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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

3. Advent, 16.12.2018

Welche Geschichte erzählen wir weiter?
Predigt zu Römer 15:5-13, verfasst von Simon Gebs

Liebe Gemeinde,

wie geht es Ihnen so kurz vor Weihnachten? Alles im Griff? Geschenke parat und Weihnachtskarten geschrieben? Den Fahrplan der Weihnachtstage mit Kindern, Eltern, Schwiegereltern, «Göttis» und «Gottis» abgestimmt? Menüplan fixiert?

Ist es nicht so? Über diesen Tagen schwebt ja unsichtbar ein Versprechen à la „Otto“ Werbung „Weihnachten ist alles drin“, wo natürlich auch leicht mitschwingt: „Weihnachten liegt alles drin.“. Es ist eine Zeit der ausgesprochenen oder versteckten (Selbst)Appelle „Beschenke dich und deine Nächsten“ (Mediamarkt), „Weihnachten, Zeit, sich zu versöhnen“ (Penny.de). Dazu kommt noch die Kirche, auch sie mit ihren Appellen. „Macht hoch die Tür“ haben wir zu Beginn gemeinsam gesungen, in der dritten Strophe heisst es; „mit Freuden singt“. Ist Ihnen zum Singen zumute? Dazu kommen all die Spendenaufrufe per Post und Mail. Und die süssliche Weihnachtsmusik, mit der Glattzentrum, Globus und die Weihnachtsmärkte beschallt werden, will uns seit Wochen auf diese besonderen Tage einstimmen. In der Tat, in vielen von uns schlummert doch diese unerklärliche Sehnsucht, dass es über Weihnachten aufgeht, Spannungen in der Partnerschaft oder Familie überwunden werden und das Jahr nach allen Turbulenzen unterm Jahr friedlich zu Ende geht. Nur, es sind und bleiben eben Appelle, Erwartungen und Wünsche, die wir zugeben oder eben auch nicht. Trotz dieser weihnachtlichen Gemengelage bleibt unser Leben und unsere Welt so wie sie sind, mit allem, was aufgeht oder wir gerne anders hätten. Trump bleibt Trump auch nächstes Jahr, Menschen werden in ihrer Not weiter an den Toren Europas anklopfen, in den Familien und Partnerschaften werden Spannungen weiter schwelen oder auch offen ausgetragen, das Tempo am Arbeitsplatz wird weiter hoch sein, spätesten am 7.Januar werden wir von der Realität wieder eingeholt. Appelle wie „freut euch“ und „beschenkt euch“ werden kurzfristig vielleicht Ablenkung verschaffen, aber die Grundthemen in meinem eigenen Leben wie diejenigen dieser Welt, sie werden gegenüber Weihnachten resistent bleiben.

Umso mehr spricht mich dieser „Gott der Geduld und der Hoffnung“ an, von dem der Apostel Paulus in seinem Brief an die Christinnen und Christen in Rom schreibt. Keine Angst, wenn ich diesen Gott ins Spiel bringe, dann geht es mir nicht einfach um eine fromme Chiffre, so ein obligates, adventliches Baldrian, das uns zu Weihnachten einlullen will. Mir geht es um etwas wesentlich Kritischeres.

Es geht um die Frage, von welcher Grunderzählung lassen wir uns leiten? Bei allem Auf und Ab, bei allem was halbwegs aufgeht oder nicht, bei allen Erfahrung, dass wir gerne, was verändern würden, aber offenbar nicht können, welche Geschichte leitet letztlich unser Denken und Handeln? Für Paulus war es glasklar diese Grundgeschichte, dass Gott in diesem Christus in diese Welt kommt, in seiner Leidenschaft für die Menschen. Mit diesem immer wieder neu in unser Leben einbrechenden Gott, muss und wird nichts so bleiben, auch wenn wir zuweilen das Gefühl haben, da ist «Hopfen und Malz verloren», oder «wir sind als einzelne auf verlorenem Posten». Paulus ist bis in die letzte Pore seines Denkens geprägt von dieser Zuversicht: «ihr werdet sehen, auch wenn ’s ganz anders aussieht, ihr ein ums andere Mal einstecken müsst, man auf euch reinhaut, ihr schlicht nur Ohnmacht erlebt, es wird Sternstunden geben, wo ihr euch wie im Traum vorkommen werdet, weil ihr nie und nimmer erwartet hättet, dass es nochmals anders kommt. Keine Angst, Gott treibt sich immer noch in eurem Leben, in dieser Welt um, um neue Geschichten zu schreiben.» Das ist sein Grundcredo, seine ihn bestimmende Grunderzählung.

Es stellt sich nun aber die Frage: Kommt Paulus da nicht reichlich naiv, schön redend daher? Können wir im Advent 2018 mit dieser Grundgeschichte noch was anfangen?

Liebe Gemeinde, für mich stellt sich diese Frage sehr akut, weil ich überzeugt bin, dass wir alle letztlich von ein paar wenigen Leitsätzen und Grunderzählungen geleitet sind, man könnte sie auch „innere Glaubenssätze“ nennen. „Ich kann mich nur auf mich selbst verlassen“ oder „Ich bin in dieser Welt nicht gefragt“ oder auch «Ich bin, was ich leiste». Meine Erfahrung in der Begleitung von Menschen zeigt mir: hinter solchen Leitsätzen stehen immer konkrete Erfahrungen, die Menschen erlebt haben, sodass sich solche inneren Glaubenssätze herausdestillieren. Und auch gesellschaftlich gilt doch, gerade in unseren Tagen: Nicht Fakten bewegen Menschen, sondern Geschichten. Ist es die Erzählung der Schweiz als Willensnation? Oder USA, Ungarn, Deutschland «first»? Die Erzählung „der Markt regelt alles“ oder der Narrativ des von Muslimen überfluteten Europas? Ich bin überzeugt, Populisten links oder rechts haben in unsern Tagen deshalb so viel Macht, weil sie zur Zeit die Kunst des Geschichten Erzählens besser beherrschen… .

Was, denken Sie, ist die tödlichste Waffe, die Menschen erfunden haben? Sind es die hochpräzisen Drohnen, die nuklearen Sprengköpfe, oder chemische Waffen? Nein, die tödlichste Waffe ist die Sprache. Der israelische Historiker Yuval Harari[1]hat das für mich überzeugend dargelegt. Er hat sich die Frage gestellt, wie es der Mensch geschafft hat, vor 70‘000 Jahren sein Biotop in Afrika zu verlassen und derart dominierend auf dem Planeten zu werden. Innerhalb weniger tausend Jahre ist es dem Menschen gelungen, über die Hälfte der Grosssäuger und damit Nahrungskonkurrenten auszuschalten – und dies notabene noch bevor die erste Waffe aus Eisen hergestellt worden ist. Der Grund – so Yuvel Harari – , ist die kostbarste und gleichzeitig furchtbarste Waffe, die die Welt je gesehen hat. Die Sprache… und damit die Möglichkeit Geschichten zu erzählen. Klar, Wale können unter Wasser über Kilometer miteinander kommunizieren, Löwen mit ihrem Gebrüll nachts ihr Gebiet markieren und Murmeltiere ihr Rudel mit ihren Pfiffen warnen. Was sie jedoch nicht können: Geschichten erzählen. Für mich ein spannender Gedanke: ob Mensch oder Tier, mit viel mehr als 150 Individuen können wir nicht in Beziehung sein, das schränkt ein. Es ist gerade die Macht des Geschichten Erzählens, die Tausende, ja Millionen von Menschen verbinden und motivieren kann, zusammenzuarbeiten. Das kann die Geschichte eines Gottes sein, die Geschichte der Idee von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, der Mythos einer Nation, die Erzählung der Überlegenheit einer Rasse (wie wir sie im letzten Jahrhundert gesehen haben). Die Fähigkeit, einer Erzählung zu glauben, hat den Menschen eine enorme Macht geben. Ich hoffe, Sie merken, worauf ich kurz vor Weihnachten hinaus will? ... Es ist stets eine grosse Frage, von welcher Geschichte wir uns leiten lassen und eine unglaublich grosse Verantwortung, welche Erzählung „erfunden“ und weitergegeben wird. Der Mensch tickt anders als Tiere, er orientiert sich an Geschichten, nicht an Fakten. Das sollten wir nicht unterschätzen.

Exakt an diesem Punkt, – merke  ich – bin ich gefordert. Welche Grunderzählung prägt mich, wenn ich ehrlich bin? Welche Grundüberzeugung ist für mich massgebend? „Es ist alles Zufall?“, die Evolution hat schon immer die Stärkeren bevorteilt? Jeder ist seines eigenen Glückes Schmid? Genau hier kommt für mich die biblische Botschaft ins Spiel, diese uralte Erzählung, dass Gott mit uns zu tun haben will, immer noch und immer wieder? Dieses Versprechen für mein persönliches Leben, wie in dieser Welt nichts so bleiben muss, wie es ist, weil Gott immer neu involviert ist. Und genau diese Zuversicht hat den unweigerlichen Effekt, dass ich selbst liebend und handelnd in der Welt involviert bleibe.

Für mich spitzt sich deshalb gerade in unserer Zeit die Frage zu: welcher Erzählung gebe ich in meinem Leben Raum? Welche Erzählung geben wir unsern Kindern und Enkelkindern weiter? Auf welche setze ich meine Hoffnung? Ich meine, Advent fordert uns gerade an dieser Frage heraus und will uns Mut machen, in allen Gegenerfahrungen, bei dem vielen, wo wir nichts ausrichten können, uns an dieser Erzählung auszurichten.

Zum Schluss meiner Predigt habe ich eine kleine Aufgabe für Sie vorbereitet: Bitte lesen Sie folgenden Adventstext von Iris Macke[2]:

 

Advent heisst Warten

Nein, die Wahrheit ist

Dass der Advent nur laut und schrill ist

Ich glaube nicht

Dass ich in diesen Wochen zur Ruhe kommen kann

Dass ich den Weg nach innen finde

Dass ich mich ausrichten kann auf das, was kommt

Es ist doch so

Dass die Zeit rast

Ich weigere mich zu glauben

Dass etwas Größeres in meine Welt hineinscheint

Dass ich mit anderen Augen sehen kann

Es ist doch ganz klar

Dass Gott fehlt

Ich kann unmöglich glauben

Nichts wird sich verändern

Es wäre gelogen, würde ich sagen:

Gott kommt auf die Erde!

 

Und nun lesen sie den Text von unten nach oben…

 

Liebe Gemeinde, ein Text, scheinbar eine Realität, eine Reihenfolge von Sätzen, eine scheinbare Wahrheit: Es wäre gelogen, würde ich sagen: Gott kommt auf die Erde.Und dennoch: wir können eine ganz andere Perspektive einüben, «von unten nach oben zu lesen», dann entsteht eine andere Geschichte… Wir haben die Wahl….

Ich wünsche uns allen die Kühnheit, unser Leben und unsere Welt von unten nach oben zu lesen, «mit andern Augen zu sehen», zu vertrauen, dass immer wieder von neuem etwas Grösseres in meine Welt hineinscheint.

Amen.

 

[1]siehe «Die Macht der Lüge in der Politik», Constantin Seibt, www.republik.ch/2018/10/30/die-macht-der-luege-in-der-politik

[2]Iris Macke, Perspektivenwechsel, der andere Adventskalender 2018/19, Verein tecum

 

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Simon Gebs, geb. 1965, Pfarrer der reformierten Kirche des Kantons Zürich, seit 1996 tätig als Gemeindepfarrer in Zollikon, Vizedekan im Pfarrkapitel Meilen und Teamleiter Notfallseelsorge Kt. ZH, «Wort zum Sonntag» Sprecher seit Oktober 2018.



Pfr. Simon Gebs
Zollikon, Zürich, Schweiz
E-Mail: simon.gebs@ref-zollikon.ch

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