Göttinger Predigten

Choose your language:
deutsch English español
português dansk

Startseite

Aktuelle Predigten

Archiv

Besondere Gelegenheiten

Suche

Links

Konzeption

Unsere Autoren weltweit

Kontakt
ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

11. Sonntag nach Trinitatis, 12.08.2018

Predigt zu Lukas 7:36-50 (dänische Perikopenordnung), verfasst von Leise Christensen

Dies pflegt die Zeit im Jahr zu sein, wo wir uns mit großen Problemen beschäftigen wie z.B. die Konkurrenz um die größten Tomaten, die Wassertemperatur und die Ernteaussichten. Werden unsere Bauern auch in diesem Jahr eine positive Enttäuschung erleben, wie dies der Vorsitzende des dänischen Bauernverbandes einmal ausgedrückt hat, als die Ernte riesig war, aber dennoch etwas geringer als man vorausgesagt hatte, es hatte nämlich ein wenig während der Ernte geregnet. Die Enttäuschung war positiv. Ja, schön wäre es, wenn wir uns auch in diesem Jahr mit diesen nahen Sommerthemen und guten Enttäuschungen beschäftigen könnten. Aber nein, wir hören heute von Sünde und von Schwierigkeiten. Ach ja, das Sündenregister der Menschen ist lang und umfangreich – ich nennen nur ein paar Themen: Krieg, Terror, Unterdrückung, Unfreiheit, Versagen, Gier und tausend andere Dinge. Was soll da nun helfen, von einem einzelnen Sünder zu hören oder gar einer Sünderin, die vor 2000 Jahren unmotiviert im Nahen Osten bei einem Mittagessen auftaucht, wo es auch damals nicht ganz friedlich zuging? Wo ist die Relevanz, wo ist der Trost für uns heute? Danach müssen wir fragen. Denn das heutige Evangelium betrifft den innersten Nerv des christlichen Glaubens. Es geht um Sünde und Vergebung, Schlüsselbegriffe oder buzzwords, wie es heute so schön heißt, im Christentum. In der Tradition ist die namenlose Sünderin im Hause von Simon dem Pharisäer einer der leichtlebigen Straßenmädchen – ja es wäre wohl mehr zutreffend, sie eine verkommene Frau zu nennen, also eine Prostituierte. Aber davon steht nichts im Text, und deshalb nehme ich an, dass sie eine Steuerbetrügerin war oder vielleicht eine Konkursschwindlerin oder etwas anderes, was sie in der Gesellschaft zu einer Aussätzigen machte – oder heute machen würde. Aber nicht nur deshalb wird sie eine Sünderin genannt. Dies wird sie, weil sie an der Sünde teilhat wie wir alle (also abgesehen vom Pharisäer Simon – jedenfalls, wenn man ihn selbst fragt). Hier werden viele so langsam kalte Füße kriegen. Müssen wir uns das nun wieder anhören? Sollen wir nun wieder beschwert von einem schlechten Sündenbewusstsein herumlaufen und über alles Mögliche ein schlechtes Gewissen haben? Nun glaubten wir gerade, dass wir moderne Menschen von diesem negativen Gerede befreit hätten und freie Menschen geworden wären, die in ihrem eigenen Leben das sagen haben. Vor einiger Zeit las ich einen Zeitungsartikel von einem, dessen Namen ich leider nicht behalten habe, dessen Artikel aber sehr interessant war. Er war bekennender Atheist, schrieb aber von seinem Neid auf die Auffassung vom Dasein, die im christlichen Glauben enthalten ist – eben wegen der Rede von der Sünde, an der wir alle teilhaben. Er hatte ansonsten lange die Autorität der Sünde als eine Destruktion der natürlichen und rechtmäßigen Entfaltungsmöglichkeiten des Menschen verstanden. Die Sünde, hatte er im Grunde lange gemeint, stand der freien Entfaltung des Menschen im Wege und warf ihn in eine Art Sklavendasein zurück. Und so denken wohl viele über diese Sache. In den Zeiten, wo die Sünde für viele Menschen im Leben eine Realität war, wusste man, dass das perfekte Menschenleben – das schön abgerundete Dasein – nicht zu erlangen war, weil die Sünde immer ihre hässliche Fratze zeigte und so bewirkte, dass immer irgendetwas im Wege stand und die Dinge in Unordnung brachte. Damit musste man sich gleichsam abfinden. Das Unvollkommene war schlechterdings Teil des Pakets, ein Mensch zu sein. Das lässt man sich aber heute nicht gefallen! Und das hat großen Schmerz und groß6e Einsamkeit zur Folge, behaupten der Autor des Artikels – und ich auch. Das Unvollkommene wird als ein menschlicher Fehler angesehen oder als ein unerfüllte Parameter – und als etwas, für dessen Ausbesserung der einzelne Mensch selbst verantwortlich ist. Diese durchaus verbreitete Auffassung, dass die Ideale stets in der Reichweite des sich selbst helfenden Individuums sind, ist wohl die größte Last und Tragödie unserer Zeit, weil sie den Einzelnen eben enorm verletzbar und einsam zurücklässt. Wenn man nicht imstande ist, sein Leben und seine Möglichkeiten zu optimieren, was ist man dann? Wer ist man dann? In den eigenen Augen jedenfalls eine missglückte Existenz. Viele von uns kämpfen einen täglichen Kampf mit eigenen Idealvorstellungen über Kindererziehung, Gesundheit, Karriere, Freundschaft, Gewicht, Partnerschaft und Verbrauch, und wenn wir den Kampf verlieren – und das tun wir letztlich alle – dann geschieht dies meines Erachtens, weil ich individuell versagt habe. Alles ist mit anderen Worten meine Schuld. Es ist mein Eindruck – auch nach vielen Gesprächen mit Menschen in einer Krise – dass viele Menschen in unserer Zeit diese Erfahrung eigenen Versagens machen, und ich glaube, dass dies eine mitwirkende Ursache dafür ist, dass Stress, Angst, selbstzerstörerisches Verhalten und Depression nachgerade zu einer Volkskrankheit geworden sind. Dieser Kampf um Perfektion und ewiges Glück. Perfektion ist im menschlichen Leben ganz einfach keine Option, die man wählen oder sich erarbeiten kann. Es gibt sie nicht. Die Sünde ist immer gegenwärtig trotz all unserer Anstrengungen, man sollte sie deshalb besser eine Last nennen, denn es ist in der Tat wie wenn man mit Gummistiefeln im Schlamm steckt, der an einem klebt und dem man nicht entkommt. Man ist darüber nicht Herr, wie gerne man es auch möchte. Und man bekommt blaue Flecken in der Seele von seinen wiederholten Versuchen, perfekt zu ein und alle seine großen Ziele zu erreichen und die beste Ausgabe von sich selbst zu werden, wie es heißt. Der Autor des Artikels nennt das direkt einen Fluch, dass er ohne Sünde geboren ist im Gegensatz zu Generationen vor ihm, die wussten, dass sie Sünder waren. Erst jetzt, schon weit in seinem erwachsenen Alter versöhnt er sich mit sehr zögernden Schritten mit der Tatsache, dass er von Natur oder vom Schicksal unlöslich mit dem Unvollkommenen verbunden ist. Der Autor nennt es das „Ungenügende“. Hier in der Kirche nennen wir dieses Ungenügen Sünde. Aber es handelt sich um dasselbe. Der christliche Glaube ist wohl – ich bin mit meinem Nachdenken darüber noch nicht fertig – der Glaube daran, dass dieses ungenügende Leben gut sein kann, wie es ist. Sich mit dem Gedanken zufrieden geben, dass es gut ist so wie es ist. Dass ich geliebt bin, wie ich bin – mit all meinen Unvollkommenheiten. Dass ich die Vergebung meiner Sünden habe, wie dies in der Taufe zugesagt wird. Vergebung der Sünden, das ist jeden Morgen die Augen öffnen können für einen neuen Tag mit neuen Möglichkeiten, so Mensch zu sein, wie es nun einmal möglich ist. Jeden Tag mit Glaube, Hoffnung und Vertrauen zu beginnen, weil hinter dem Dasein eine größere Macht steht als nur das, was ich selbst schaffen und tun und meinen und sagen kann. Vergebung der Sünden bedeutet nicht, dass alles in diesem leben plötzlich perfekt wird, keineswegs, sondern dies, dass man im Unvollkommenen sein kann mit Hoffnung und Freude und sehen kann, dass das Leben eben dort wohnt. Dies eben war es, was die Sünderin im Hause von Simon dem Pharisäer an diesem Tag mit Jesus erlebte. Sie wurde befreit zu einem neuen Leben, wo sie nicht mehr unter der allgemeinen Verurteilung der Gesellschaft zu leiden hatte – Jesus sah in ihr mehr als das, was die alte Verurteilung enthielt. Und sie erlebte, dass sie trotz aller Niederlagen und allen Schwierigkeiten im Leben dennoch geliebt war – und nicht zuletzt auch liebenswert. Weil sie ein Mensch war. Ein unvollkommener Mensch. Ein Mensch im Guten wie im Bösen. Ein Mensch, der das das Unvollendete als ausreichend akzeptieren kann. Und nein, es geht nicht darum, dass alles nur einfach sein soll, denn es geht um die Existenz, den Kern des Lebens selbst. Nicht um ein Handwerk! Deshalb wurde Gott Mensch in Christus Jesus. Damit wir von der Vergebung und der Liebe auch in einer unvollkommenen Welt leben. Jesus kommt noch immer zu uns mit der Vergebung, die er der Sünderin gab an dem Tag im Hause Simons des Pharisäers. Sie konnte danach ins Licht treten und wissen, dass ihr trotz allem vergeben ist. Diese Vergebung, diese Begegnung mit Jesus ist auch für uns noch immer möglich. Nun geschieht sie am Altar, beim Abendmahl, wo Jesus uns mit seiner Vergebung begegnet – der Vergebung der Sünden, wo wir auftanken können und daran erinnert werden, dass wir trotz all dem, was dagegen spricht,  noch immer Teil einer Gemeinschaft mit anderen und mit Gott sind. Amen.



Pastorin Leise Christensen
Aarhus, Dänemark
E-Mail: lec(at)km.dk

(zurück zum Seitenanfang)