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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

1. Advent, 02.12.2018

Predigt zu Matthäus 21:1-9 (dänische Perikopenordnung), verfasst von Eva Tøjner Götke

”Es ist schwer, wenn nicht unmöglich, das Leben eines Menschen chronologisch zu erzählen, von der Wiege bis zur Bahre“.

So beginnt der Erzähler im letzten Roman des isländischen Autors Jon Kalman Stefansson.

Und er fährt fort:

Wir leben nicht linear.

Kraft unserer Erinnerung leben wir genauso viel in der Vergangenheit wie in der Gegenwart.

Wenn wir ein Leben chronologisch erzählen, so deshalb, weil wir gerne einen Zusammenhang und einen Sinn schaffen wollen.

Wir haben eine Sehnsucht nach Zusammenhang.

Aber das Leben hängt ja nicht chronologisch und linear zusammen.

Das wissen wir sehr wohl.

Da geschehen Brüche, und es gibt neue Anfänge.

Wir resümieren. Wir verwerfen. Wir bewahren auf. Wir ergreifen neue Möglichkeiten. Und wir versuchen, so gut wie möglich zu leben.

 

Ich beginne hier, weil es der erste Sonntag im Advent ist. Das Neujahr der Kirche.

Die Geschichte von Gott, der Mensch wird, fängt von vorne an.

Aber die Geschichte beginnt eben nicht am Anfang.

Am chronologischen Anfang.

Bei seiner Geburt.

Wir müssen warten.

Vier Sonntage müssen wir warten.

Vier Sonntage wird eine Erwartung aufgebaut an das Kind, das zur Welt kommen wird.

Die Geschichte beginnt am Ende – also chronologisch gesehen.

Wir hören heute vom Einzug min Jerusalem – der ja chronologisch gesehen der Anfang vom Ende der Geschichte ist.

 

Warum das?

Warum beginnt das neue Kirchenjahr seine Geschichte von Gott, der Mensch wurde, mit dieser Szene, wo der Eselskönig in Jerusalem einreitet und als der lange erwartete Befreier, der lange erwartete Sohn Davids gefeiert wird, der mit Frieden, Freiheit und Gerechtigkeit kommt?

 

Vielleicht weil wir verstehen sollen, dass wir nicht nur chronologisch und linear leben – im Jetzt, wie wir es heute gerne sagen, sondern weil wir in mehreren Zeiten zugleich leben: in der Vergangenheit durch unsere Erinnerung – und schon jetzt in der Zeit, die kommen wird, kraft unserer Erwartung auf das Leben.

Erinnerung und Erwartung.

 

Wenn wir das heutige Evangelium von Jesus hören, der in Jerusalem hineinreitet – und sich seinen letzten Tagen nähert – am ersten Sonntag im Advent, hören wir das ja vor dem Hintergrund dessen, dass wir die Geschichte kennen und wissen, wie sie endet.

Wir wissen, dass der Rausch der Freude im Volk nicht anhalten wird, dass sich die Stimmung im Volk wenden wird.

Dieselben Menschen werden denselben Mann verlassen und verraten, dem sie hier in einem euphorischen Jubelgesang zujubeln.

 

Vielleicht spiegelt sich dieses Wissen in dem sanftmütigen Blick Jesu wieder.

Sanftmut hat mit Trauer zu tun.

Er weiß es besser.

Aber er lässt sie nicht im Stich. Er gibt sich hin. Auch wenn er weiß, dass dies seinen Preis hat.

Wir sollen heute in dieser Geschichte mehr hören als eine Geschichte von dem Mann Jesus von Nazareth und seinem Schicksal.

Wir sollen die Geschichte als eine Eröffnungsszene für uns hören.

Für das neue Jahr, das nun beginnt.

 

Die Geschichte handelt nicht von damals – im chronologischen Sinne – als Gott Mensch wurde. Sie handelt vielmehr vom Heute – dass Gott Mensch wird, wenn wir das annehmen, womit er kommt, es uns zu Herzen nehmen, von ihm leben, von seiner Vergebung, dem Frieden und der Freiheit und Gerechtigkeit, deren Erfüllung er ist, so dass wir Sinn und Zusammenhang in unserem Leben finden.

 

Wir sollen uns selbst in die Geschichte einbringen.

Und sie bei uns einziehen lassen.

So wie dies die Liederdichter sagen konnten.

Und den König der Ehren in unser Leben einziehen lassen – so dass Gott Mensch wird – nicht nur ein für alle Mal, chronologisch, linear erzählt im Neuen Testament, sondern immer wieder, wenn Friede und Freiheit und Gerechtigkeit unser Leben neu machen – und eine Erwartung in uns schaffen, so dass wir uns in das neue Jahr begeben mit all dem, was es bringen mag.  

 

Die Geschichte von Gott, der Mensch wird, beginnt in der Erwartung.

Einige sagen, sie würden nichts mehr erwarten.

Denn sie können nur enttäuscht werden. Und das ist immer schmerzhaft.

Aber meinen wir das nun auch?

Ist das nicht nur etwas, was wir sagen, um uns vor dem zu schützen, vor dem wir uns nicht schützen können: Unglück und zerronnene Träume.

 

Wäre das nicht ein freudloses Leben, wenn wir keine Erwartungen hätten?

Wenn wir uns nie hingeben könnten – und jubeln uns freuen, nur weil wir wussten, dass das ja doch nicht von Dauer sein wird.

 

Jedes Neujahrsfest ist voll von gutem Willen und guten Vorsätzen.

So soll es sein.

Und auch wenn wir wissen, dass die Hälfte von dem, was wir uns vornehmen, nicht Wirklichkeit wird.

Da ist eine Nachsicht in dem sanftmütigen Blick vom Mann auf dem Esel.

Und das gibt uns Trost, dem neuen Jahr entgegenzugehen mit allen guten Wünschen für Gottesdienst und Leben und Licht und Gemeinschaft in der Kirche. Amen.



Pastorin Eva Tøjner Götke
Odense, Dänemark
E-Mail: Etg(at)km.dk

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