Göttinger Predigten

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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

13. Sonntag nach Trinitatis, 26.08.2018

Predigt zu Matthäus 20:20-28 (dänische Perikopenordnung), verfasst von Peter Fischer Møller

Es geschieht bei jedem zweiten Gottesdienst in unserer Kirche.

Wir tun es immer wieder, wenn wir die Taufe feiern.

Vielleicht fast ohne darüber nachzudenken.

Wir erheben uns zu Ehren der Taufkinder.

Man erhebt sich nicht für den Pastor oder die Eltern oder die Paten. Es sind die Kinder, die kleinen rotznäsigen Schreihälse, für die wir uns erheben.

Mitten in einer Gesellschaft, wo wir täglich damit beschäftigt sind, wer etwas ist und etwas hat, erheben wir uns in der Kirche für die, die kleine unbeschriebene Blätter sind, die noch nichts haben und nicht viel mehr können als Milch in sich zu saugen und Windeln zu verschmutzen.

So stellen wir die Dinge hier in der Kirche auf den Kopf.

Es gibt zwar auch in der Kirche eine Art Hierarchie mit Diakonen und Pastoren und Pröpsten und Bischöfen. Und über all dem schweben in Dänemark ein Kirchenminister und eine Königin.

Aber das ist nicht das Wichtigste, was man über die Kirche sagen kann. Das Wichtigste kommt darin zum Ausdruck, dass wir uns alle vor dem Taufkind erheben.

Das bringt zum Ausdruck, dass unser Wert als Mensch nicht etwas ist, was wir uns verdienen sollen, sondern etwas, was uns mit der Geburt geschenkt ist. Dass das Wichtigste, was man überhaupt von uns sagen kann – wichtiger als was man von unseren Familien und unserer Ausbildung und unserem Bankkonto sagen kann – das ist, dass wir von Anfang an von Gott erkannt und geliebt sind so wie wir sind.

Wir haben als Menschen einen unendlichen und unantastbaren Wert allein weil wir existieren, als die, die wir sind, du und ich und er und sie neben uns, und die, denen wir bald auf der Straße begegnen werden. Und wir haben die Aufgabe, dies mit unserem Leben miteinander dadurch zum Ausdruck zu bringen, dass wir einander Aufmerksamkeit und Respekt erweisen – oder wie es im Evangelium heißt: „Wer unter euch groß sein will, der sei euer Diener“.

Das klingt so einfach, fast banal. Aber das ist es nicht. Das ist in Wirklichkeit eine kleine Revolution. Das ist etwas, wofür man kämpfen musste. Das ist etwas, wofür man noch immer kämpfen muss. Das sehen und hören wir, wenn ein Kind getauft wird. Da empfängt das Kind das Zeichen des Kreuzes an der Stirn und der Brust, wir zeichnen den Tod Jesu über dem Leben des Kindes. Und deshalb gießen wir drei Hände Wasser über den Kopf des Kindes. Früher war das dramatischer, da versenkte man das Kind drei Mal ganz ins Wasser. Als ein symbolisches Ertränken, als symbolischer Tod und Auferstehung. Um es ganz anschaulich zu machen, dass, dass ein Leben geopfert wird, damit ein neues Leben entstehen kann. Ein Lösegeld wurde bezahlt, damit wir freie und mündige Menschen werden können.

Darum geht es in diesem Gottesdienst.

Die Kindertaufe fordert eine uralte Vorstellung heraus, nach der wir als Menschen in einer Art geschäftlicher Beziehung zu den höheren Mächten stehen. Wenn wir ihr Wohlwollen haben wollen, müssen wir dafür etwas tun, irgendetwas opfern. Davon war in der alttestamentlichen Lesung dieses Gottesdienstes die Rede, wo der Prophet uns lehrt, dass Gott nicht noch so viele tote Tiere und Kostbarkeiten von uns fordert, sondern Treue und Gerechtigkeit.

Und das ist ja schön und richtig.

Aber das ist noch immer ein Denken, das an die alte Vorstellung gebunden ist von Gott als der strafenden und belohnenden Macht, die wir mit unseren Opfern, unserem Verhalten oder unserer Frömmigkeit beeindrucken sollen. Wo kommt dieser Gedanke eigentlich her?

Über diese Frage hat sich der französische Religionswissenschaftler René Girard einige sehr spannende Gedanken gemacht, die ich hier kurz vorstellen will.

Girard ist der Auffassung, dass dieser Gedanke grundlegend seine Wurzeln darin hat, dass wir Menschen lernen, indem wir andere nachahmen. Kinder lernen, indem sie ihre Eltern und Geschwister nachahmen. So sammeln sich Wissen und Erfahrung von Generation zu Generation, so wird der Zusammenhalt der Familie aufgebaut, so entstehen Gesellschaften. Aber darin liegt auch der Keim zum Konflikt. Denn wenn wir einander nachahmen, dann ahmen wir auch die Begierden der anderen nach, dann streben wir nach denselben Gütern und werden zu Konkurrenten und Rivalen. Und das zerstört den Zusammenhalt in der Gruppe. Girard stellt sich vor, dass in der Geschichte der Menschheit in einer Gruppe diese innere Rivalität überhandnahm. Und da geschah es plötzlich, dass man einen einzelnen fand, der sich irgendwie von den anderen unterschied, und man hat dann alle aufgesparte Aggression an ihm oder ihr ausgelassen. Man hat einen Sündenbock gefunden, und man hat erlebt, dass dies in der Gruppe einen neuen Zusammenhalt schuf. Jede Schulklasse kennt die merkwürdige Gemeinschaft, die Mobbing schaffen kann, an Arbeitsplätzen entstehen Klicken, indem man sich von einigen bestimmten Leuten abgrenzt, oder wie es heißt: Nichts schafft so effektiv Zusammenhalt wie ein gemeinsamer Feind. Das hat so gut funktioniert, dass man sich vorgestellt hat, dass es in Wirklichkeit die höheren Mächte waren, die Götter, die den Sündenbock  ausgewählt hatten und die nun die Gruppe für das Opfer belohnten, indem sie ihr Friede untereinander schenkten.

Girard stellt sich vor, dass der Mechanismus des Sündenbocks so entstanden ist. Und er stellt seine Entwicklung in den verschiedenen Kulturen und Religionen im Laufe der Geschichte dar. Erst waren es Menschen, die zu Sündenböcken gemacht und geopfert wurden, dann ersetzte man die Menschen durch Tiere oder Feldfrüchte. Dann war es wiederum die Einhaltung der Gesetze, die man hervorhob. Aber immer ging es darum, dass etwas oder jemand geopfert werden sollte, um Gott zufriedenzustellen, dass die Gruppe dadurch gesichert wird, dass sie sich abgrenzt und andere ausgrenzt.

Dieses Denken lehnt Jesus grundlegend ab. Er überschreitet konsequent alle die Grenzen, die man in der Gesellschaft gewöhnlich zog zwischen Reinen und Unreinen, Gesunden und Kranken, Gerechten und Sündern. Für ihn zählt nur eines, und das ist der Mensch, dem er begegnet, der Mensch, dem er seine Aufmerksamkeit und seine Achtung schenkt, der Mensch, der das Einfache und völlig revolutionär Neue fassen soll: Du bist Mensch Gottes, erkannt und geliebt, wie du bist.

 In jedem Konflikt stellte er sich konsequent auf die Seite des Opfers: „Nicht die Starken bedürfen des Arztes, sondern die die Kranken. Ich bin nicht gekommen, Gerechte zu rufen, sondern Sünder“, sagte er.

Das war eine Bombe unter dem alten System von Opfer und Sündenbock. Das verstand man. Man verstand es als eine Bedrohung der Gesellschaft, der Religion, ja man hielt es für Gotteslästerung und man erreichte, dass er verurteilt und hingerichtet wurde. Als Jesus am Kreuz hing zwischen den beiden Räubern – das waren wohl nicht gerade die Plätze zu seiner rechten und seiner Linken, an die die Mutter der Söhne des Zebedäus gedacht hatte, als sie für ihre beiden Jungen bat, aber so sollten die Plätze also aussehen – da war er selbst zum Sündenbock gemacht worden, abgestempelt und geopfert, um die existierende Ordnung zu sichern. Aber die Geschichte endete nicht hier. Sein Tod wurde das endgültige Lösegeld, für uns bezahlt, um uns von dem Fluch des Sündenbockmechanismus und des Opfergedankens zu befreien. Wenn wir uns zum Gottesdienst in der Kirche versammeln, dann feiern wir seine Auferstehung. Dann feiern wir, dass Gott selbst sich in Jesus und seiner grenzüberschreitenden Liebe gezeigt hat. Dann feiern wir, dass er durch seinen Tod und seine Auferstehung ein für alle Mal offenbart hat, dass Gott keine Macht ist, mit der wir handeln können, dass Gott keine Macht ist, die von uns Opfer verlangt.

Wenn wir jemanden zum Sündenbock machen, wenn wir jemanden als unrein, krank, Sünder, unwürdig ausgrenzen, dann haben wir das selbst zu verantworten. Gott hat damit nichts zu tun, Gott ist vielmehr auf der Seite des Opfers. „Ihr wisst, dass die Herrscher ihrer Völker niederhalten und die Mächtigen ihnen Gewalt antun. So soll es nicht sein unter euch; sondern wer unter euch groß sein will, der sei euer Diener“. So hat Jesus selbst gelebt, so stellte er alle von Menschen geschaffene Rangordnung auf den Kopf, so kaufte er uns frei von der Vorstellung, dass wir selbst in einer bestimmten Weise sin müssten, um akzeptiert zu werden, befreite uns dazu, in jedem, der uns begegnet, einen Mitmenschen zu sehen. Wenn wir uns zum Gottesdienst versammeln, dann um uns selbst und einander eben daran zu erinnern, um uns selbst darin zu üben, die Welt in der eigenen umgekehrten Perspektive Gottes zu sehen, um den Sinn unseres Lebens nicht im Herrschen, sondern im Dienen zu finden. Amen.



Bischof Peter Fischer Møller
Roskilde, Dänemark
E-Mail: pfm(at)km.dk

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