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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

1. Advent, 02.12.2018

Predigt zu Matthäus 21:1-11, verfasst von Bernd Giehl

Liebe Gemeinde!

Was, so frage ich mich, was wäre wohl passiert, wenn er sich selbst zu seinem Einzug geäußert hätte? Wenn er beispielsweise die Redaktion der „Jerusalem Times“ angerufen und ein Interview angeboten hätte. Oder wenn „Radio Jerusalem“ noch am gleichen Tag ein Gespräch mit ihm gebracht, in dem er erklärt hätte: „Ja, es ist richtig, was die Leute gedacht oder nur gefühlt haben. Ich bin der von Gott gesandte Messias. Ich werde Israel den Frieden Gottes bringen, nach dem es sich schon so lange gesehnt hat.“ Dann wäre doch sicher alles anders verlaufen. Dann hätten die Massen sich nicht verlaufen, sie wären nicht nach Hause zurückgekehrt, zu ihren Ehefrauen und ihren Topfpflanzen, sondern sie hätten die Burg des Herodes gestürmt, ihn abgesetzt und Jesus auf dessen Thron gesetzt. Zumindest hätten sie Jesus vor dem Zorn der Priester geschützt. Dann hätte er nicht vor Pilatus gestanden, die Soldaten hätten ihm niemals die Dornenkrone aufgesetzt und ihn verspottet.

Und ganz bestimmt hätten sie nicht geschrien „Kreuzige ihn.“ Alles wäre anders verlaufen. Warum, um alles in der Welt, hat er sich nicht öffentlich erklärt?

 

*

 

Ach ja. Verzeihen Sie bitte. Für einen Moment habe ich vergessen, dass es damals ja noch gar keine Zeitungen gab. Die entstanden erst durch die Erfindung Gutenbergs und das auch erst allmählich. Und Radios, in denen Nachrichten noch am gleichen Tag gesendet werden konnten, gab es erst recht noch nicht.

Also alle Fragen restlos geklärt? Aber nein doch. Vielleicht fällt es dem Leser des Matthäusevangeliums nicht auf, dass da noch die eine oder andere Frage offen ist, weil da gleich schon das nächste Event, nämlich die Tempelreinigung folgt, bei der der sonst so sanfte Jesus die Peitsche schwingt. Das alles ist so heftig und in so atemberaubenden Tempo, dass man kaum zum Atemholen kommt, geschweige denn zum Nachdenken.  Dafür muss man eher den Bericht des Johannesevangeliums heranziehen, der den Einzug in Jerusalem ganz ähnlich schildert wie Matthäus, nur dass er eine ganz erstaunliche Bemerkung hinzufügt, nämlich dass die Jünger nicht verstanden, was er da tat. Wenn aber die Jünger nicht verstanden, wie sollte dann die Menge verstehen?

Er hätte ja auch reden können. Ein paar Worte zu seiner Aktion sagen. Er hätte den Leuten erklären können, dass er der von Gott gesandte Messias ist und deshalb in seine Hauptstadt einzieht.  

Wahrscheinlich wäre er dann nicht gekreuzigt worden.

 

*

 

Aber vielleicht gibt es ja doch noch eine Erklärung für das alles. Vielleicht spielt da ja einer mit, der nicht selbst auftritt, dessen Name aber im Abspann genannt werden müsste. Nur dass es damals keinen Abspann gab, aber das hatten wir ja schon. Es ist der Evangelist Matthäus, und ich glaube, er hat seinen Anteil an der Inszenierung. Denn eine Inszenierung ist es wohl, auch wenn das nicht jedem gleich klar wird. Es ist sozusagen ein kleiner Fehler im Film, der ihm unterläuft, den er vielleicht sogar bemerkt, der ihm aber egal ist. Es ist das Sacharja Zitat vom kommenden König Israels, der angeblich auf einem Esel und einem Füllen, also einem Eselskind reitet. Wenn wir einmal annehmen, dass der Evangelist Matthäus selbst Jude war, wofür einiges spricht, müsste er eigentlich wissen, dass die jüdischen Dichter, wenn sie Poesie schrieben, gern denselben Sachverhalt noch einmal mit etwas anderen Worten ausdrückten. Natürlich ist nicht gemeint, dass Jesus nun auf zwei Eseln reiten muss, aber der Evangelist legt es nahe. Vielleicht ist er ja auch so einer, der alles wörtlich nehmen muss; sei es auch gegen jede Logik. Und dann legen die, die das Geschehen beobachten, ihre Kleider auf die Straße, damit nicht einmal das Reittier mit dem Schmutz der Straße in Berührung kommt und man fragt sich, ob sie noch nie einen Mann gesehen haben, der auf einem Esel in die Stadt einreitet. Wie viele Männer auf Eseln mögen wohl täglich durch eins der Jerusalemer Tore eingeritten sein? Fünfzig? Hundert? Ob die Zuschauer wohl alle so gelehrt waren, dass sie das Sacharja Zitat kannten? Doch wohl eher nicht. Oder kennen sie alle den Wanderprediger, der durch die Provinz gezogen ist, predigend, diskutierend und Kranke heilend? Auch das ist wohl eher unwahrscheinlich.

Ja wirklich, das ist schon ein seltsamer Einzug. Und wie rasend schnell er vorbei ist. Wir werden Matthäus befragen müssen. Wie das gehen soll? Lassen Sie sich überraschen.

 

*

 

Es ist Nacht. Matthäus sitzt am Esstisch und schreibt. Ein Schreibtisch passt nicht in die Zweizimmerwohnung in Jaffa, die er und seine Frau bewohnen. Tagsüber arbeitet er am Hafen. Er be- und entlädt Schiffe. Die zentnerschweren Säcke machen ihm langsam den Rücken kaputt, aber er beschwert sich nicht. Es ist halt so. Früher hatte er in einer Bibliothek gearbeitet er hatte Handschriften übersetzt und verwaltet, aber dann erfuhr irgendjemand, dass er Christ war und hernach war es vorbei mit seiner Anstellung. Aber da man ja von irgendetwas leben muss, arbeitet Matthäus jetzt im Hafen. Nachts versucht er ein Buch zu schreiben, das er „Evangelium“ nennt.

In dieser Nacht überlegt er, wie er seinen Lesern klarmachen soll, dass Jesus der von Israel erwartete Messias ist. Er hat schon von der Ankündigung der Geburt Jesu durch den Engel Gabriel erzählt, aber das ist schon so lange her, dass seine Leser es vergessen haben könnten. Auch das eine oder andere Wunder hat er in seine Erzählung eingeflochten. Er hat auch davon erzählt, wie Petrus sagt, Jesus sei der Messias. Aber reicht das? Reicht das seinen Lesern? Muss da nicht noch etwas hin, was ihn eindeutig macht? Matthäus schaut aus dem Fenster. Es ist eine mondlose Nacht. Matthäus behauptet, es sei Vollmond gewesen, aber ich weiß es besser. Ich habe diese Geschichte schließlich erfunden.

Aber egal. Die Frage, ob in dieser Nacht nun der Mond schien oder nicht, werden wir nicht mehr klären können. Sie ist auch nicht wichtig. Wichtiger ist, dass Matthäus zwar noch ein paar Worte aufs Pergament schreibt, sie dann aber wieder auskratzte. Das muss er noch anders formulieren. Ein paar Minuten später sinkt ihm der Kopf auf den Tisch.

Und dann träumt er. Er steht am Stadttor von Jerusalem, inmitten einer großen Menge. Sie scheint auf etwas zu warten. Was es ist, kann Matthäus nicht erkennen. Es ist Frühling; die Bäume blühen. Dann kommt ein Mann auf einem Pferd; der Mann grüßt; die Menge jubelt ihm zu.  Der Mann ist kostbar gekleidet. Er trägt eine Rüstung, Schild und Schwert. Vielleicht ist der Mann ein Gesandter des Kaisers in Rom; vielleicht auch etwas anderes. Auf jeden Fall ist er mächtig. Er grüßt huldvoll in die Menge.  Die Menschen jauchzen noch lauter. Sie heben ihn vom Pferd, zwei nehmen ihn auf die Schulter, sie schreien: „Heil dem Gaius Tertius, dem Gesandten des Kaisers.“ Dann wacht Matthäus auf.

Der Morgen dämmert schon herauf. Die ersten Sonnenstrahlen gehen über den Horizont. Noch eine Stunde, dann muss er zum Hafen aufbrechen. Aber erst einmal zieht er das Pergament zu sich. Er weiß jetzt, wie er weitermachen muss. Er wird Jesus in Jerusalem einreiten lassen. Er wird es so darstellen wie in seinem Traum. Nur das Schwert und die Rüstung wird er weglassen. Jesus in einer Rüstung, das kann er sich nicht vorstellen. Das passt einfach nicht zu ihm. Nicht zu einem, der die Armen seligpries und den Friedensstiftern verhieß, sie würden die Erde besitzen. Also muss die Rüstung weg und auch die schönen Kleider. Und das Pferd? Das muss auch weg. Im nächsten Augenblick fällt ihm das Sacharja Zitat ein. „Du, Tochter Zion, freue dich und du, Tochter Jerusalem, jauchze. Siehe, dein König kommt zu dir, ein Gerechter und ein Helfer, arm und reitet auf einem Esel, auf einem Füllen der Eselin. Denn ich will die Wagen vernichten in Ephraim und die Rosse in Jerusalem, und der Kriegsbogen soll zerbrochen werden. Denn er wird Frieden geben den Völkern und seine Herrschaft wird sein von einem Meer bis zum anderen und vom Strom bis an die Enden der Erde.“ (Sacharja 9,9-10)

Er schreibt ein paar Sätze nieder, dann muss er zur Arbeit. Heute Abend wird er die Geschichte zu Ende schreiben.

 

*

 

Ja, so war es. Wirklich und wahrhaftig. Ich muss es wissen, denn ich habe es erzählt.

Und dann erinnere ich mich an einen anderen Satz, der nicht im Matthäusevangelium steht, sondern in einem anderen Evangelium: „Und das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns, und wir sahen seine Herrlichkeit; eine Herrlichkeit als des eingeborenen Sohnes vom Vater, voller Gnade und Wahrheit.“

Fragt sich nur, wer ist dieses „wir“? Sind das die Menschen am Stadttor von Jerusalem? Gewiss, am Vortag haben sie ein Wunder gesehen, das Jesus tat. Sie haben gesehen, wie Jesus einem Blinden das Augenlicht wiedergab. Im Augenblick sind sie davon überzeugt, dass Jesus ein großer Mann ist, der Dinge tun kann, die andere nicht tun können. Sie haben ihm den Weg bereitet, aber es ist ein seltsamer Weg. Keiner, den man für den Messias erwarten würde. Es ist der Weg ans Kreuz.

Und insofern hat dieser Einzug nicht nur eine symbolische Dimension, sondern diese symbolische Dimension ist wichtiger als das, was wirklich geschah. Jesus zieht in „seine“ Hauptstadt ein, aber er kommt nicht mit Macht und Glanz. Er will nicht unterwerfen, er will nicht die Macht erobern, er will die Herzen der Menschen. Mit am schönsten hat das Kurt Rose in seinem Lied: „Der Eselreiter“ ausgedrückt. (EG 547). Da heißt es. „Der Eselreiter. Seht der Eselreiter! Zieht so der Fürst in seine Stadt? Macht euch gefasst auf Unerhörtes: Der lässt die Reichen leer ausgehn, das arme Volk, das macht er satt.“ Und die dritte Strophe sagt: „Der Friedenskönig. Seht, der Friedenskönig! Kein Schwert, kein Spieß, mit bloßer Hand und bloßem Wort schafft er den Frieden, Es siegt der Hosiannamann, nun  schallt der Himmel, blüht das Land.“

 

*

 

Da ist sie wieder. Dieselbe Spannung, die fast unerträglich wirkt. Ein König, aber arm. Ein König, der auf einem Esel reitet. Ein Herrscher aber ohne Purpur und Gepränge. Einer, der die Verhältnisse in Frage stellt, aber keine Gewalt anwendet um sie zu verändern. Ein Revolutionär, aber ohne Gewalt. Er ist nicht zu Gast bei den Reichen, sondern lädt die Armen zu sich ein. Ihnen verspricht er die Teilnahme an Gottes Herrschaft.

Und wenn er nun zu uns kommt? Wenn er tatsächlich kommt, sagen wir in diesem Advent; sind wir dann für ihn bereit? Oder sagen wir: Du bist uns zu radikal. Du verlangst zu viel von uns. Du willst, dass wir uns um die Flüchtlinge kümmern. Du willst, dass wir ihnen unsere Türen nicht verschließen. Sie seien Menschen wie wir, sagst du, aber wir haben Angst vor ihnen.

All das können wir natürlich sagen. Aber dann verweigern wir dem König Gottes den Zutritt. Dann bleiben wir allein mit unserer Angst um uns selbst, unserer Sorge um das eigene Leben. Der Jesus in unserer Geschichte ist anders. Er hat keine Angst um seinen Besitz, denn er besitzt ja gar nichts. Er hat nicht einmal Angst um das eigene Leben. Er wird es hingeben um seines Glaubens und seiner Botschaft willen.

Wir sollten das Risiko eingehen und ihm folgen.



Bernd Giehl
Nauheim, Hessen, Deutschland
E-Mail: giehl-bernd@t-online.de

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