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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

22. Sonntag nach Trinitatis, 28.10.2018

Das Gewicht eines ungeschriebenen Briefes
Predigt zu Römer 7:14-25, verfasst von Konrad Glöckner

Kanzelgruß:

Gnade sei mit Euch und Friede, von Gott unserem Vater und dem Herrn Jesus Christus Amen.

 

Hören wir auf Worte, die uns im 7. Kapitel des Briefs vom Apostel Paulus an die Christen in Rom überliefert sind:

(Lesung: Röm 7, 14-25)

 

 

Liebe Gemeinde,

Ein Freund von mir hatte Geburtstag. Einen hohen, keinen runden. Ich wollte ihm schreiben, auf jeden Fall! Zumindest anrufen. Aber die Tage waren voll, das Vorhaben wurde verschoben, dann fallengelassen. Ein ungeschriebener Brief mehr. Es ist nicht der erste und mancher von ihnen begleitet mich, klopft bei mir an, als schlechtes Gewissen. „Das was ich will, das tue ich nicht; aber das, was ich nicht will, das tue ich.“

Auf den letzten Satz stoße ich nun bei Paulus. Doch bei ihm klingt er anders, schärfer, nicht nach Schwäche, eher moralisch. Der Apostel spricht vom Guten und Bösen und vom Gesetz. Aber was hat ein ungeschriebener Brief mit dem Gesetz zu tun? Mit dem Gesetz komme ich doch nur in Berührung, wenn ich Grenzen überschreite, gesellschaftliche Normen verletze, mich außerhalb von geltendem Recht bewege.

Paulus sieht das anders. Er spricht von einem Gesetz der Sünde, das in meinen Gliedern steckt, in meinem Leib. Das Gesetz versteht er als etwas, was mein ganzes Leben bestimmt, mich ständig berührt und betrifft, unausweichlich. „Fleischlich“ sagt Paulus, hautnah, ließe sich übersetzen. Gefangen bin ich in meiner Haut, werde mich nicht los und bin permanent mit mir selbst beschäftigt. Das ist das Gesetz der Sünde.

Ein ungeschriebener Brief. Hinter dem scheinbar Belanglosen steckt mehr. Mein eigenes Leben füllt mich aus und auch mein Blick auf den Nächsten belässt mich bei mir selbst. Das Fragen nach seinem Ergehen erschüttert mich nicht, bringt mich nicht aus dem Trott. Das Gesetz der Sünde. Der Brief ist nur ein Symptom, das Muster hat sich verfestigt. Andere Beispiele fallen mir ein: Ein Kollege im Betrieb wird gemobbt, weil er stört, weil er fremd ist. Ich mache nicht mit, aber ich lasse es laufen. Mich auf seine Seite zu stellen, hätte einen zu hohen Preis. Ich selbst geriete ins Abseits. Oder: In der Nachbarschaft ist ein Sohn gestorben, bei einem Motoradunfall. Kurz habe ich den Eltern kondoliert, aber ihrer Trauer und Verzweiflung gestellt habe ich mich nicht. Ich war froh, wieder draußen zu sein und zugleich merke ich, froh bin ich dabei nicht. Ich sollte es anders machen, aber mir fehlt der Antrieb. Ich überlasse mich dem, was mich treibt, gestalte nicht, nur begrenzt bin ich Herr meines Lebens. Etwas ist da kaputt, keinesfalls heil, nicht heilig! Menschsein könnte mehr sein. Tief im Inneren weiß ich das.

Auf solche Erfahrung zielt Paulus. Wo wir unsere Kraft darauf ausrichten, unser Selbstsein zu erhalten, verlieren wir uns; wo wir bei uns selbst verbleiben, werden wir uns selbst zugleich fremd. Diesen Selbstwiderspruch, solche Selbstentfremdung nennt Paulus Sünde. Denn wir werden nicht nur uns selbst fremd und unserem Nächsten, sondern auch Gott. Wir zerstören die tragenden Bindungen unseres Lebens, Leben entfaltet sich nicht, bleibt ungelebt. Wir sind nicht die, die wir vor Gott sein sollten; wir sind dem Bild fremd, das Gott von uns hat.

Doch Gott lässt uns nicht los, spricht uns an und stellt seinen Anspruch an uns. Daraus erwächst das tiefe Empfinden für diese Zerrissenheit unseres Lebens und darum bleibt die Sehnsucht nach einem heilen, erfüllten Leben als ein Stachel in uns. Das Gewissen lässt uns nicht zur Ruhe kommen und wir sollten uns hüten, die Stimme des Gewissens durch den Lärm unseres Alltags zu übertönen. Das Gewissen ermahnt uns an Gottes Gebot und es bezeugt uns, dass es gut für uns ist. Regeln, die auf ein erfülltes Leben hinzielen.

So hören wir Gottes Gebot, wissen, dass es gut für uns ist, aber wir halten es nicht. Auch diese Erfahrung kennen wir. Wieder aber geht Paulus weiter in seiner Beobachtung und stellt fest: Das Gebot Gottes halten wir nicht allein nicht, sondern wir können dies auch gar nicht aus eigener Kraft. Denn die Sünde ist uns übermächtig und legt uns herein. „Sünde nimmt das Gebot zum Anlass und betrügt uns und tötet uns durch das Gebot“, so sagt es Paulus. Die Weise, wie wir Menschen uns selbst und Gott fremd sind, versteht er als einen Teufelskreis, in dem wir uns vorfinden und der uns gefangen hält und unser Leben zerstört. Wenn wir versuchen, ihm aus eigener Kraft zu entkommen, bleiben wir wiederum ganz bei uns selbst. Unser Leben bleibt klein, klein und selbstgerecht. Unser eigenes Gutsein gerät uns in den Blick und wir benutzen Gottes Gebote, um uns ins eigene Recht zu setzen. Wir halten uns zugute, dass wir rechtskonform sind, nichts Unrechtes tun. Wir sind die Guten! – So glauben wir fest und sind es doch nicht.

Das klingt abenteuerlich, abgehoben. Eine theologische Spitzfindigkeit. Doch ein einfacher Blick in unser Land belehrt uns eines Besseren und offenbart uns diese Macht der Sünde auf erschreckende Weise. Wir erleben, wie die Kreise des Lebens enger und enger werden, je mehr wir versuchen, unsere eigenen Belange zu schützen und unser eigenes Recht zu behaupten. Nationalen Interessen geben wir einseitig Vorrang vor den quälenden, humanitären Fragen unserer Zeit. Zuerst wir selbst, unser Volk und unser Land, heißt die Parole. Die eigene Haut gilt es zu retten und so wird man dickhäutig gegen das Leid anderer. Selbstgerechtigkeit wird als gesetzeskonform, Humanität als Rechtsbruch ausgewiesen. Wir sind die Guten und es ist unser Recht. Und in der Tat ist Vieles durch das Recht gedeckt. Auch lassen sich die Fragen, die durch das Aufeinanderstoßen von Kulturen und Religionen aufbrechen, nicht leugnen oder kriminalisieren. Legitim ist es auch, gesellschaftliche Grenzen von Hilfsbereitschaft und zu leistender Opfer auszuloten. Aber dennoch: Spüren wir nicht, wie fremd wir uns werden, wo wir mit Macht uns selbst zu schützen versuchen? Wo wir unsere Sorgen vor Verlusten und vor Selbstaufgabe kultivieren und gegen Freiheit und Freizügigkeit ausspielen, die doch in gleichem Maße Teil unseres Selbstverständnisses sind? Ja, unser Land ist längst nicht mehr so, wie vor Jahren. Es ist uns fremd geworden. Aber nicht die Fremden haben dies getan! Wir selbst haben es geschafft, ganz allein. Und wir spüren unsere Hilflosigkeit, Ohnmacht und Ratlosigkeit angesichts der Erfahrung, wie mächtig der Zeitgeist regiert.  

In einem anderen Geist sind die Fragen der Zeit anzugehen, mahnen der EKD-Ratsvorsitzende, Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm und der Präsident des Zentralrates der Juden in Deutschland, Josef Schuster, in einem gemeinsamen Wort gegen die AfD, das am vergangenen Wochenende in der Welt am Sonntag erschienen ist: „Es reicht. Wir zeigen Flagge für unser Land, in dem Menschen über kulturelle, religiöse und soziale Unterschiede hinweg gut zusammenleben können.“ Mit Verweis auf die Wurzeln ihres Glaubens möchten beide die Zivilgesellschaft stärken und laden zu Zivilcourage, Mut und offen gelebter Herzlichkeit ein.

In der Tat, ein anderer Geist muss her, in dem man die drängenden Fragen unserer Zeit angeht. Hier mahnt die Kirche zu Recht. Und dies gilt gewiss nicht allein in der Frage von Rechtspopulismus und -extremismus. Kleingeistig gehen wir die großen Fragen von Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung an und es fehlt uns der Mut, die nötigen Schritte zu tun. Für kleine, partikulare Interessen treten wir ein, und verlieren uns selbst und das Ganze. Kampf gegen den Klimawandel – Ja!, aber doch nicht zu Lasten wachsenden Wohlstandes. Weniger Militär – Ja!, aber die Kaserne vor Ort gilt es zu verteidigen. Die Kirche hat Recht, ein anderer Geist muss her. Aber findet ihre Stimme Gehör und kann sie glaubhaft sein? Ist sie nicht Teil dieser Welt, mit ihrer Geschichte tief verstrickt in die Zweideutigkeit von Gut und Böse und selbst eine Institution, die sich um Selbsterhaltung bemüht. Ist sie nicht deutlich angeschlagen, im Kampf um ihre eigene Glaubwürdigkeit? Auch wir Christen sind uns selbst fremd und tief gefangen unter der Macht der Sünde!

„Ich elender Mensch! Wer wird mich erlösen von diesem todverfallenen Leib?“ ruft Paulus aus. Ein Stoßgebet: „Wer wird mich, wer kann mich erlösen?“ Und ein Dankgebet lässt er unmittelbar folgen: „Dank sei Gott durch Jesus Christus, unseren Herrn.“

Dank sei Gott. Nachdem Paulus uns durch seine Worte unser Gefangensein unter der Macht der Sünde und uns unsere Hilflosigkeit, Gerechtigkeit selbst zu erwirken, klar vor Augen gestellt hat, bricht er in diesen Jubel aus: „Dank sei Gott durch Jesus Christus, unseren Herrn.“ Förmlich erleben wir die befreiende Kraft des Evangeliums.

Weil unser Blick so sehr auf uns selbst gerichtet war, hätten wir dieses beinahe vergessen, da war ja noch was! Gott hat uns längst aus diesem todbringenden Kreislauf herausgeführt. Das ist die Frohe Botschaft, das Evangelium von Jesus, dem Christus.

Paulus wendet unseren Blick weg von uns selbst und Gott zu. Was wir nicht vermögen, dass kann er tun, und das hat er getan. Wo wir in der Sünde verstrickt und uns selbst fremd sind, dort schenkt er uns uns selbst zurück. Daran erinnert uns Paulus, dass Gott „Ja“ zu uns sagt und uns ganz ohne Bedingung annimmt, so wie wir sind – weil wir zu ihm gehören. „Ja“, sagt Gott zu uns, weil wir seine Kinder sind, seine Geschöpfe, sein Gegenüber, das er von Herzen liebt. Unbedingtes Bejahtsein. Wenn wir Gott dies glauben, dann gewinnen wir eine feste Gewissheit, die wir selbst dort nicht verlieren, wo unser Leben zurückbleibt hinter unseren Wünschen und Vorstellungen gelingenden Lebens, oder hinter dem, was sein sollte. Die Erfahrung, dass wir immer wieder nicht tun, was wir eigentlich wollen, wirft uns nicht aus der Bahn. Dankbarkeit trägt unser Leben und eine Freude erfasst uns. Wieder spricht Paulus von einem Gesetz, einem Gesetz des Gemütes, das auftaucht in den Tiefenschichten unseres Seins, wo wir uns auf Gottes Wort einlassen und darauf, dass Gott uns berührt. Er spricht vom Gesetz des göttlichen Geistes, das uns frei macht vom Gesetz der Sünde und des Todes.

Gottes verbindliche Zusage ist ein Versprechen, das uns ermutigt und einlädt, uns mit festem Vertrauen, uns mit Urvertrauen dem Leben zu stellen. Gottes Versprechen sollen wir glauben und als den tragenden Grund unseres Lebens annehmen. Aber Urvertrauen können wir nicht aus uns selbst heraus schöpfen, es benötigt ein Faustpfand, Zeugen und Erfahrungen, die sich bewähren und als tragend erweisen. Doch alles dies haben wir ja. Wir haben biblische Geschichten und Berichte von Menschen, die im Glauben gereift und groß geworden sind. Und wir kennen die vielen kleinen Momente, wo wir von Liebe, von Schönheit oder von Musik ergriffen sind, und in denen die Kraft liegt, uns herauszuführen, aus dem Gefangensein in uns selbst. Es sind dies die Momente, die unsere Sehnsucht nach einem weiteren, heilen Leben nähren und in denen die Ahnung uns trifft, dass dieser Sehnsucht Erfüllung verheißen ist. Und natürlich, in dieser Weise ergreifen kann und soll uns auch die Not anderer Menschen. Wir müssen dies nur zulassen, den Mut finden uns zu öffnen und einzulassen darauf. Aber nur so werden wir die Tragkraft des Glaubens entdecken. Und nur so können wir auch selbst glaubhafte Zeugen sein. Dort, wo es verlässlich zu spüren ist, dass wir Christen nicht von uns selbst reden, von unserer eigenen Größe und Kraft, von dem Glanz unseres eignen Gutseins und unseres Vermögens, sondern von unserem tiefen Vertrauen, das uns trägt, dort findet auch unsere Stimme als Kirche gewiss ihr Gehör.

Ein Freund von mir hatte Geburtstag. Einen hohen, keinen runden. Ich wollte ihm schreiben aber ich habe es nicht getan. Weil ich eingebunden war, mir anderes wichtiger war. Das macht mich traurig über mich selbst, aber ich weiß, es wird mir wieder passieren. Aber nun schreibe ich ihm doch. Aus Disziplin und um dem Druck meines schlechten Gewissens zu entkommen. Das ist alte Welt, nichts Neues. Gesetz des Fleisches – hautnah. Aber noch während ich schreibe werde ich frei von meinem Kreisen um mich selbst. Meine Gedanken wandern hin an Orte gemeinsamen Erlebens, sein Gesicht ist mir nah, Gespräche tauchen auf. Ich fühle mich beschenkt, ergriffen vom Reichtum der Freundschaft.

Gott kommt vor, mitten im Alltag. Das Gesetz seines Geistes wirkt mächtig. Das Erleben von Befreiung trägt einen Namen und kündet von mehr. Dank sei Gott, durch Jesus Christus, unseren Herrn!

Amen.

 

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Konrad Glöckner, geb. 1966, Pastor der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Norddeutschland. Seit 2008 tätig als Pastor in Kloster, Insel Hiddensee.



Pastor Dr. Konrad Glöckner
Hiddensee, Mecklenburg-Vorpommern, Deutschland
E-Mail: Kloster@pek.de

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