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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

23. Sonntag nach Trinitatis, 04.11.2018

Predigt zu Römer 13:1-7, verfasst von Wolfgang Schmidt

Liebe Gemeinde,

 

mit einem Hammer soll er ihn erschlagen haben. In diesen Tagen läuft vor dem Amtsgericht Ulm der Prozess gegen einen 46-jährigen Albaner. Der Mann mit deutscher Staatsbürgerschaft soll im vergangenen Jahr einen 19-Jährigen in Erbach an der Donau erschlagen haben. Das mutmaßliche Motiv: Der junge Mann musste mit dem Leben für einen Mord bezahlen, den 17 Jahre zuvor ein Onkel in Albanien verübt haben soll. „Auge um Auge, Zahn und Zahn.“ Es ist kein Einzelfall, von dem man hierüber vor einigen Monaten lesen konnte. „Blut für Blut“ – in Albanien nennt sich dieses Gewohnheitsrecht Kanun. Aus Sizilien und Süditalien kennen wir den Begriff Vendetta. Im Arabischen spricht man von qisasoder qawad. „Auge um Auge, Zahn und Zahn.“ Mit diesem Bibelwort verbinden wir das Prinzip der Vergeltung. Er hat mir Übles getan. Ich räche mich dafür. Sie hat meiner Familie Schaden zugefügt. Dafür muss ihre Familie büßen. Vergeltung und Wiedervergeltung eröffnen Teufelskreise, die sich manchmal für Generationen über ganze Familien legen und den Hass auf die anderen den Kindern und Kindeskindern in die Wiege legen. Dabei beruft man sich zu Unrecht auf das alttestamentliche „Auge um Auge, Zahn um Zahn.“ Denn diese Regel sollte weniger die Vergeltung erlauben, als sie begrenzen: „Auge um Auge“ ist eine Regel gegen ein Ausufern der Gewalt: du sollst eben dem, der dir ein Auge ausstach, in deinem Zorn nicht zwei nehmen, und dem, der dir einen Zahn ausschlug, nicht sein ganzes Gebiss ruinieren.

 

„Auge um Auge, Zahn um Zahn“ war ein erster Schritt, Vergeltung zu begrenzen. Der 2. Schritt ist noch wesentlich radikaler. Wir lesen im Alten Testament (5. Mose 32), dem ja oft Gewaltverherrlichung vorgeworfen wird: „Dir Rache ist mein; ich will vergelten, spricht der Herr“. Kein blaues Auge mehr, kein Kiefertrauma mehr: Die Rache ist Gottes Sache und nicht der Menschen Recht.

 

Genau an diesen Gedanken, liebe Gemeinde, knüpft der Apostel Paulus im Römerbrief an. Wenige Zeilen vor dem heutigen Predigttext schreibt er: „Vergeltet niemandem Böses mit Bösem. Seid auf Gutes bedacht gegenüber jedermann.“ Und dann weiter: „Rächt euch nicht selbst, meine Lieben, sondern gebt Raum dem Zorn Gottes; denn es steht geschrieben: „Die Rache ist mein; ich will vergelten, spricht der Herr.“ Paulus liest den Römern die Leviten: Keine Selbstjustiz mehr! Keine Vergeltung unter euch! Keine Rachegelüste unter Christen! Darauf verzichtet radikal und überlasst es Gott! Er schafft Gerechtigkeit. Und dazu hat er vielerlei Wege und Weisen, dazu nimmt er allerhand Dinge und Institutionen in seinen Dienst. Eine davon stellt er nun der christlichen Gemeinde in Rom vor Augen. Ich lese aus Römer 13 die Verse 1-7:…

 

Für den Apostel Paulus gibt es nichts auf der Welt, wo Gott nicht seine Finger im Spiel hätte. Für die Römer war der Kaiser selbst ein Gott, der verehrt werden musste. Für Paulus hingegen ist er ein Werkzeug – ein Werkzeug des einen und einzigen, des lebendigen Gottes, der sich Himmel und Erde verdanken. Der König, der Kaiser, der Fürst oder wie die Herrschaften sich auch nannten – sie alle sind im Dienste Gottes in ihrem Amt. Das Schwert ist ihnen von Gott in die Hand gegeben, auf dass sich Rachegelüste nicht mehr verselbständigen und Selbstjustiz aus der Gesellschaft verschwindet. Dazu ist jegliche Herrschaft da: um Recht zu sprechen und für Gerechtigkeit zu sorgen, zu strafen, was dem Leben schadet und was der Gemeinschaft den Frieden raubt. „Sie ist Gottes Dienerin und vollzieht die Strafe an dem, der Böses tut.“ Vielleicht waren die Christen in Rom im Zweifel. Wie sollten sie dem Staat gegenübertreten? Wie sollten sie sich verhalten angesichts eines Kaisers, der sie verfolgen ließ und der sie als Minderheit immer wieder bedrohte? Den Staat sollst du nicht in Bausch und Bogen verteufeln! Meint Paulus. Er hat einen Sinn. Er hat einen Auftrag. Er ist ein Instrument Gottes, mit dem er dem Chaos begegnet und die Willkür des Einzelnen begrenzt. Und so macht uns Paulus zunächst einmal zu guten Staatsbürgern, die es schätzen, dass es eine ordnende Hand gibt und diese ordnende Hand als einen Dienst Gottes an dieser Welt, am Leben überhaupt begreift und bekennt. Dieser Obrigkeit musst du gehorchen. Untertan sei ihr jedermann! „Denn sie ist Gottes Dienerin, dir zugut.“ Bevor wir also als Christen über den Staat schimpfen, was ja so beliebt ist, haben wir Veranlassung ihn wertzuschätzen. Die Obrigkeit ist Gottes Dienerin, dir zugut!

 

Noch während ich die positive Seite dieser Bibelverse ausschöpfe, liebe Gemeinde, noch während ich das Gute und Heilsame an diesen Worten zu entdecken im Begriff bin, regt sich in mir doch schon der erste Widerstand, die ersten Rückfragen, die erste Kritik an diesen Worten. Der Obrigkeit untertan! Was, wenn sie von mir mehr will, als den Verzicht auf Selbstjustiz und Rache? Was, wenn sie von mir ein Bekenntnis will zu einer bestimmten Ideologie? Was, wenn die Obrigkeit mich anfängt zu überwachen auf Schritt und Tritt mit den modernsten Methoden der digitalen Welt? Was, wenn sie beginnt, mein Leben diktatorisch zu bestimmen und jede Abweichung bestraft?

 

Kennen wir nicht gerade als Deutsche die krasse Abweichung des Staates von einem Weg, der allen dient? „Jedermann sei untertan der Obrigkeit“. Gerade unter evangelischen Christen hatte sich in der Kaiserzeit des letzten Jahrhunderts eine Vasallentreue herausgebildet, die nicht den geringsten Spielraum ließ, die Obrigkeit zu kritisieren, selbst dann nicht, als die mit dem Ersten Weltkrieg den halben Kontinent in den Abgrund führte. „Denn sie ist Gottes Dienerin, dir zugut.“ Nein! Niemandem zugut ist diese Zeit gewesen, von Kriegsgewinnlern wie Rüstungsproduzenten einmal abgesehen. Die Liaison von Thron und Altar, von Kaiserreich und Kirche hat jeden kritischen Blick vernebelt und den Widerstand gegen den aufkommenden Nationalsozialismus gelähmt. Als Deutsche Christen bezeichneten sich die Evangelischen, die in unbedingter Loyalität zu einer Obrigkeit standen, die schließlich mit dem 3. Reich Tod und Verderben über Millionen brachte.

 

„Jedermann sei untertan der Obrigkeit“? Ein paar evangelischen Christen war die neue Ideologie nicht zu Kopf gestiegen. Sie haben uns etwas überlassen, was uns helfen mag, auch heute noch die positiven Seiten von Römer 13 als Impuls aufzunehmen. Im Zeichen der Bekennenden Kirche versammelten sich 1934 Männer und Frauen zu einer Bekenntnissynode in Barmen bei Wuppertal. Sie verabschiedeten ein Bekenntnis gegen eine Obrigkeit, die den Anspruch auf das gesamte Leben der Menschen erhob, ein Bekenntnis gegen einen totalitären Anspruch – ein Bekenntnis, das die Grundlinien von Römer 13 aufnimmt, aber auch die Grenzen aufzeigt. Die 5. These der Barmer Theologischen Erklärung lautet folgendermaßen:

 

„Die Schrift sagt uns, dass der Staat nach göttlicher Anordnung die Aufgabe hat in der noch nicht erlösten Welt, in der auch die Kirche steht, nach dem Maß menschlicher Einsicht und menschlichen Vermögens unter Androhung und Ausübung von Gewalt für Recht und Frieden zu sorgen. Die Kirche erkennt in Dank und Ehrfurcht gegen Gott die Wohltat dieser seiner Anordnung an. Sie erinnert an Gottes Reich, an Gottes Gebot und Gerechtigkeit und damit an die Verantwortung der Regierenden und Regierten. Sie vertraut und gehorcht der Kraft des Wortes, durch das Gott alle Dinge trägt.

 

Wir verwerfen die falsche Lehre, als solle und könne der Staat über seinen besonderen Auftrag hinaus die einzige und totale Ordnung menschlichen Lebens werden und also auch die Bestimmung der Kirche erfüllen.“

 

Ja, der Staat hat aus Sicht eines Christen eine Ordnungsfunktion für die Gesellschaft und das Leben, die sich dem Auftrag Gottes verdanket. Aber, was bei Paulus sehr allgemein, „böses“ Tun oder „gutes“ Tun genannt wird, findet in der Barmer Theologischen Erklärung eine Erläuterung: Für Recht und Frieden hat die Obrigkeit zu sorgen. Gut ist, was dem dient. Böse ist, was dies bedroht. Und die genannte Theologische These erinnert daran, dass wer einen Auftrag bekommt, dass der auch dem Auftraggeber gegenüber verantwortlich ist. „Die Kirche erinnert an Gottes Reich, an Gottes Gebot und Gerechtigkeit und damit an die Verantwortung der Regierenden und Regierten.“

 

Ja, liebe Gemeinde, die Obrigkeit, welche Form auch immer sie annimmt, ist nach unserem Glauben eine Weise, auf die Gott das Leben zum Guten ordnen will. Aber eben gerade daran muss sie sich auch messen lassen. Wie ist es um das Gemeinwohl bestellt? Wie ist es um den Respekt vor Minderheiten bestellt? Dient die Obrigkeit dem Recht und dem Frieden – nach innen in die Gesellschaft hinein, aber auch nach außen in den internationalen Zusammenhang der Völker hinein? Diese Fragen können wir stellen, wo immer wir leben: in Deutschland, in Israel, in den palästinensischen Gebieten, in Jordanien. Und diese Fragen zeichnen unsichtbare Linien der Loyalität, die wir dem jeweiligen Staat gegenüber an den Tag legen sollten. „Jedermann sei untertan der Obrigkeit“. „Ja! Aber…!“ müssen wir darauf antworten. Die Zeiten eines blinden Kadavergehorsams, wie ihn die Mehrzahl der Protestanten in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts an den Tag gelegt hat, ist unwiderruflich vorbei. Wir achten den Staat. Wir halten ihn hoch, weil wir seinen Wert sehen, seinen Beitrag zur Ordnung des Lebens. Aber wir verbieten uns nicht mit Römer 13 gegenseitig oder selbst den Mund, wenn wir sehen, dass sich der Staat Rechte und Einfluss anmaßt, die ihm nicht zustehen.

 

Im Bibeltext selbst gibt es für dieses ausbalancierte Verständnis einen Schlüssel. Da heißt es nämlich „Darum ist es notwendig, sich unterzuordnen, nicht allein um die Strafe, sondern auch um des Gewissens willen.“ Der Gehorsam um der Strafe willen ist ein kindlicher, der Gehorsam um des Gewissens willen ist ein mündiger. Ohne Strafe funktionieren Recht und Gerechtigkeit nicht. Aber mit Strafe allein funktionieren sie auch nicht. Das Gewissen liefert uns ein Sensorium, das uns hilft, unser Urteil zu bilden. Der Gehorsam eines Christen gegenüber dem Staat ist ein mündiger Gehorsam, der im Glauben an Gott seine Begründung und seine Grenze hat. Wir sind Kinder dieser Welt, aber Gott ist unser Vater und Jesus Christus unser Herr.

 

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Wolfgang Schmidt, geb. 1960, Pfarrer der Evangelischen Landeskirche Baden

Seit Juli 2012 Repräsentant der EKD im Heiligen Land mit Sitz an der Erlöserkirche Jerusalem



Propst Wolfgang Schmidt
Jerusalem, Israel
E-Mail: propst.schmidt@redeemer-jerusalem.com

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