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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

Totensonntag / Ewigkeitssonntag, 25.11.2018

Predigt zu Matthäus 11:25-30 (dänische Perikopenordnung), verfasst von Jens Torkild Bak

Was ist das, was Gott – infolge Jesus - hier im Matthäusevangelium vor den Verständigen und Weisen verborgen hat, um es stattdessen den Unmündigen zu offenbaren? Wen sollen wir uns unter den Unmündigen vorstellen? Unmündigkeit ist nach dem Zusammenhang zu urteilen wohl kaum etwas, was mit dem Alter zu tun hat, dem Mündigkeitsalter. Viel eher verweist der Begriff der Unmündigkeit auf eine Klasse in der Gesellschaft, die ohne Macht und Einfluss im Lande ist, die darauf angewiesen ist, unter Bedingungen zu leben, die einseitig von anderen festgelegt sind.

Womit wir wohl genau vor der Gruppe stehen, an die sich Jesus danach direkt wendet und die er die mühseligen und beladenen nennt: Kommt her zu mir, alle, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch erquicken.

 

So weit so gut. Aber es stellt sich eine andere Frage: Worauf will Jesus hier hinaus? Was ist das für eine Verheißung, die er ausspricht? Ist seine Botschaft eine sozialpolitische Botschaft, die auf ein künftiges Modell der Gesellschaft abzielt, wo auch die Schwachen eine Stimme haben und wo die willkürliche Ausnutzung von ihnen durch die Starken ein Ende hat? Oder ist seine Botschaft eine religiöse Botschaft, die eine jenseitige Welt meint, wo diese sogenannten Unmündigen für all das, was sie in dieser Welt erdulden mussten, entschädigt werden? Und Erquickung erfahren nach all ihrer Mühsal, während andere abgesahnt haben?

Die Fragen sind genauso interessant wie die Antworten ungewiss sind. Eines ist jedoch über jeden Zweifel erhaben: Jesus wendet sich an die, deren Leben, Schicksal und Alltag und deren tägliche Mühen übersehen werden – vielleicht vor allem weil sie das Leben leben, das uns glückerweise erspart ist und an das wir am liebsten nicht erinnert werden.

 

Zurück zu der Frage, die wir anfangs gestellt haben: Was ist es (dann), was Gott vor den Weisen und Klugen verborgen und den Unmündigen offenbart hat? Man kann die Polemik schwerlich überhören, die süße Rache und den gerechten Zorn in den Worten. Selbst die klassische Gegenüberstellung von den ach so Klugen einerseits und den sogenannten ganz gewöhnlichen Menschen andererseits kann ja viele verschiedene Assoziationen wecken. Man denke nur an die heftige Diskussion in dem Bauwagen, wo der Maurer und der Zimmermann immer, wenn es am Bau Probleme gibt, sich darin ganz einig sind, dass die ganze Misere darin besteht, dass diese klugen Architekten, die die Zeichnungen gemacht haben, ja direkt von der Schulbank kommen. Mit anderen Worten: Die haben nie ein Werkzeug in der Hand gehabt, und die kennen die Wirklichkeit auf dem Baugerüst nicht. Und darin haben sie, der Maurer und der Zimmermann, sicher vollkommen Recht. Und es ist jedenfalls eine unumstößliche Tatsache, dass die Welt sich verschieden ausnimmt je nach dem, aus welcher Perspektive man sie betrachtet. Alles hängt von den Brillen ab durch die man sieht.

Man denke nur an einen Krieg, um ein anderes Beispiel zu nennen. Ein Krieg wird an einem Schreibtisch ausgedacht oder auf einer Sitzung beschlossen, sicher aus so und so vielen guten Gründen. Aber die Wirklichkeit des Krieges wird erst auf dem Schlachtfeld erfahren und in den zerbombten Städten, und da denkt dann dafür niemand mehr an die guten Gründe dafür, dass man den Krieg begonnen hat. In dem Klassiker von Erich Maria Remarque: „Im Westen nichts Neues“, den wir bei der Begehung des hundertjährigen Jubiläums für den Waffenstillstand des Ersten Weltkrieges hier im November in Erinnerung gerufen haben als das angeblich wahrhaftige Zeugnis vom Leben in den Schützengräben, diskutiert eine Gruppe von deutschen Soldaten einmal die Frage nach der Ursache des Krieges. Wir sind alle ganz einfache Leute, sagt einer, und in Frankreich sind die meisten Leute ja auch Arbeiter, Handwerker oder kleine Beamte. Warum soll ein französischer Schmied oder Schuster denn jetzt Lust haben, uns anzugreifen? Nein, das sind nur die Regierungen. Ich hatte nie Franzosen gesehen, ehe ich hierher kam, und den meisten Franzosen ging es genauso. Die sind genauso wenig gefragt worden wie wir. - Warum ist denn überhaupt Krieg, fragt ein anderer. Es muss jemanden geben, der etwas vom Kriege hat, lautet die Antwort, nur gehört niemand von uns zu denen. Ende des Zitats. Die, die sich den Krieg ausgedacht haben, und die die seine Wirklichkeit ertragen müssen, sind selten dieselben.

In der mehr munteren und jedenfalls weniger blutigen Abteilung der Beispielssammlung denkt der Betriebsrat Morten Münster nach über das Verhältnis zwischen dem, was er die parallele Welt nennt, und der Welt der Wirklichkeit. Das geschieht in dem Buch „Jytte vom Marketing ist leider für heute gegangen“, ja so heißt das Buch tatsächlich: „Jytte vom Marketing ist leider für heute gegangen“, letztes Jahr im Verlag Gyldendal in Dänemark erschienen.

In der parallelen Welt nehmen wir an langen Strategieseminaren teil und formulieren die grundlegenden Werte des Unternehmens in zehn einleuchtenden Bulletins. In der parallelen Welt sind wir wandelnde Excel-Bögen und innovativ und offen für Veränderung. In der Welt der Wirklichkeit aber versuchen wir so gut wie möglich zu überleben, von einem Tag zum andern, und hier kann nicht einmal der Chef stehenden Fußes die grundlegenden Werte des Unternehmens nennen, sondern er muss sich erst ins Intranet des Unternehmens einloggen, um sie zu finden. In der parallelen Welt haben wir vernünftige und durchdachte Pläne, Visionen für das eine und andere im privaten Leven wie auch im Arbeitsleben. In der Welt der Wirklichkeit sind wir Menschen, die oft ganz unrealistisch handeln. Erfolgreiche Strategien in der parallelen Welt, schreibt Morten Münster, haben das kleine Problem in sich, dass sie in der wirklichen Welt nicht funktionieren. Hier gelten nämlich einige ganz andere Regeln. Ende des Zitats. Und das können sicher viele von uns bestätigen. Aber wie verbindet man die eine mit der anderen Welt, die Weisheit des Kopfes mit den Erfahrungen der wirklichen Welt, den Schreibtisch mit dem Schlachtfeld, den Handwerker mit dem Architekten?

 

Am wichtigsten aber ist es her herauszufinden, warum Jesus sich dafür entscheidet, sich mit den Unmündigen zu identifizieren statt mit den Klugen. Würden wir dasselbe tun? Würden wir nicht den sicheren Weg wählen und uns zu denen gesellen, die von den Dingen etwas verstehen und die Tagesordnung bestimmen? Ja, das würden wir wohl. Meistens. Aber warum gesellt sich Jesus zu den anderen? Die banale und vereinfachte, aber vielleicht auch die einzige wahrscheinliche Erklärung ist die, dass die Weisen und Verständigen seine Hilfe nicht brauchen. Ja, sie haben generell in dieser Weise die Gemeinschaft mit anderen nicht nötig. Sie stützen sich solide und sicher auf das, was man die Eigenmächtigkeit des Verstandes nennen kann, und es liegt in der Natur der Sache, dass sie nichts anderes brauchen.

Deshalb geht er sofort zu den anderen, zu denen, die in der Wirklichkeit leben, wo die großen Pläne und Visionen sich entfalten und wo die Konsequenzen dann von ganz gewöhnlichen Menschen getragen werden müssen. Menschen, die einander im höchsten Maße brauchen, ihre gegenseitige Barmherzigkeit, Nachsicht und Versöhnlichkeit, um das zu ertragen, was ertragen werden muss. Die die Macht der Liebe brauchen, die allein das Herz frei machen kann, froh und leicht, und die verhindern kann, dass man kaputtgeht und unter der Last der Wirklichkeit zusammenbricht. In dieser Hinwendung zu den „Unmündigen“ offenbart sich in schönster und einfachster Weise, was man unter der Botschaft von der Menschwerdung Gottes in Jesus von Nazareth zu verstehen hat als eine Botschaft der Liebe, in der die Menschen der Wirklichkeit nicht vergessen sind. Einen schönen Sonntag. Amen.



Dompropst Jens Torkild Bak
Ribe, Dänemark
E-Mail: jtb(at)km.dk

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