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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

10. Sonntag nach Trinitatis, 05.08.2018

Nicolaj’s Disput
Predigt zu Matthäus 11:16-24 (dänische Perikopenordnung), verfasst von Anders Kjærsig

Irgendwo draußen in der offenen Landschaft zwischen Korazin und Bethsaida hielt der gelehrte Philosoph Nicolaj eine Rede über die Lage des Menschen. Er begann mit dem berühmten Satz von   Protagoras: Der Mensch ist das Maß aller Dinge. Danach erzählte er weit und breit, wie man sich in einer Gesellschaft einrichten soll, wo es den meisten gut geht. Rom sollte eine Republik sein, das Volk sollte die Macht haben. Alle sollten eine Ausbildung mit Philosophie als Hauptfach erhalten. Die Kultur und das geistige Leben sollten brühen wie nie zuvor zum Besten der Menschheit. Die Religion sollte Privatsache sein ohne öffentliche und politische Einmischung, nur der Pax Romana verpflichtet.

Letzteres begründete Nicolaj damit, dass das, was der Mensch am meisten liebt, notwendigerweise der Mensch sein muss und nicht Gott, und da Rom das Beste für den Menschen will, darf keine religiöse Überzeugung dies in den Schatten stellen.

Während Nicolaj redete, erhob sich plötzlich ein alter armer Mann, unterbrach ihn und sagte:

Mein Name ist Leonard, und ich weiß, ich ein gewöhnlicher Sünder. Dennoch vertraue ich auf Gott. Ich tanze, wenn er spielt. Er liebt mich und beschützt mich und ist bei mir, wohin ich auch gehe. Er hat mir seinen Sohn gegeben, ein Mann wie ich, ein Ausgestoßener, der die Ausgestoßenen um sich versammelt. Ihm folge ich und nicht der Pax Romana. „Mit ihm leide ich, um auch mit ihm zur Herrlichkeit erhoben zu werden“ (Röm 8,17). Der Tag des Gerichts ist in guten Händen.

Die Römer und die Juden verhöhnten, quälten und schlugen ihn, jagten Nägel durch seine Hände und Füße, so dass das Blut floss – weil er Gott und die Menschen nicht liebte wie sie. Ehe er starb, sagte er zum Verbrecher am Kreuz: „Heute noch wirst du mit mir im Paradiese sein“. Der Verbrecher hätte ich sein können. Danach gab er seinen Geist auf, und da bebte die Erde und der Vorhang im Allerheiligsten zerriss in zwei Teile. Alle liefen weg, lauter Panik.

Die wenigsten verstanden, dass das Reich Gottes mit diesem Manne gekommen war in eine Welt von Gewalt, Ausbeutung, Angst und Furcht. Lahme gingen und Blinde sahen, Taube hörten und Aussätzige wurden rein, die Dämonen heulten vor Schreck und sprangen in den See und ertränkten sich, diese feigen Schweine. 

Leonard machte eine kleine Pause, und Nicolaj ergriff wieder das Wort – ein wenig erschüttert über die Intensität, mit der Leonard gesprochen hatte, aber dennoch an einem Dialog interessiert.

Lieber Leonard, ich bin ja doch froh darüber, dass du etwas gefunden hast, was deinem Leben Sinn gibt. Aber das geht nur dich selbst an, wenn du deinen Herren nennst. In Rom sind nicht alle Christen. Da sind Stoiker, Epikuräer, Kyniker, Juden und Anhänger von Mysterienreligionen, von Attis, Isis und Mitras. Christus ist nicht die einzige Wahrheit. Er ist nur einer unter vielen und nur relativ in Bezug auf die Pax Romana.

Leonard ergriff wieder das Wort: 

Keine Weltordnung und keine Auffassung vom Menschen sind stärker als Christus. Keine Prophetie und kein Prophet kann die Toten auferwecken und den Menschen Mut geben, in einer Welt ohne Ende zu leben. Kein Philosoph und keine Idee können nur einen Zipfel dieser Wahrheit erfassen. Der, der Herr ist über Himmel und Erde, wohnt nicht in Tempeln, die von Menschen gemacht sind. Er umschließt alles, jede kleine Zelle im Körper umfasst er. Er ist der Gott des Menschen, weil er als Gott Mensch wurde. Ihn bete ich an: Unser Vater, Unser Herr, Unser König, Unser Erlöser. Und nicht die Pax Romana oder das All, das Universum, den Kosmos, das Urfeuer, das Erste, Größte, Eine und Ganze. Das sind alles Abstraktionen, Gedankenspiele ohne wirklichen Schmerz, ohne Leib und Puls, wie Steintafeln und graphische Formeln und tote Buchstaben, weltfern, ohne Hoffnung und Träume – man kann danach nicht tanzen.

Nicolaj unterbricht ihn rasch ein wenig aggressiv:

Die Bibel besteht wohl ebenso aus toten Buchstaben wie alle möglichen anderen Bücher und Traktate. Und sie ist, soviel ich weiß, nicht weniger weltfremd. Auferstehung, ewiges Leben, die letzten Zeiten, Offenbarungen, Austreibung von Dämonen, Heilungen und alle möglichen Zeichen – das erscheint mir noch weltferner. Und was das Blut betrifft, Schmerz und Tod, dies ist doch jedem Autor bekannt, ganz gleich ob es sich um eine Dogmatik, eine Philosophie oder eine Ethik handelt, die sie schreiben.

Ich behaupte dagegen, dass eine Ethik und eine Auffassung vom Menschen, die keinen Gott braucht, weder seinen Sohn, seinen Geist noch sein Wort, viel wirklichkeitsnäher ist als die Aussagen der Evangelisten über diese Dinge.

Leonard sagt ruhig:

Du sollst nicht nur die anderen lieben wie dich selbst. Du sollst die anderen mehr lieben als du dich selbst liebst. Du sollst deinen Feind lieben, deinen Gegner, deinen Rivalen, du sollst den lieben, der dich verflucht und dich hasst. Wenn dein philosophisches System zusammenbricht, sollst du den lieben, der daran schuld ist. Wenn deine politische Idee zerfällt, sollst du die lieben, die an ihrem Fall schuld sind. Erweist sich deine Ethik als verfehlt, sollst du die lieben, die sie verachtet und nicht befolgt haben. Wenn die Leute den Balken in deinem Auge sehen, sollst du den Splitter in ihnen Augen sehen. Wenn sie dich verurteilen, sollst du sie nicht verurteilen. Du sollst ihnen vergeben, nachsichtig sein, die andere Backe hinhalten, wenn sie dich auf die eine schlagen. Du sollst langmütig sein und vergeben, Verfolgungen und Nöte ertragen – und dennoch lieben. 

Lieber Nicolaj, kannst du das niederschreiben in ein Buch und es zu einer Formel für dein menschliches Auftreten machen und wohlgemerkt dann danach leben? Kannst du eine Wirklichkeit planen, die das Unvorhersehbare berücksichtigt, das in der Begegnung mit einem anderen Menschen liegt? Das glaube ich nicht! 

Johannes, der aß und trank nicht, und man sagte: Er ist besessen. Der Menschsohn kam und aß und trank, und dieselben Menschen nannten ihn einen Fresser und Weinsäufer. Die Inkonsequenz kennt keine Grenzen.

Jede Philosophie, Ethik und Politik ist ja nur ein zwanghafter Versuch, sich zu einer zwischenmenschlichen Praxis zu systematisieren, die – ganz gleich wie großartig und umfassend sie ist – die Radikalität nie übertreffen kann, das Schaudern und die Erschütterung, die man in den Evangelien findet. Hier wird einem bange, weil man nicht genug lieben und sich nicht dadurch entschuldigen kann, dass man seine eigenen Ideen in Traktate einpackt. Das Wort Gottes bringt nämlich das Blut in Wallung, so dass wir nicht Systemen und Ideen verfallen, sondern stets eine Spalte zum anderen Menschen offen halten, als eine Wunde, die nie heilt. Wir können daran glauben, dass Gott unser Tun als Frucht eines guten Weinstocks gelten lässt, aber wir können den Weinstuck nie selbst pflanzen und zum Wachsen bringen.

Nicolaj: 

Man braucht doch nicht Gott als Vermittler in das Verhältnis zwischen den Menschen einzusetzen. Warum nicht die Menschen selbst sich ohne Gott begegnen lassen? Warum nicht eine Gesellschaft bauen, wo wir das der Bibel entnehmen, was dem zwischenmenschlichen Beziehungen dient, und den Rest auf sich beruhen lassen?

Leonard:

Der Glaube an Gott ist eine Erfahrung, dass man geliebt ist. Diese Erfahrung bringt die Handlungen hervor, die dem Nächsten dienen. Man soll nicht Herr, Herr rufen, sondern man soll den Willen meines himmlischen Vaters tun.

Nicolaj:

Das ist möglich, aber dazu ein anderes Mal. Nun möchte ich mit meiner Rede fortfahren. Ob du an das glaubst, was ich sage, ist deine Sache. Hauptsache, du schweigst.

Leonard:

Amen.



Pastor Anders Kjærsig
Odense, Dänemark
E-Mail: anderskjaersig(at)hotmail.com

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