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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

1. Advent, 02.12.2018

Der aktive Wartestand
Predigt zu Matthäus 21:1-11, verfasst von Reiner Kalmbach

Die Gnade Gottes unseres Vaters, die Liebe Jesu unseres Herrn und die lebensspendende Kraft des Heiligen Geistes seien mit uns allen. Amen.

 

Liebe Gemeinde,

 

Könnte man über eine konkrete biblische Geschichte, z. B. die Geburt Jesu, auch an Pfingsten predigen? Schwer vorzustellen. Oder über das Pfingstwunder an Karfreitag? Schon gar nicht!

Es gibt aber ein Ereignis das uns zwei Mal im Jahr als Thema, oder als Lesung in unseren Gottesdiensten begleitet. D.h. wir hören das selbe Wort an zwei verschiedenen Sonntagen. Es handelt sich um den Einzug Jesu in Jerusalem.

Heute hören wir die Version des Evangelisten Matthäus, aus dem 21. Kapitel, die Verse 1 – 11

 

Textlesung

 

1. Hoffnung – Leiden – Besinnung

diese drei Worte fielen mir ein, liessen mich nicht mehr los, begleiteten mich während der Vorbereitung dieser Predigt.

Zweimal im Kirchenjahr hält Jesus in den Lesungen unserer Gottesdienste Einzug in Jerusalem.

Passion und Advent greifen so ineinander. Beides sind Zeiten der Vorbereitung. Beides sind Zeiten zum Innehalten. Beides sind Zeiten der Besinnung..., und der Fragen, und der Zweifel...

Was ist da passiert?, wie kann das sein?, was hat der Mann aus Nazareth getan, dass die Menschen, die ihm einen triumphalen Empfang bereiten, plötzlich, ein paar Tage danach, seinen Kopf fordern?

Die Menschen die ihn feiern, ihn wie einen König empfangen, haben alle ihre Hoffnungen auf ihn gesetzt. Oft sind es gerade Menschen die leiden, die wissen, was Hoffnung ist. Sie vertrauen auf das was kommt, auf eine positive Veränderung. Ich sehe in meinen Gedanken die Gesichter der Menschen am Wegesrand, viele von ihnen haben buchstäblich nichts mehr zu verlieren, denn sie gehören nicht einmal mehr zur Gesellschaft, sind ausgeschlossen, „ausgesetzt“. Andere, vielleicht die jugendlichen Hitzköpfe, warten auf irgendein Zeichen, eine Gelegenheit loszuschlagen, sich gegen die verhassten Römer und ihre jüdischen Vasallen zu erheben.

Und ist es nicht so? Enttäuschte Erwartungen, enttäuschte Hoffnungen können ganz schnell in Aggression umschlagen. Derjenige, der in den Augen und Herzen der Menschen die Hoffnungen geschürt hat, wird zum Sündenbock, auf ihn und über ihn kommt der ganze (Volks)-zorn.

 

Und doch lesen und hören wir zu Beginn der Karwoche und zu Beginn der Adventszeit die selbe Geschichte. Enttäuschte Hoffnung? „Kommt doch zur Besinnung!“, möchte ich den Menschen zurufen. „Ihr seht in dem Mann aus Nazareth die Erfüllung eurerWünsche und eurer Vorstellungen..., aber die Wege Gottes waren schon immer anders...“

Und so hören wir dieses Wort heute wieder: Jesu Einzug in Jerusalem heisst: es ist noch nicht das letzte Wort gesprochen in unserem Leben. Trotz aller Hiobsbotschaften, trotz der Gewalt die uns aus Bildschirmen und Zeitungen entgegenspringt, trotz des vermeintlichen Siegeszuges eines eiskalten Egoismus und der scheinbaren endgültigen Machtübernahme des Geldes in dieser Welt. Trotz allem..., oder vielleicht gerade deshalb: wir haben noch etwas zu erwarten! Da ist noch nicht alles gesagt!

Besinnung: wer auf Erlösung wartet, nimmt die Welt so wahr, wie sie ist, wer auf Erlösung wartet, weiss, dass mit dieser Welt etwas nicht stimmt.

 

Ach ja, auf wen warten die Menschen in Jerusalem?, wem bereiten sie diesen triumphalen Einzug? Sie warten auf den Messias, den Erlöser Israels..., und wer so wartet, macht sich natürlich seine Vorstellungen, ein genaues Bild...“so muss er sein, so wird er sein!“

Diese (menschliche) Eigenschaft oder Schwäche machen sich andere zu Nutze.

 

2. Falsche Messiasse

Immer wieder tauchen, wie aus dem Nichts, „Retter“ auf, Messiasse. Besonders in Not-und Krisenzeiten. Wir Deutsche wissen das nur zu gut. Und nach dem spektakulären politischen Niedergang Brasiliens, verursacht durch Korruption und Misswirtschaft, wählten die Brasilianer vor einem Monat ihren Messias: Bolsonaro. Er gewann die Wahl mit den Stimmen der „evangelicos“. Viele der Wähler waren früher glühende Anhänger von Präsident Lula, der es einst vom Arbeiterführer bis zum Staatspräsidenten geschafft hatte. Auch er war für viele Menschen ein Retter, und ich muss zugeben, auch ich hatte grosse Hoffnungen auf ihn gesetzt. Jetzt sitzt er im Gefängnis. In Argentinien hatten wir den Messias Peron und seine Frau Evita. Venezuela hatte seinen Chavez und Cuba seinen Fidel. Diese „Retter“ fallen nicht einfach vom Himmel, ihnen wird hier auf Erden der Weg bereitet, die Zeit muss reif sein, damit die Botschaft ankommen kann, eine Botschaft die ganz den Vorstellungen und Träumen der Menschen entspricht.

Doch zurück in die Zeit Jesu: nach vielen Jahren habe ich neulich mal wieder das Buch „Ben Hur“ in die Hand genommen. Viele von Ihnen werden die berühmte Verfilmung kennen, den Monumentalschinken aus Hollywood. Kein Vergleich zum Buch...

Der junge Sohn aus dem Hause Hur, einer der reichsten Familien Jerusalems zur Zeit Jesu, gerät durch Zufall in die Fallstricke des Lebens und der Weltpolitik. Der Erbe des Familienbesitzes und Wahrer des Ruhmes seines verstorbenen Vaters verliert alles, sieht sich plötzlich als Galeerensklave eines römischen Kriegsschiffes. Nach seiner wunderbaren Rettung hat er nur ein Ziel: Rache an den Schuldigen und die Befreiung seines Volkes vom römischen Joch. Damit das gelingen kann, will er sich in den Dienst des Messias stellen, ihm als Soldat und Truppenführer dienen. Denn dass der Messias bereits gekommen ist, das hat ihm Baltasar, einer der drei „Weisen“ bezeugt. Und der muss es doch wissen, Baltasar hat den neugeborenen König mit eigenen Augen gesehen.

Aber es kommt alles ganz anders: Ben Hur ist bereit In Galiläa Truppen auszuheben und sie in den Dienst des neuen Königs zu stellen. Denn daran besteht kein Zweifel: der Messias ist gekommen sein Volk zu befreien. Doch dann tritt ihm Jesus in den Weg, der Zimmermannssohn aus Nazareth. Und diese Begegnung verursacht in ihm eine grosse Verwirrung: dieser Jesus hat so gar nichts mit dem Bild des Messias zu tun, das Ben Hur antreibt.

Man kann mit Schwertern keine Blinde sehend machen, Lahme gehend, Aussätzige rein. Und gerade das tut Jesus. Ein König der sich um die Ausgestossenen kümmert, um jene die ihm gewiss keinen Tribut zahlen können. Ben Hur lernt ihn, den so lange ersehnten Messias und Retter Israel, als den Heiland zu sehen, zu erkennen, als den, der gekommen ist Heilung zu bringen. Die Begegnung mit Jesus „heilt“ ihn, heilt seinen Durst nach Rache und Vergeltung. Ja, er ist dem Heiland begegnet.

Und bei Jesu Einzug in Jerusalem gehen ihm vollends die Augen auf..., um dann aber erkennen zu müssen, dass das selbe Volk, das ihm diesen triumphalen Einzug bereitet, wenige Tage später „Kreuzige ihn!“ rufen wird. Und die Jünger, die ihn jetzt noch begleiten, -sicher nicht ohne Stolz!- werden ihn verlassen...

 

3. Christen leben stets im aktiven Wartestand

Matthäus und die ersten Christen wussten sehr gut, dass Jesus die messianischen Erwartungen, die in der Einzugsgeschichte laut werden, nicht erfüllt hat. Für die Juden ist deshalb die Messiasfrage bis heute offen. Das unterscheidet Juden und Christen. Letztere, also wir, gehen mit dem Juden Matthäus davon aus, dass der, der schon einmal da war, wieder kommen wird und dass seine zweite Ankunft auch die letzten „Zweifler“ überzeugen wird. Gemeinsam mit den Juden, die diese Überzeugung nicht teilen, wartet Matthäus, seine urchristliche Gemeinde und wir (!) auf den Anbruch der messianischen Zeit, auf die Durchsetzung der Herrschaft Gottes über seine ganze Schöpfung. Und das gerade weil wir mit Matthäus glauben, dass Jesu Weg nicht am Kreuz zum Ende gekommen ist. So gesehen vollzieht sich die Christliche Existenz seit 2000 Jahren im Wartestand. Daran erinnert die Adventszeit.

Sie lässt uns realistisch auf die Welt blicken, auf die Welt mit ihrer Faszination und ihrer Unerlöstheit.

Ja, wir befinden uns im „Wartestand“, im aktivenWartestand. So wie die Gemeinde des Matthäus nicht einfach die Hände in den Schoss legt und der Dinge harrt, die da noch kommen mögen, so ist die moderne christliche Gemeinde eine aktive Gemeinde. Wir haben keine Zeit, um auf die Verlockungen und Versprechungen der falschen Messiasse zu hören, oder ihnen gar zu folgen. Wir haben viel zu tun. Unser Warten, unser Er-warten ist von der anderen Art.

 

Die Retter und Messiasse die immer wieder in der Menschheitsgeschichte auftauchen, wollen die Welt erlösen, eben mit den Mitteln der Welt..., und hinterlassen noch mehr Leid, noch mehr Schmerz, noch mehr Armut, noch mehr Tränen.

Ben Hur hat es erkannt, er ist zur „Besinnung“ gekommen: die Erlösung sieht „ganz anders“ aus.

 

Und so „warten“ wir auf das, was ganz sicher kommen wird. Und während wir warten bezeugen wir unseren christlichen Glauben in dieser Welt, in einer Welt in der das letzte Wort noch nicht gesprochen ist: wir haben noch etwas zu erwarten, da kommt noch was!

Gott sei Dank!

 

Amen.



Pfarrer Reiner Kalmbach
San Martin de los Andes, Patagonien, Argentinien
E-Mail: reiner.kalmbach@gmail.com

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