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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

Heiligabend, 24.12.2018

Predigt zu Lukas 2:1-14 (dänische Perikopenordnung), verfasst von Jens Torkild Bak

Und als sie daselbst waren, kam die Zeit, dass sie gebären sollte. Und sie gebar ihren ersten Sohn und wickelte ihn in Windeln und legte ihn in eine Krippe; denn sie hatten sonst keinen Raum in der Herberge.

 

Ganz gleich wie man Weihnachten als ein Fest inszeniert, wir sind versammelt, so viele wie möglich, um so viel wie möglich, all das Gute, was man hier sagen kann und woran man denken kann. Und besonders Heiligabend ist ein Abend, wo uns allgemeine Mitmenschlichkeit sagt, dass wir niemanden allein sein lassen sollen.

Davon abgesehen, so besteht andererseits kein Zweifel daran, dass das Weihnachtsevangelium auch den Einzelnen in den Mittelpunkt stellt - den einzelnen Mensch und seine Bedeutung. Das spiegelt sich wieder in der Erzählung über das göttliche Kind, das zur Welt kommt. Ohne dass die Welt es beherbergen kann! Ohne dass die Welt es beherbergen kann …! Denn sie hatten sonst keinen Raum in der Herberge, hören wir.

Denn darin erkennen wir alle irgendwo etwas in uns selbst wieder! Etwas, was auch keinen Platz findet. Etwas, womit wir jeder für sich allein sind. Oder jedenfalls etwas, was wir nur eben mit dem lieben Gott teilen. Eine Erfahrung von Einsamkeit mitten in der Gemeinschaft. Das kann einen traurig machen oder gar erschrecken. Das kann vor allem die Klage veranlassen, dass man nicht so ist wie die anderen. Diese Erfahrung machen viele von uns.

Dennoch. Man kann sich auch dafür entscheiden, dass man sagt: Eben darin besteht die Herausforderung des Menschseins, dass man ein Individuum ist. Dass da immer etwas ist, was man nicht mit anderen teilt. Das bedeutet es ja, ein Individuum zu sein: Das Unteilbare, worin man sich von den anderen, von der Umwelt unterscheidet. Sonst wäre man ja kein „Selbst“! Deshalb sollen wie auch nur diese Erfahrung akzeptieren, sie annehmen und uns über sie freuen, statt uns verloren zu fühlen und uns darüber zu erschrecken. Und also uns selbst in einer neuen Weise sehen im Lichte des Kindes in der Krippe und der Weihnachtsgeschichte, die mit Ihm jedem einzelnen von uns persönlich zur Freude und zum Trost und zur Aufmunterung geschenkt ist.

Aber das, wofür kein Platz ist, kann natürlich auch eine gesellschaftliche Schattenseite haben. Die die repräsentieren, für die kein Platz war. Und das ist eine ganz andere Geschichte. Denn solche gibt es bekanntlich auch. Viele. Das hat nun direkt Anlass für ein neues – für mich neues – Wort gegeben, das Wort „Außenstehende“, Bezeichnung für die Gruppe von Menschen, die sozial, gesundheitlich oder in Bezug auf den Arbeitsmarkt am Rande der dänischen Gesellschaft stehen. Man sagt, davon gibt es 200.000 Menschen (also das Zwanzigfache der Einwohnerschaft von Ribe, und dies nur in den Grenzen dieses kleinen Landes!). Andere sagen, dass die Zahl in Wirklichkeit viel höher ist, vielleicht bis zu 500.000. Wie hat sich das so entwickeln können? Was in aller Welt können wir da machen? Das hat nicht nur einen hohen Preis für den Einzelnen an verlorener Lebensqualität. Das ist das Schlimmste. Aber auch die Gesellschaft nimmt auch Schaden.

 

Und zudem sind diese Leute vielleicht überhaupt nicht das ganze Problem der „Außenstehenden“, jedenfalls wenn es um die Fähigkeit geht, angesichts der technologischen Entwicklung eine Orientierung zu finden. Vor 150 Jahren kamen die Bauen zu den Heimvolkshochschulen, um aufgeklärt zu werden, sagt die Philosophin Lene Andersen in einem Interview, und sie fährt fort: In derselben Weise brauchen wir eine Volkaufklärung, die uns für die Wirklichkeit der Gegenwart rüstet. Heute sind wir alle Bauern – das kann ich selbst nur bestätigen – und wir brauchen ein zeitgemäßes Verständnis dafür, was Blockchain ist, was künstliche Intelligenz ist, wie Allegorithmen funktionieren, was Informationstechnologie kann und wohin der Weg geht. … Es genügt nicht, dass man Computer-Kurse für Rentner anbietet. Wir alle müssen die Entwicklung besser verstehen, wie die neuen Technologien unsere Gesellschaft verändern. Der Normalbürger weiß heute nicht genug darüber, wer die Macht hat und wo die Entscheidungen fallen. Und wir haben Politiker, die von Frikadellen und Burka‘s reden, während unsere privaten Daten von Facebook, Google und Amazon verwendet werden. Ende des Zitats. Das letzte war nicht freundlich gesagt über die Politiker, aber so hat sie es gesagt …

Die Frage ist jedoch nicht nur, dass wir, die wir den untersten Teil der Klasse darstellen, die Gesellschaft verstehen, sondern in Wirklichkeit die, ob uns die Gesellschaft künftig braucht! Eine Frage, die im Jahre 2018 öfter aufgetaucht ist. Unter der Überschrift: „Was wird aus dem Menschen in der posthumanen Gesellschaft?“ beschreibt die Ålborger Philosophieprofessorin Lene Tanggaard in einem Diskussionsbeitrag die Folgen des allgegenwärtigen Vormarschs der Roboter und der künstlichen Intelligenz: Mehrere der Jobs von Rechtsanwälten und Ärzten werden wohl künftig verschwinden, weil die Technologie das übernimmt und mit größerer Präzision als das menschliche Auge und die menschliche Hand Diagnosen stellen und behandeln kann. Die posthumane Gesellschaft kommt, und die Frage ist, in welche Situation uns das stellt. Wovon sollen wir leben? Was wird aus dem Menschen? Aber glücklicherweise: Nichts ist so schlimm, dass es nicht gut für jemand anderes ist. Die Entwicklung wird, fährt Lehne Tanggaard süß-säuerlich fest, Jobs für die Leute schaffen in der existenziellen Industrie, d.h. Pastoren, Psychologen, und Gesundheits-Ratgeber. Viele Menschen werden nämlich arbeitslos. Und Müßiggang ist bekanntlich alles Laster Anfang. Wir werden seelisch leiden und Menschen brauchen, die uns lehren, wie man sinnvoll lebt – ohne dass wir noch etwas tun können, was etwas für andere Menschen bedeutet. Ich danke zögernd im Namen meines Berufs für diese Arbeitsmarktprognose.

 

Die Existenz der „Außenstehenden“ fordert die Vorstellung vom Volk als einer Größe heraus, die alle einbezieht und zu der alle beitragen und der sich alle verpflichtet fühlen. D.h. der Traum von einer Gemeinschaft des Volkes, von der viele von uns von Kindesbeinen an durch die Lieder gehört haben, die wir gesungen haben über das glückliche Land, wo nur wenige zu viele haben und noch weniger zu wenig. Zugleich ist das auch eine Vorstellung, die ihre Wurzeln in der Weihnachtsgeschichte hat. Siehe ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird; denn euch ist heute der Heiland geboren … in der Stadt Davids. Eines der Themen des letzten Jahres bei den Veranstaltungen hier in Ribe zum Reformationsjahr war der Frage gewidmet, wozu wir die Gesellschaft brauchen. Für die Gemeinschaft und das Allgemeinwohl (wie Luther das gepredigt hat), oder reicht die Legitimität der Gesellschaft nur so weit, wie der Einzelne darin einen Vorteil erkennen kann? Und in diesem Falle: Wann hat der Einzelne genug?

In einem Artikel im dänischen Christlichen Tageblatt Ende November reflektiert der Deutschlandexperte Professor Per Øhrgaard über das Phänomen der Revolutionen, die er am liebsten vermeiden würde – natürlich weil sie so viel Unglück mit sich geführt haben. Aber warum kommt es dann zu Revolutionen? fragt er und gibt die Antwort: Revolutionen werden nicht von gewalttätigen Psychopathen in einem Hinterzimmer erdacht. Revolutionen kommen, wenn die Beherrschten das Gefühl haben, dass sie den Herrschenden egal sind. Wenn die Armen sehen, dass die Reichen nicht die Verantwortung wahrnehmen, die mit dem Tragen von goldenen Ketten verbunden ist, sondern nur noch mehr an sich raffen. Vielleicht sollten die Herrscher und die Reichen unsere Tage das etwas beherzigen. Ende des Zitats. Wir lassen es einen Augenblick stehen …

 

Zuletzt das Wichtigste: Die Freude, der Trost, die Ermunterung. Siehe ich verkündige euch große Freude, die allem Volke widerfahren wird. Und hier muss man natürlich an den Staatshaushalt denken, der dieses Jahr mit großer Freude verabschiedet wurde – da gab es ja doch ein wenig für alle. Das sind gute Aussichten für den Wahlkampf des nächsten Jahres. Oder nicht?

Wir sind sicher abhängig von den Entscheidungen die im Parlament getroffen werden. Aber man muss auch selbst Verantwortung übernehmen. Das Wissen anwenden, das wir von uns selbst haben, dass da etwas ist, mit dem wir allein stehen, damit wir denen die Hand reichen, außen vor stehen. Damit die Freude nicht zu einer geschlossenen Veranstaltung wird. Auch wenn wir von den Entscheidungen abhängig sind, die im Parlament getroffen werden, ist es notwendig, den Blick auch woanders hin zu richten als das Parlament, eine Mitverantwortung dafür zu übernehmen, das wir ein Volk sind. Ich habe gehört, dass der viel gelobte „Weihnachtskalender“ des dänischen Fernsehens 2019 wiederkommt. Das finde ich gut. Wir brauchen überhaupt wieder mehr Märchen, damit nicht alles in wirtschaftlichen Zwängen aufgeht. Und ein dänisches Märchen mit dem Heiland und Versöhner würde ein Märchen sein von einem Volk, wo alle gebraucht werden und wo es ausreichend Großzügigkeit, Geist und Bildung gibt, um sich um alles andere zu kümmern. Frohe Weihnachten. Amen.



Dompropst Jens Torkild Bak
Ribe, Dänemark
E-Mail: jtb(at)km.dk

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