene Interessen und Bedürfnisse an oberster Stelle. Jesus hat diesen doppelten Blickwechsel radikal zu Ende gedacht und ausgelebt. Es hat ihn sein Leben gekostet – am Kreuz. Viele glaubten danach, mit seinem Tod sei die Bewegung der Anhänger Jesu an ihr Ende gekommen.

Aber genau das Gegenteil davon hat die junge christliche Gemeinde erlebt. Im Geheimnis der Auferstehung wurde und wird sichtbar, daß sich Gott mit demjenigen vereint, der durch Leiden und Gewaltverzicht das Leben der Glaubenden verändert hat. Mündigkeit bedeutet: Aus dem Glauben, aus dem Leben Jesu, seinem Tod am Kreuz und seiner Auferstehung setzt sich ein Entwurf von Menschsein heraus, der bestimmt ist durch Mündigkeit und Unabhängigkeit, Freimut und Unerschrockenheit. Also eher die Whistleblower als die Parteisoldaten, eher die Revolutionäre als die Funktionäre, eher  die Gründer einer Bürgerinitiative als die Mitläufer, eher die Respektspersonen als die ängstlichen Pöstchenfesthalter, eher die Wohltäter, die Engagierten, die Unerschrockenen, die Unbeugsamen. Der Epheserbrief spricht vom „vollendeten Menschen“.

Zu Freiheit und Mündigkeit gehört das Bewußtsein, daß auch denjenigen, die vor der Freiheit des Glaubens nicht zurückschrecken, sondern sich mutig darauf einlassen, noch etwas zu ihrer Vollendung fehlt. Glaube ist keine Lebensversicherung. In der Welt herrschen, so der Epheserbrief, trügerisches Würfeln, arglistige Verführung und ein starker Wind, der bei ungünstigen Bedingungen jede Überzeugung des Glaubens wegbläst wie das Herbstlaub in den Garten des Nachbarn. Glaube ist der Wirklichkeit ausgesetzt, und manchmal bläst auch mündigen Christen der Wind frontal entgegen. Und zu anderen Gelegenheiten bedarf es eines Rucks, um nach einem K.O.-Treffer aufzustehen, sich zu berappeln und neu anzufangen. Politiker pflegen diesen Ruck selbst zu setzen. Es sei an die berühmte Rede des Bundespräsidenten Roman Herzog aus dem Jahr 1997 erinnert: „Durch Deutschland muss ein Ruck gehen. Wir müssen Abschied nehmen von liebgewordenen Besitzständen.“ Politik lebt von denjenigen Impulsen, die einzelne Politiker geben, von Roman Herzog über John F. Kennedy zu Barack Obama.

Im Glauben feuern sich Christen gerade nicht gegenseitig an. Das gegenseitige Anfeuern kann auch nützlich sein, ist aber im Glaubensfall nicht entscheidend. Der entscheidende „Ruck“ entspringt dem Leben, Sterben und Auferstehen Jesu Christi. Nur solchen Impulsen des Glaubens ist es zu verdanken, daß aus dem Christentum trotz politischer, historischer und sozialer Unwahrscheinlichkeiten eine Weltreligion wurde. Und der Pfingstmontag ist gerade der richtige Feiertag, um diesen geistlichen „Ruck“ zu bitten. Die Gemeinde bittet für sich und für andere um das Wehen des Heiligen Geistes, der sich von keiner Kirchenmauer und keinem Aktenregal behindern läßt.

Jesus Christus war kein Oberkirchenrat, kein klerikaler Apparatschik und kein synodaler Multifunktionär. Und es gilt auch das Umgekehrte: Kein Oberkirchenrat, kein klerikaler Apparatschik und kein synodaler Multifunktionär ist Jesus Christus. Keiner ist ein Heilsbringer. Um unseres Glaubens und Heiles, um unserer christlichen Mündigkeit willen ist das auch gut so.

Und der Friede Gottes, der höher ist als sämtliche Stapel von Aktendeckeln, Synodalbeschlüssen und kirchlichen Verlautbarungen, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.

 

Nachbemerkung:Unter dem folgenden Link findet sich die Kirchenkritik von Papst Franziskus, in deutscher Sprache: https://w2.vatican.va/content/francesco/de/speeches/2014/december/documents/papa-francesco_20141222_curia-romana.html.

Die Ruckrede von Roman Herzog ist hier zu finden: http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Roman-Herzog/Reden/1997/04/19970426_Rede.html.

Über das Verhältnis von Kirche, Kirchenleitung und Theologie habe ich mich ausführlicher auseinandergesetzt in folgendem Essay: Wolfgang Vögele, Das Abendmahl der Aktenordner. Bemerkungen zum Verhältnis von Theologie und Kirchenleitung, tà katoptrizómena. Magazin für Kunst, Kultur, Theologie, Ästhetik, H.90, 2014, http://www.theomag.de/90/wv12.htm

 

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Wolfgang Vögele, geboren 1962. Pfarrer der Evangelischen Landeskirche in Baden, Karlsruhe. Privatdozent für Systematische Theologie und Ethik an der Universität Heidelberg. Er bloggt über Theologie, Gemeinde und Predigt unter www.wolfgangvoegele.wordpress.com.

 

 



PD Dr. Wolfgang Vögele
Karlsruhe, Baden-Württemberg, Deutschland
E-Mail: wolfgangvoegele1@googlemail.com

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