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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

22. Sonntag nach Trinitatis, 28.10.2018

Predigt zu Matthäus 18:1-4 (dänische Perikopenordnung), verfasst von Margrethe Dahlerup Koch

Das Land der Kindheit ist nach einem bekannten Lied des dänischen Dichters Benny Andersen der Milchzahn der Zeit. Und der Sinn von Milchzähnen ist ja, dass sie herausfallen sollen. Wir können sie nicht gebrauchen, wenn wir allmählich größer werden und zähere Sachen kauen müssen. Wir können uns gut in die Kindheit zurückträumen, nostalgische Ausflüge zurück machen und unsere eigenen Kinder mit denselben alten Geschichten langweilen, dass damals eine Brause 10 Pfennig kostete und dass es Bonbons für einen Pfennig gab. Aber wir wissen auch sehr wohl, dass es seinen guten Grund hat, dass sich die allermeisten Kinder darauf freuen, erwachsen zu werden. Deshalb ist das Ideal auch nicht die ewige Kindheit, sondern die ewige Jugend, wenn erwachsene Männer mit einer Baskenmütze auf dem Kopf und mit Sneakers an den Füßen herumlaufen und wenn erwachsene Frauen sich selbst als Mädchen bezeichnen und zu Mädchenabenden einladen.

Aber wieder fünf Jahre alt werden, das wünschen sich die wenigsten. Und das ist auch gut so. Für die meisten von uns ist es eine schreckliche Vorstellung, dass die Welt von Kindern und kindischen Erwachsenen bevölkert wäre. Von Leuten, die weder in dem einen oder anderen Sinn bleibende Zähne und deshalb auch keinen Biss haben.

Was ist aber dann der Sinn, wenn Jesus sagt: „Wenn ihr nicht umkehrt und werdet wie die Kinder, so werdet ihr nicht ins Himmelreich kommen“? Wenn das keine Aufforderung ist, in das verlorenen Paradies der Kindheit zurückzukehren, was ist es dann?

Ja, es könnte ja eine Verkündigung von der Kindheit als dem Ort des Beginns sein. Dass die Kindheit der Ort der Unschuld und der Freiheit von Problemen ist, ist eine relativ moderne Weise, von der Kindheit zu denken, die dem Denken der Antike fern liegt. Wenn Jesus das Kind hervorhebt, so deshalb, weil das Kind ein Bild für den Beginn ist. Das Kind ist für alle der Ort des Beginns. „Meine hoffnungsvollen Kinder“ – so wurden meine Geschwister und ich oft von meinem Vater Fremden vorgestellt. Und auch wenn das nicht immer witzig war, so liegt in dieser Vorstellung doch die Wahrheit, dass Kinder dies gerne sein sollen: Hoffnungsvoll, voller Hoffnung, weil die Kindheit der Zeitpunkt im Leben ist, wo die Möglichkeiten vor einem liegen. In der Kindheit freut man sich auf seinen nächsten Geburtstag, darauf groß zu werden, zu lernen, etwas Neues zu sehen und zu erleben. Und Kinder sind die Hoffnung ihrer Eltern. Und das waren Kinder ja besonders zurzeit Jesu, wo Kinder die einzige Alters- und Lebensversicherung waren, die man hatte.

Jesus stellt das Kind „mitten unter“ die Jünger, erzählt Matthäus. Das Kind wird in das Zentrum des Kreises gestellt. Darin liegen mehrere Dinge. Erstens ist das ein Bruch mit dem geschlossenen Kreis – der geschlossenen Gesellschaft. Wenn man sich die Szene etwas von oben vorstellt, dass stehen die Jünger in einem Ring um „unseren Jesus“. Dieser Ring ist es, den Jesus öffnet, als er das Kind herbeiruft. Und dann stellt er den Jungen auf den Platz, der er vorher selbst innehatte, den Platz in der Mitte. Deutlicher kann es nicht gesagt werden, wer und was immer im Mittelpunkt stehen soll: Der Geringste, der Schwächste – den stellt Jesus an seine Stelle. Ungeachtet des Alters, des Geschlechts, der Religion oder der Nationalität sollen wir im Geringsten und Schwächsten Gott sehen und wiedererkennen. „Was ihr den Geringsten dieser Kleinen tut, das tut ihr mir“, sagt er in dem Text in einigen Wochen am Ende des Kirchenjahres, damit wir das nicht bei all der Gemütlichkeit des Advents und der Vorweihnachtszeit vergessen.

Zweitens ist dies, dass das Kind in den Mittelpunkt gestellt wird, eine physische Demonstration dessen, was der Mittelpunkt der Verkündigung Jesu ist, nämlich das, was das Kind bedeutet: Neuer Anfang. Hoffnung und Erwartung sollen immer Recht bekommen. Auch wenn wir nicht mehr im Land der Kindheit leben und nicht nur die Milchzähne verloren haben und die weichen Kinderhaare, sondern vielleicht auch den Mut und den so ersehnten Überblick und die Zuversicht.

Neuer Anfang ist möglich. Das Beste liegt nie hinter uns, so wie die Nostalgie und der Traum von der Kindheit uns einbilden. Das Beste liegt stets vor uns, weil Gott stets vor uns ist. Das ist es, was Jesus uns predigt und zeigt, indem er das Kind in den Mittelpunkt stellt. indem er dem Lahmen die Bewegungsfreiheitzurückgibt, indem er Sündern Vergebung zuspricht und indem er schließlich selbst die Finsternis des Grabes verlässt, um – wie es der Engel am Ostermorgen sagt, voranzugehen nach Galiläa, d.h. in das Leben hier vor dem Tod, wo es Trauer und Verlust und Freude und Sehnsucht gibt. Dort, sagt der Engel, in dem verworrenen und zweideutigen Leben, das das unsere ist, dort werden wir ihm begegnen, wie er es gesagt hat.

Und das gilt dann auch für die anderen. Das dürfen wir nie vergessen. Aber wir können uns selbst fragen, ob wir das dann auch glauben. Gönnen wir den anderen – den Kleinen und Schwachen und Gescheiterten – einen neuen Anfang? Oder „kennen wir die“? Wissen wir, dass es nie anders wird – mit diesem sozialen Erbe, mir dieser Religion, dieser Kleidung, mit diesen physischen oder psychischen Leiden? Halten wir andere fest, oder wagen wir es zu glauben, dass die Auferstehung, der Veränderung, die Erneuerung auch eine Möglichkeit ist für andere als uns selbst?

Und gönnen wir es uns selbst, einer dieser Kleinen zu sein? Einer von denen, die es wagen, den neuen Beginn des Lebens anzunehmen – als etwas, das uns gereicht wird – unverdient und vielleicht überraschend? Wagen wir es, unsere auszustrecken und zu empfangen? Wagen wir es, unsere Füße zu benutzen und anderen entgegenzugehen? Und wagen wir es, den Anderen als einen zu sehen, den wir brauchen und durch den wir klüger werden, wenn wir ihn kennenlernen?

Oder wollen wir lieber die Hände dafür verwenden, an dem festzuhalten, was wir haben, die Füße dazu gebrauchen, eigene Wege zu gehen, und unser Augenlicht dazu verwenden, nur stolz und tapfer uns selbst in die Augen zu schauen?

Jesus lässt uns jedenfalls nicht im Zweifel darüber, wie allesentscheidend es ist, ob wir das eine oder das andere tun und wagen und glauben. „Haut Hände und Füße ab und reißt Augen aus, wenn sie Euch zu Fall bringen“, sagt er. Zu Fall bringen heißt einem Menschen einbilden, dass Gott dem Menschen nicht das Allerbeste will. Das ist einem Menschen einzubilden, dass es Gott ihm nicht gönnt, am Ort des Beginns zu stehen und immer Gottes hoffnungsvoller Mensch zu sein – sowohl im Sinne von voller Hoffnung als auch in dem Sinne, dass Gott immer, wie Eltern, das Allerbeste von seinem Menschen erhofft und erwartet.

Und immer wenn es uns gelingt, anderen oder uns selbst eben dies einzubilden, dann tun wir das Werk des Teufels. Eben deshalb kocht Jesus fast über vor Eifer im heutigen Evangelium. Denn dem Teufel und allen seinen Werken kann und soll man nur mit Widerstand, Zorn und Kompromisslosigkeit begegnen.

Und deshalb darf man den letzten Teil des heutigen Evangeliums nicht vergessen. Denn der enthält die ganze Pointe. Das kleine Gleichnis vom verlorenen Schaf, das nicht verlorengehen soll draußen in der einsamen Wildnis. Das eine Schaf, das wie das eine Kind in den Mittelpunkt gestellt wird. Weil es immer der Eine, der Verlorene, der Geringste ist, der an dem Platz steht, der Gott gehört.

„Vergisst eine Mutter ihr säugendes Kind?“ fragte Gott rhetorisch in den Lesung aus Jesaja, „Siehe, meine Hände haben doch gezeichnet“ versichert Gott. Als die wichtigste Nachricht, die man nicht vergessen darf. Oder die Wundmale, an denen wir nun Gott erkennen und wiedererkennen können. Wie Thomas nach der Auferstehung. „Siehe, meine Hände haben doch gezeichnet“, Wie die Wundmale, die von einer Liebe zeugen und einem Willen, und zu ertragen und auszuhalten. Eine Liebe und ein Wille zu Ausdauer, die Karfreitag den ganzen Weg ging durch das Feuer der Hölle und dem Ort der Verdammnis. Und die da hindurchging für die Geringen. Für uns. Um uns den Weg zu bereiten in der Niederlage. Amen.



Pastorin Margrethe Dahlerup Koch
Ringkøbing, Dänemark
E-Mail: mdkoch(at)mail.dk

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