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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

22. Sonntag nach Trinitatis, 28.10.2018

Die Leiter unter dem Kirschbaum
Predigt zu Römer 7:14-25a (i.A.), verfasst von Manfred Mielke

Liebe Gemeinde,

heute gehen wir auf zentrale Fragen unseres Glaubens ein. Zu ihnen hat der Apostel Paulus in seinem Brief an die Römer mutige Antworten gewagt. Doch bevor ich seine Zeilen verlese, stelle ich uns einen kurzen Filmausschnitt vor (1).

Die Bildfolge zeigt einen alten Mann auf einer Leiter, die er in die Krone eines blühenden Kirschbaums gestellt hat. Der Mann ist ein Japaner, in seiner Kultur wird die Kirschblüte hoch verehrt. Von seiner Großmutter hat er einen Krug geerbt und das Wissen, dass Kirschsaft Fieber senken kann. Er mag Kirschen sehr und hat immer einen Vorrat des tiefroten Safts im Krug.

Aber es ist nicht Erntezeit, es ist Blütezeit. Von daher ist es ungewöhnlich, dass der Greis auf einer Leiter in der Blütenkrone steht. Noch erstaunlicher ist das, was er tut. Er betupft mit einem Wattebausch vorsichtig jede Blüte, die er erreichen kann. So bestäubt er die Blüten in seinem Kirschbaum per Hand. Denn seit ein paar Jahren kommen keine Bienenvölker mehr, sie sind in seiner Gegend fast alle ausgestorben. Der alte Mann aber sehnt sich nach Kirschen und Kirschsaft, deswegen bestäubt er seine Bäume per Hand.

Die Bildfolge ist kaum auszuhalten. Der Mann arbeitet schweigsam und voller Detailliebe. Aber er kämpft einen aussichtslosen Kampf inmitten einer Blütenpracht. Vielleicht kommen die Bienen ja zurück, aber eventuell wird es dramatisch. (2) Viele Obst- und Nahrungssorten brauchen die Bestäubung durch Insekten. Ein paar Kirschen werden im Garten des Japaners noch reifen, aber seine Methode hilft nicht der Versorgung der gesamten Menschheit. Dabei berührt uns das anmutige Bild des Mannes, der mit einem Wattebausch gegen das Bienensterben hantiert. Wobei wir zugeben müssen, dass sein stiller Fleiß uns verlegen macht.

Nun leihe ich mir die Beobachtungen „Detailliebe“ und „aussichtsloser Kampf“ und gehe auf des Paulus Fragen und Antworten zu. Er schreibt: „Ich fühle mich wie unter die Sünde verkauft. Denn was ich bewirke, das durchschaue ich nicht (3). Ich tue gar nicht, was ich will; sondern was ich hasse, das tue ich… Wollen habe ich wohl, aber das Gute vollbringen kann ich nicht… Wenn ich aber tue, was ich nicht will, so tue nicht ich es, sondern die Sünde, die in mir wohnt. So hängt das Gesetz mir das Böse an; mir, der ich das Gute tun will! Ich habe zwar Lust an Gottes Gesetz nach dem inwendigen Menschen. Ich sehe aber ein anderes Gesetz in meinen Gliedern, das widerstreitet … und hält mich gefangen im Gesetz der Sünde… Ich elender Mensch! Wer wird mich erlösen von diesem todverfallenen Leibe? Dank sei Gott durch Jesus Christus, unsern Herrn!“ (Römer 7,14-25a i.A.)

 

Liebe Gemeinde,

Paulus ist – im Bild gesprochen – schon weit hochgeklettert im Baum des Glaubens. Nicht alle seine Verästelungen müssen wir verstehen. Zumal sie so dünn werden, das sie abzubrechen drohen. Paulus spürt inmitten der blühenden Gewissheiten in seinem Glauben eine Last, die zum Abbruch führen könnte. Wir kennen den (lukanischen) Bericht über seine Bekehrung vom Saulus zum Paulus, bei der er von seinem Reittier fiel, als Gott ihn stellte. Mir kommt es dabei auf das Detail an, dass er nach dreitägiger Blindheit sehend wurde im Augenblick seiner Taufe. Paulus hat neu sehen gelernt, und riechen und schmecken (Apg 9,19). Sein neuer Glaube fing sehr empfindsam an. So zart wie bei einem jungen Kirschbaum. Mit leuchtenden Blüten, mit dem betörenden Duft, mit der vollen Blüte, mit saftigen Früchten!

Ein Kirschbaum ist somit ein gutes Bild für unseren Glauben. Wir sehnen uns nach der Zartheit der Gebete. Wir genießen den betörenden Duft des Neubeginns. Wir atmen auf, wenn der Wohlgeruch Christi von uns ausströmt. Wir ernähren uns von der Schönheit des Singens. Wir entspannen in den ersten Gewissheiten wie in einer Hängematte in einer Blütenkrone. Wir erfreuen uns an den Früchten des Glaubens, bei uns selbst und bei anderen.

Doch – wie gehört – steckt Paulus in einem Dilemma, im krassen Kontrast zwischen der Strahlkraft der Gebote Gottes und dem aussichtlosen Kampf mit ihnen. Paulus fühlt sich k.o., wenn er sagt: „Ich habe Lust an Moses Geboten, aber sie bewirken meinen Zusammenbruch.“ Er ist verzweifelt, wenn er sagt: „Gottes gute Weisungen hängen mir das Böse an. Das Heiligste bringt mich in schlimmste Nöte.“ In der Freiheit seines Glaubens weiß er sich als vollwertiges Kind, aber seine Lebensführung zeigt eine elende Abhängigkeit. Er stellt tief aufgewühlt fest: „Ich bin im Glauben ein Kind Gottes – doch zugleich wie ein Sklave unter die Sünde verkauft. …Das Gute, das ich will, das tue ich nicht; nur das Böse, das ich nicht will, steht mir zur Verfügung.“ (4)

Noch bemüht sich Paulus, aber es ist ein aussichtsloser Kampf. Das Heilige ist stärker in seiner vernichtenden Kraft, wogegen ihm seine bisher sicheren Dogmen wie Wattebäusche vorkommen. Das Ausbleiben der Heilswirkung der Gebote Gottes lässt in ihm jegliche Hoffnung absterben. Paulus weiß, dass er sich vor Gott nicht selbst befruchten kann. Er steigt Stufe für Stufe herab, bis er aus tiefster Seele schreit: „Ich elender Mensch! Wer wird mich erlösen von diesem todverfallenen Leibe?“

Was für ein Schrei nach Erlösung! Er ist ehrlich und erschütternd und klingt dabei so endgültig, dass wir Angst haben, er würde auch für uns nicht fruchten und ohne Antwort bleiben. Mir imponiert jedoch bei einigem Nachspüren seines Schreis, was er dabei unterlässt. – Er missachtet seine bisherigen Mühen nicht. („Ich war untadelig“ – Phil 3,6) Auch für uns ist es eine Anstrengung, in einer tiefen Krise uns nicht selbst zu verletzen. – Paulus verdoppelt und verdreifacht seinen Kampf nicht.

Auch für uns ist es eine richtige Erlösung, am Falschen nicht noch sturer festzuhalten. – Auch verlagert er nicht die Ursache. Er stellt seine Leiter nicht bei Adam und Eva an den Baum (5) und klagt: „Falscher Baum, falsche Frucht, falsches Paradies!“ Auch wir kennen ja die heilsame Erkenntnis, Ursachen bei uns selbst ein-zu-sehen.

 

Liebe Gemeinde,

nachdem wir erkannten, was Paulus in seinem Schrei unterlässt, können wir klarer erkennen, was ihm dabei gelingt. – Paulus ruft. Sein Schrei kommt aus tiefstem Elend. Seine Worte dabei sind ehrlich und vorbildlich für uns. – Paulus schreit zu Gott als dem Vater Jesu Christi. Uns hilft, wenn wir in die Richtung seiner Auferstehung rufen, nachdem er Kreuz und Grab überwunden hat. (6) – Paulus schreit zu Gott als Zuflucht der Gnade. Das ist schon die halbe Rettung, wenn es uns gelingt: Von Gott zu Gott zu fliehen. (7) – Paulus schreit nach einer radikalen Lösung, die alle Rahmenbedingungen gleich miterlöst. Ein guter Tipp für uns! – Und Paulus blendet seine Niederlage nicht aus. Er ahnt, dass sein aussichtsloser Kampf mit einer Verlusturkunde besiegelt werden wird. Ist damit auch unsere Beziehung zu Gott abgestorben? Wer kann uns dann noch erlösen?

Diese „Wer-Frage“ des Paulus höre ich auch so: „Wer bist Du Gott, dass deine Gebote so toll aussehen wie ein blühender Kirschbaum? Aber wenn ich mich an den Ästen halten will, dann brechen sie ab. Anstatt dass mein Glaube Früchte bringt, stirbt er ab. Stirbt mein Glaube aber, dann verdorre ich komplett. Wer – wenn nicht Du – kann mich erlösen aus dieser Todesspirale?“

 

Liebe Gemeinde,

Paulus ist in seinem Schrei ganz bei Gott und ganz bei sich. Seine schonungslose Art öffnet ihn für Gottes neue Initiative. Um diese zu beschreiben, wechsle ich in eine andere Bildsprache. Denn ich meine, dass Gott etwas austauscht. Gott tauscht des Paulus‘ Totenschein (8) mit der Auferstehungs-Urkunde des Christus Jesus. Seine Überwindung der tiefsten Verzagtheit ist die Antwort Gottes auf des Paulus‘ Schrei nach Erlösung. So kann Paulus seinen Sterbensschrei eintauschen gegen einen neuen Geburtsjubel: „Dank sei Gott durch Jesus Christus, unsern Herrn!“ Im eigenen Versagen, ja im eigenen Absterben Danke zu sagen und zugleich die neue Herrschaft des Jesus Christus anzunehmen! Das ist mühsam, aber genial. „Dank sei Gott durch Jesus Christus, unsern Herrn!“ Damit dankt Paulus nicht nur persönlich. Nein, er dankt „unserm“ Herrn. Gott hat ihm also nicht nur privat geantwortet. Gottes Zusage ist, dass die Gnade Jesu Christi wirkt in jeder Krisen- und Blütezeit.

Doch wie beim Greis im Kirschbaum überfordern wir uns mit unserer falschen Detailliebe. Da hilft es, von der Leiter der Selbstoptimierung herabzusteigen und das Geschenk der Gnade Gottes (9) neu anzunehmen. Auf dem Boden der Tatsachen angekommen, stellen wir fest, dass wir uns verstiegen hatten. Global gesehen, haben wir uns wegentwickelt vom verheißenen Land, in dem Milch und Honig fließen. Wir brauchen einen neuen Respekt vor den Leitbildern und Verheißungen Gottes. Jeder Erdenbewohner hat das Recht auf Salz und Honig, auf Wasser und Würde, auf Kirschsaft und Kreativität. Und wir? Wir sind allzuoft Nutznießer der Umwälzungen der Lebensbedingungen. Die Welt liegt im Fieber (10). Daran können wir vieles ändern, weil wir unsere Lebenszeit verstehen als Vorläuferzeit im „Vorab“ der Verheißungen Gottes. „Im Vorab“ einer genialen Ewigkeit drängen wir auf Veränderungen im Hier und Jetzt. „Im Vorab“ der großen Gelassenheit übernehmen wir weitverzweigte Verantwortungen.

Oder anders gesagt: Wir werden nicht mehr an jeden Baum unsere Leiter stellen. Aber wir lassen uns wieder stärker darauf ein, wie Gott uns seine Kräfte zufließen lässt. – Zum Beispiel durch die Zartheit der Gebete. – Im betörenden Duft eines Neubeginns. – Im Wohlgeruch Christi. – In der Schönheit vieler Danklieder. – Im Genießen der Glaubensfrüchte Anderer. So füllt sich langsam der halbvolle Krug mit fiebersenkendem Kirschsaft. Amen.

 

(1) „More than honey“, Film von Markus Imhoof, 2012

(2) Der Streit zwischen den Imkern im „DeBiMo“ und den NGOs hat am 27.4.2018 zum EU-weiten Verbot einiger Neonicotinoide geführt.

(3) Übersetzung W. Klaiber; gegen M. Luther

(4) Seine Identität ist befreit aus einem Gefängnis, aber verkauft in die Sklaverei. vgl. W. Klaiber

(5) „Die Vergangenheit im Schatten Adams und Evas ist nicht einfach passé.“ W. Klaiber S.128

(6) So zu schreien ist aber nur dem möglich, der das Wunder der in Christus geschaffenen Rettung Gottes erfahren hat.“ U. Wilckens S.100

(7) „Er ruft dort zu seinem Erlöser, wo er diesem selbst zuwider gehandelt hat.“ U. Wilckens S.116

(8) Paulus sieht seinem „eschatologisch definitiven Todesurteil“ entgegen. U. Wilckens zu V.25a

(9) „Die Sünde aufzuheben jedoch ist das Gesetz unfähig. Das vermag allein die Gnade.“ U. Wilckens S. 103 Anm 414 lt Augustinus

(10) Buchtitel von Laura Spinney über die Spanische Grippe 1918 mit evtl. 100 Mio. Toten

(11) Schon Ch. Darwin schrieb: “Daher zweifle ich wenig daran, dass, wenn die ganze Sippe der Hummeln in England sehr selten oder ganz vertilgt würde, auch Jelängerjelieber und rother Klee selten werden oder ganz verschwinden müssten.” (Entstehung der Arten, Kapitel 3, 1860)

 

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Manfred Mielke, geb. 1953, Pfarrer in der EKiR. Verheiratet, 2 erwachsene Söhne; sozialisiert in Freikirchen und im Ruhrgebiet; ökumenisch engagiert in Ungarn, Ruanda und Türkei; musikalisch aktiv im Church-Pop; pädagogisch unterwegs für Inszenierungen mit Konfirmanden



Pfarrer Manfred Mielke
Reichshof, Nordrhein-Westfalen, Deutschland
E-Mail: Manfred.Mielke@ekir.de

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