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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

3. Advent, 16.12.2018

Der Apostel Paulus, ein Eisberg, Fußballtaktik und ein Becher Glühwein
Predigt zu Römer 15:4-13, verfasst von Wolfgang Vögele

Friedensgruß

Der Predigttext für den dritten Advent steht Röm 15,4-13:

Paulus schreibt: „Denn was zuvor geschrieben ist, das ist uns zur Lehre geschrieben, damit wir durch Geduld und den Trost der Schrift Hoffnung haben. Der Gott aber der Geduld und des Trostes gebe euch, dass ihr einträchtig gesinnt seid untereinander, wie es Christus Jesus entspricht, damit ihr einmütig mit einem Munde Gott lobt, den Vater unseres Herrn Jesus Christus. Darum nehmt einander an, wie Christus euch angenommen hat zu Gottes Ehre. Denn ich sage: Christus ist ein Diener der Beschneidung geworden um der Wahrhaftigkeit Gottes willen, um die Verheißungen zu bestätigen, die den Vätern gegeben sind; die Heiden aber sollen Gott die Ehre geben um der Barmherzigkeit willen, wie geschrieben steht (Psalm 18,50): »Darum will ich dich loben unter den Heiden und deinem Namen singen.« Und wiederum heißt es (5.Mose 32,43): »Freut euch, ihr Heiden, mit seinem Volk!« Und wiederum (Psalm 117,1): »Lobet den Herrn, alle Heiden, und preisen sollen ihn alle Völker!« Und wiederum spricht Jesaja (Jesaja 11,10): »Es wird kommen der Spross aus der Wurzel Isais, und der wird aufstehen, zu herrschen über die Völker; auf den werden die Völker hoffen.« Der Gott der Hoffnung aber erfülle euch mit aller Freude und Frieden im Glauben, dass ihr immer reicher werdet an Hoffnung durch die Kraft des Heiligen Geistes.“

Liebe Schwestern und Brüder, in vier Jahren bekommen wir als Dreingabe zu Advent und Weihnachten die Fußballweltmeisterschaft, ein Gratisgeschenk zum Kirchenjahr. Das vierte Lichtlein brennt, und das Finale wird angepfiffen. Vielleicht spricht Lothar Matthäus das Wort zum Sonntag, und für den neuen Weltmeister regnet es Lametta aus dem Himmel des Stadions. Wir haben alle noch Zeit, uns darauf einzustellen, vielleicht mit Nikolausmützen in Schwarz-Rot-Gold. Ich verkaufe keine Fanartikel, sondern beginne mit einer Meditation über – in alphabetischer Reihenfolge - Einheit, Eintracht, Fußball, Gemeinde und die Theologie des Paulus. Glaube für Fußballfans und Kontertaktik für Glaubende.

Auch wenn sie längst zu kommerziellen Unternehmen und Aktiengesellschaften mit Millionenumsätzen geworden sind, beschwören Fußballvereine in ihrem Namen gerne alte Zeiten. Man nennt sich nach untergegangenen deutschen Ländern – Preußen Münster oder Borussia Dortmund, die ehemalige DDR klingt nach in Dynamo Dresden, Lokomotive Leipzig oder Union Berlin. Gerne werden auch menschliche Tugenden beschworen, vor allem die Eintracht: Eintracht Frankfurt (Bundesliga), Eintracht Braunschweig (3.Liga), Sportfreunde Eintracht Freiburg (Kreisliga A), Eintracht 1910 Güdderath (Kreisliga B). Den Fußballverein Eintracht gibt es auch in der lateinischen Version als Concordia Lötsch, Concordia Leutenbach, Concordia Erfurt. Der Vereinsname Eintracht ist keineswegs auf den Fußball beschränkt, auch Gesangsvereine, Freimaurerlogen, Schützengilden beschwören in ihrem Namen die Eintracht von Sängern, Logenbrüdern und Schützenkönigen.

Ich halte mich deshalb ein wenig bei der Eintracht auf, weil – Sie ahnen es schon – auch Paulus von der Eintracht der Gemeinde redet: „Nehmet einander an, gleichwie Christus euch angenommen hat zu Gottes Ehre.“ Klingt doch einer Fußballerweisheit sehr ähnlich: „Elf Freunde müßt ihr sein, wenn ihr Siege wollt gewinnen.“ Da bestehen auch Unterschiede. Niemand sollte jetzt anfangen, von der Eintracht Bonhoeffergemeinde oder Eintracht St. Johannis zu sprechen. Mir kommt es nur auf einen Punkt an, den Fußballelf und Gemeindeverband gemeinsam haben. Fußballfunktionäre beschwören gern den Geist der alten Tugenden und sportlichen Werte, die im Dschungel von Kommerzialisierung, Übertragungsrechten und Ablösesummen nicht vergessen werden dürften. Aber das hat jeder Fußballfan inzwischen verstanden, daß korrupte Funktionäre Einheit und Eintracht nur deshalb beschwören, um dunkle Geschäfte um Nummernkonten, Freikartenkontingente und Einschaltquoten zu verschleiern. Derjenige, der Einheit und Eintracht aufruft, muß sich nach seinen Interessen fragen lassen – in der Kirche wie im Fußball.

Paulus war nun weder ein Fußballfunktionär noch ein Aktennotizen verfassender Oberkirchenrat, aber trotzdem könnte man die Passage aus dem Römerbrief als den Versuch verstehen, durch die rhetorische Mischung von Ratschlägen, Aufforderungen und Eintrachtsbeschwörungen Machtinteressen zu vertreten und belehren zu wollen. Schon wieder einer, der alles besser weiß! Man kann das so sehen. Aber dann wäre diese Passage mißverstanden.

Am passendsten sieht man in dieser Passage aus dem Römerbrief die Spitze eines Eisbergs. Liebe Schwestern und Brüder, Sie haben alle den Film „Titanic“ gesehen und wissen als gewiefte Eisbergwissenschaftler, daß bei einem solchen Klotz nur ein Fünftel der Eismasse aus dem Wasser ragt, während vier Fünftel unter Wasser liegen. Der Kapitän der Titanic hatte das nicht erkannt, mit verheerenden Folgen. Der Römerbrief des Apostels Paulus ist genauso ein Eisberg: Vier Fünftel des Briefevangeliums an die ihm unbekannte Gemeinde in Rom haben wir nicht gehört, nur die eine kleine Passage mit Aufforderungen und Ratschlägen, die Konsequenz des großen unsichtbaren Rests.

In den ersten vierzehn Kapiteln lobt Paulus den Gott, der die sündigen Menschen in Jesus Christus erlöst, der das Seufzen der Kreatur hört, der sich vom Elend der Menschen bewegen läßt und der Juden wie Christen gleichermaßen zu Gott führt. In einem Spurenelement kommt dieses wunderbare Evangelium noch im Predigttext vor: Gott hat die Menschen angenommen in Jesus Christus zu Gottes Lob. Das ist das eine, erste und wichtigste. Darauf erst folgt der zweite Schritt:  Nehmet einander an.

Und selbstverständlich ist es sinnvoll, diesen Rat anzunehmen. Aber er ist nicht so zu verstehen, daß man in protestantische Duldungsstarre verfallen soll, wenn andere im eigenen Namen Geld ausgeben, wenn man mit frömmelnder Heuchelei und Verschlagenheit konfrontiert wird. Es gibt Situationen, da boxen klerikale Funktionäre rücksichtslos ihre Meinung durch, da werden Dienstaufsichtsverfahren verschleppt, Pöstchen jenseits von Fähigkeit und Qualifikation verteilt, Seelsorge verweigert. Man kapriziert sich auf eine fromme Ideologie der Gleichheit und Einigkeit, um die eigenen Machtinteressen zu vertuschen.

Liebe Schwestern und Brüder, ich will nach dem Eisberg einen zweiten, dieses Mal weihnachtlichen Vergleich gebrauchen: Dieser Predigttext ist wie ein Becher Glühwein. So wie Paulus diesen Wein angesetzt hat, mit Gewürzen, gutem Rotwein und allen anderen Zutaten, ist er hervorragend zu genießen. Aber wenn er mit Wasser verlängert und vor allem mit Unmengen von Zucker angereichert wird, dann verursacht er zuverlässig einen Kater.

Reden wir also über die Zutaten: Paulus spricht über die Gemeinde in Rom. An sie hat er sich schriftlich gewandt, ohne sie von einem persönlichen Besuch zu kennen. Die Gemeinde in Rom war gespalten. Die römischen Christen trugen Konflikte aus. Eine strenge Gruppe diskriminierte eine Gruppe von unbefangeneren Christen. Die Strengen sagten: Jeder muß sich an sämtliche Gebote Gottes halten, und wir dürfen keinen Pakt mit den Heiden eingehen. Die Unbefangenen sagten: Gottes Liebe ist so groß, daß sie alles überwindet. Darum können wir von unserer Freiheit Gebrauch machen. Sie tranken Alkohol, aßen das vor heidnischen Tempeln verkaufte Opferfleisch, feierten gelegentlich bei heidnischen Festen mit. Wenn die Liebe zuschlug, zögerten sie nicht, eine Nichtchristin oder einen Nichtchristen zu heiraten.

Darauf mußte Paulus reagieren. Die wichtigste theologische Zutat, sozusagen das Evangelium als Gewürz, waren für ihn Duldung und Annahme: Nehmet einander an, wie Christus euch angenommen hat. Das soll im Übrigen nicht heißen: Macht es wie Christus. Ahmt ihn nach! Werdet alle zu kleineren und größeren Christussen. Eher ist das so zu verstehen: Nehmt einander an, weilChristus euch angenommen hat. Dem eigenen Tun geht das Handeln und Leiden Christi voraus. Und das Leben, Leiden und Auferstehen Christi, kurz die Theologie des Paulus, beeinflußt sein Denken über Freiheit und Unterschiede zwischen den Menschen.

Zuerst über die Unterschiede: Paulus meint im Grunde nicht die psychologischen Unterschiede zwischen Menschen. Der eine verzeiht, der andere trägt nach; der eine arbeitet sorgfältig und ordentlich, der andere kann seine Kreativität nur im Chaos ausleben. Das ist nicht gemeint. Wichtiger als die Unterschiede im Psychologischen sind die Unterschiede im Theologischen, im Glauben. Diese Unterschiede haben in den Urgemeinden, Rom darunter, angefangen und setzen sich fort bis in die gegenwärtige Ökumene. Jeder evangelische Christ, der schon einmal eine katholische Messe oder einen orthodoxen Gottesdienst besucht hat, der weiß um Unterschiede der Theologie, der Atmosphäre, der Musik, der Sprache und des Geruchs.  Im katholischen Gottesdienst wird mir einiges dauerhaft fremd bleiben: der Weihrauch, das liturgische Ablesen, die kurzen Predigten. Anderes bewundere ich, nicht nur heimlich: die Feierlichkeit, die Selbstverständlichkeit der Liturgie, die gregorianischen Gesänge. Im Dialog mit der katholischen Kirche, aber auch mit allen anderen Kirchen der Ökumene, ist es entscheidend, an einem festzuhalten: Alle ökumenischen Wege zu Christus leben aus der Gewißheit, daß zuerst Christus die Menschen, die Glaubenden angenommen hat. Die Reihenfolge scheint mir ganz entscheidend: Es geht zuerst um Christus, dann um das Handeln der Gemeinde. Genau diese Unterscheidung relativiert Unterschiede. Und sie sollte es auch ermöglichen, größere Gemeinschaft, zum Beispiel Abendmahlsgemeinschaft zwischen den Kirchen zuzulassen. Gott handelt zuerst – und dann handeln die Menschen. Und es geht nicht um Handeln als solches, sondern um Handeln zum Lobe Gottes. Und Gott kann man mit beidem nicht genug loben, mit dem Weihrauchfaß und mit dem theologischen Argument.

Und nun über die Freiheit: Christus nimmt die Menschen an in der Taufe. Er hat sie, wie Paulus an einer anderen Stelle sagt: zur Freiheit befreit. Diese Freiheit ist nicht in einem formalen, willkürlichen Sinn gemeint. Etwa nach dem Motto: Christus hat euch befreit. Nun tut, was ihr wollt. Nein, Paulus meint es so, daß der Gebrauch der Freiheit eine bestimmte Richtung voraussetzt. Und die Richtung wird in der ganz Briefpassage des Predigttextes vollkommen klar. Entscheidend ist die Antwort auf das, was Gott in Christus getan hat. Gemeinde findet ihren schlichten Sinn darin, Gott zu loben. Paulus meint es so: Christus hat euch befreit. Darum lobt Gott gemeinsam, in Einigkeit.

Die Gemeinde hat die Aufgabe, Glauben und Vertrauen weiter zu geben. Es geht nicht um Marketing, welches dann oft nicht viel mehr als die klerikal verzerrte Wiederholung von Schlagworten bedeutet. Und es geht schon gar nicht um Selbstdarstellung. Um die Sprache der Werbeagenturen einmal aufzunehmen: Es geht um Message, nicht um Layout. Wer meint, daß sich der Glaube beim Marketing bedienen kann, ohne einen Preis dafür zahlen müssen, der irrt sich gewaltig. Marketing will verkaufen und Gewinn machen. Der Glaube will gar nichts verkaufen und schon gar keinen Gewinn machen. Glauben will ermuntern. Glaube will ansteckend sein. Glaube und Vertrauen gelingen dort, wo sie bei anderen Glauben und Vertrauen wecken. Wer Marketing und Gotteslob miteinander vertauscht, der setzt das Unwichtige vor das Wichtige.

Das Layout, die Form kann ganz verschiedene Gestalten annehmen. Und diese Gestalten müssen gar nicht in Konkurrenz zueinander stehen. Deswegen sollten wir es uns angelegen sein lassen, die ökumenische Freundschaft mit den Christen anderen Gemeinden zu suchen, auch wenn wir die Sprache nicht verstehen und die Liturgie uns nicht zugänglich ist. Wichtig ist, daß alles zum Lobe Gottes geschieht.

Oder, um es mit Sepp Herberger zu sagen: Das Runde muß ins Eckige. Christliche Gemeinde ist da bei sich selbst, wo sie Gott lobt. Tore schießen die anderen. Und wo Gott nicht gelobt wird, ist im Übrigen keine Gemeinde. Dieses nochmals denjenigen gesagt, die von Eintracht reden, aber Interessen meinen. Ich schließe mit den Worten, mit denen auch Paulus seine Briefpassage beschließt: „Der Gott der Hoffnung aber erfülle euch mit aller Freude und Frieden im Glauben, dass ihr immer reicher werdet an Hoffnung durch die Kraft des Heiligen Geistes.“ Amen.

 

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Nachbemerkung: Es bietet sich an, die ökumenischen Teile der Predigt durch die Schilderung regionaler bzw. lokaler Erfahrungen zu ersetzen oder zu ergänzen. Reflexionen zu Ökumene und Abendmahl aus der Sicht der unierten Theologie einer Landeskirche finden sich in dem Aufsatz Wolfgang Vögele, Brot und Wein. Gegenwärtige Abendmahlspraxis und ihre theologische Deutung, tà katoptrizómena, Heft 109, Oktober 2017, https://theomag.de/109/wv036.htm. Betrachtungen über Kirche und Marketing sowie interessegeleitetes Handeln in der Kirche findet man in dem Essay Wolfgang Vögele, Kritik der aufblasbaren Kirche. Über Klerikalismus, Banalität und Gleichheit, tà katoptrizómena, Heft 115, Oktober 2018, https://www.theomag.de/115/wv046.htm.

 

 

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Wolfgang Vögele, geboren 1962. Privatdozent für Systematische Theologie und Ethik an der Universität Heidelberg. Er bloggt über Theologie, Gemeinde und Predigt unter www.wolfgangvoegele.wordpress.com.



PD Dr. Wolfgang Vögele
Karlsruhe, Baden-Württemberg, Deutschland
E-Mail: wolfgangvoegele1@googlemail.com

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