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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

6. Sonntag nach Trinitatis, 08.07.2018

Predigt zu Matthäus 19:16-26; Röm 3, 23-28 (dänische Perikopenordnung), verfasst von Marianne Frank Larsen

In einem gewissen Alter, glaube ich, haben die meisten von uns die Erfahrung gemacht, dass wir einen anderen Menschen verlassen haben und bei uns selbst wussten, dass wir hätten bleiben sollen. Das kann ein kranker oder unglücklicher Mensch sein, mit dem man gesprochen hat – aber man hat ja nicht den ganzen Tag Zeit. Das kann ein alter oder geschwächter Mensch sein, den man besucht hat, aber irgendwann muss man ja weiter. Das kann ein Kind sein, für das man verantwortlich ist, aber da ist ja noch so viel anderes, was man zu tun hat. Das kann ein Mensch sein, den man geliebt hat, aber die Liebe dauert ja nicht ewig, und dann geht man. Und es gibt Tage, wo das, was man gegeben und getan hat, in Ordnung ist und ausreicht. Aber es gibt auch Tage, wo man sehr wohl weiß, wenn man aus der Tür geht, dass man einen anderen Menschen im Stich gelassen hat. Dass man mehr Zeit hätte opfern müssen, mehr Fürsorge, mehr Aufmerksamkeit, wenn man das Wohl und Wehe des anderen Menschen über das von einem selbst gestellt hätte. Dass man nicht seine Pflicht nicht erfüllt hat, wenn man sie am Maßstab der Liebe misst. Wenn nicht früher, so machen die meisten von uns diese Erfahrung, wenn wir Kinder bekommen und wenn unsere Eltern sehr alt werden.

 

 Der junge Mann im heutigen Evangelium hat keines von beidem, soweit wie wissen. Weder Kinder noch alte Eltern. Oder das Alter, dessen es vielleicht bedarf, um diese Erfahrung zu machen. Denn er kommt zu Jesus mit seiner Sehnsucht nach dem ewigen Leben. Wir könnten auch sagen: nach Gott, nach Fülle. Das ist der tiefste Grund in seinem Herzen, und Jesus nimmt denn auch seine Sehnsucht und seine Frage ernst und erklärt, das Gottes Sinn mit unserem Leben in den Geboten liegt. Aber da antwortet der junge Mann, dass er die alle gehalten hat. Hier finde ich, wirkt er sehr jung! Denn eines ist, dass man erklären kann, dass man weder gemordet, gestohlen, gelogen noch untreu gewesen ist. Aber man muss schon sehr jung und keck oder blauäugig sein, um zu sagen, dass man seinen Nächsten geliebt hat wie sich selbst. Dass man das Gebot der Nächstenliebe erfüllt hat. Das alles in Ordnung ist. Das ist schon ein starkes Stück! So redet man nur, wenn man noch nie von jemandem gegangen ist, der einen braucht – oder wenn man so von sich selbst eingenommen ist, dass man diese Erfahrung nie gemacht hat.

 

Deshalb macht Jesus deutlich, was es heißt, seinen Nächsten zu lieben. Willst du vollkommen sein, so gehe hin und verkaufe alles, was du hast und gib es den Armen, und komm dann und folge mir. Das ist kein neues Gebot neben all den anderen, was Jesus hier sagt. Es ist ganz einfach das, was es bedeutet, seinen Nächsten zu lieben wie sich selbst. Alles wegzugeben. Nicht weniger. Weil wir selbst alles geschenkt bekommen haben. Das ist die Voraussetzung. Dass wir selbst all die Zeit, alle die Kräfte, alle die Mittel und das ganze Leben, das wir dazu gebrauchen sollen, von dem guten Gott bekommen haben. Den ganzen Reichtum. Deshalb kann er fordern, dass wir das alles einander geben. Seinem Sohn nachfolgen und tun, was er tat, nichts für uns selbst behalten, sondern aus ganzem Herzen alles, was wir empfangen haben, für andere als uns selbst zu verwenden. Dass wir also nicht aus der Tür gehen, wenn die Stunde, die wir anberaumt hatten, vorbei ist. Sondern bleiben und alles geben, was der andere braucht. Nicht, weil es nicht gut wäre, eine Stunde für jemanden einzuplanen, dem es schlecht geht, denn eine Stunde macht vielleicht einen großen Unterschied. Aber das ist eben nicht Nächstenliebe. Dieses Wort kann man nie in den Mund nehmen über das, was man selbst leistet, wenn man erst verstanden hat, was in diesem Gebot tatsächlich liegt. Freundlichkeit und Fürsorge, aber nicht Nächstenliebe.

 

Und das ist es, was der junge Mann einsieht, als Jesus erklärt, was die vollkommene Liebe bedeutet. Dass er nicht vollkommen ist. Dass er seinen Nächsten in Wirklichkeit nicht geliebt hat wie sich selbst und dass er dazu auch nicht bereit ist. Nicht, wenn das bedeutet, dass er all das weggeben soll, was er besitzt und hat. Einer ist gut, sagt Jesus. Und das bin nicht ich, denkt der junge Mann jetzt – und geht betrübt davon. Wenn Gott das verlangt, ist es unmöglich für einen Menschen, diese Forderung zu erfüllen. Genauso unmöglich wie dass ein Kamel durch ein Nadelöhr geht. Mitten in der Traurigkeit ist dies ja ein wunderbares Bild! Es macht deutlich, wie unmöglich es für uns ist zu lieben, wie wir lieben sollen. Das ewige Leben, die Fülle und den Sinn des Ganzen, nach dem wir uns sehnen, können wir mit unserer Liebe nicht erlangen, denn sie reicht einfach nicht aus.

 

Wenn nun aber der junge Mann geblieben wäre anstatt betrübt fortzugehen, hätte er vielleicht dasselbe entdeckt wie ein anderer junger Mann in derselben Situation vor 500 Jahren. Luther erzählt in seiner Autobiographie, wie wütend er in seinen jungen Jahren auf Gott war. Wütend darüber, dass Gott uns mit seinen Geboten plagt, die wir nicht halten können, dass Gott gerecht ist und deshalb in seinem guten Recht, uns zu verurteilen und dafür zu strafen, dass wir die Gebote nicht halten. Wütend darüber, sich mit einem schlechten Gewissen und der Angst vor dem Zorn Gottes herumschlagen zu müssen, ganz gleich wie untadelig man lebt und wie sehr man sich bemüht, als Mönch im Kloster in Erfurt zu leben. Was Gott in seiner Gerechtigkeit verlangt, die vollkommene Liebe, kann der Mensch nie leisten. Er sagt es nicht laut, denn er ist ja Mönch und Priester und Professor der Theologie, aber er hasst Gott und seine Gerechtigkeit. 

 

Bis er so viel mit dem Römerbrief gearbeitet hat, dass er zu einer neuen und verblüffenden Einsicht gelangt. Aus dem Römerbrief haben wir heute auch einen Text gehört. Dass Gott seine Gerechtigkeit zeigt, sagt Paulus, indem er selbst gerecht ist und den gerecht macht, der an Jesus glaubt. Das ist der Kern! Dass die Gerechtigkeit Gottes keine Gerechtigkeit ist, die er in sich selbst hat, eine besondere Eigenschaft oder Qualität, die ihm das Recht gibt zu richten und zornig zu sein. Es ist vielmehr eine Gerechtigkeit, die darin besteht, dass er uns entgegenkommt und uns gerecht macht, Gerechtigkeit als Handlung, als Beziehung, als Gabe. Die Gerechtigkeit Gottes besteht darin, dass er uns seinen eigenen Sohn, sein Leben und seine vollkommene Liebe gibt und uns damit gerecht macht in dem Augenblick, wo wir daran glauben. Es besteht also ein himmelweiter Unterschied, ob Gerechtigkeit etwas ist, was Gott in sich selbst hat – oder etwas, das er gibt. Als es für Luther aufgeht, dass dies so zu verstehen ist, schreibt er, habe er sich gefühlt wie wenn er durch offene Tore direkt ins Paradies eingetreten wäre! Als sehe er nun plötzlich das wirkliche, freundliche Angesicht Gottes. Denn was für die Gerechtigkeit Gottes gilt, gilt auch von seiner Kraft, seinem Tun, seiner Weisheit, seinem heil, sagt Luther. Dies sind keine Eigenschaften, die Gott in sich selbst hat und für sich behält, es ist vielmehr die Kraft, durch die er uns stark macht, die Tat, die er an uns tut, die Weisheit, mit der er unsweise macht, das Heil, mit dem er uns erlöst. Alles ist Handlung, Beziehung, Gabe.

 

Wir meinen nämlich, dass ein Mensch gerecht wird aus Glauben, ohne Werke des Gesetzes. Das ist es, was Luther aufgeht, und darauf beruht die Reformation. Und das hätte der reiche Jüngling entdeckt, wenn er geblieben wäre anstatt zu gehen. Denn es ist sehr unmöglich für Menschen gerecht zu werden, das ewige Leben zu erlangen, das Heil zu erlangen, den Sinn und die Fülle und Gott zu finden, so wie ein Kamel nicht durch ein  Nadelöhr passt. Ganz gleich wie viele Gebote man einhält, ganz gleich wie viele Werke des Gesetzes man vollbringt, ganz gleich wie sehr man sich anstrengt, eine gute Mutter und Tochter und Ehefrau und Freundin und Kollegin und Arbeitskraft zu sein, es reicht nie aus. Bei Gott aber ist alles möglich. Das zu öffnen, was für uns verschlossen ist. Die Pforten des Paradieses. Alle unsere Gräber. Und das Nadelöhr. So können eingehen in das ewige Leben, oder hineinspringen, wie wir das singen. Einmal,  wenn alles vorbei ist – und heute, an einem schönen Sommertag. Verpflichtet dazu zu leben, geben und lieben als die, die wir sind: Geliebte Kinder des guten Gottes, schon gerecht aus seiner Gnade. Amen.



Pastorin Marianne Frank Larsen
Aarhus, Dänemark
E-Mail: mfl(at)km.dk

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