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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

4. Advent, 23.12.2018

Ein Lied – ein Mann – zwei Frauen
Predigt zu Lukas 1:26-56, verfasst von Caroline Schröder-Field

Predigt zu EG 8 «Es kommt ein Schiff geladen» und Lukas 1,26-56

 

  1. Ein Lied

 

  1. Es kommt ein Schiff, geladen/ bis an sein’ höchsten Bord,/ trägt Gottes Sohn voll Gnaden,/ des Vaters ewigs Wort.
  2. Das Schiff geht still im Triebe,/ es trägt ein teure Last;/ das Segel ist die Liebe,/ der Heilig Geist der Mast.
  3. Der Anker haft’ auf Erden,/ da ist das Schiff am Land./ Das Wort will Fleisch uns werden,/ der Sohn ist uns gesandt.
  4. Zu Betlehem geboren/ im Stall ein Kindelein,/ gibt sich für uns verloren:/ Gelobet muss es sein.
  5. Und wer dies Kind mit Freuden/ umfangen, küssen will,/ muss vorher mit ihm leiden/ gross Pein und Marter viel,
  6. danach mit ihm auch sterben/ und geistlich auferstehn,/ das ewig Leben erben,/ wie an ihm ist geschehn.

 

«Es kommt ein Schiff geladen» ist ein Marienlied. In der mittelalterlichen Freude an Allegorien spielt es mit Bildern, die der Seele vertraut sind und die zugleich über sich hinausweisen. Das Schiff mit aufgeblähtem Segel – die hochschwangere Maria. Das Segel: die Liebe. Der Heilige Geist: der Mast. Die mit dem Heiligen Geist verbundene Liebe setzt das Schiff in Bewegung. Die mit dem Heiligen Geist verbundene Liebe veranlasst Maria, ihre kostbare Fracht über das Meer zu tragen und an Land zu bringen. Geist und Liebe lassen das Schiff übersetzen – vom fernen Ufer Gottes zu dem Land, wo wir Menschen wohnen. Maria ist das Schiff. Und Jesus die Ladung, die sie trägt. Das Kind, mit dem sie schwanger geht. Das Kind ist Gottes Fleisch gewordenes Wort, Gottes menschlichste Anrede an uns. Das Kind ist Fleisch und Blut wie wir, wie alle unsere Vorfahren und alle unsere Kinder. Maria ist das Gefäss der Menschwerdung Gottes. Sie garantiert uns Jesu vollgültige Menschlichkeit. Er ist wie wir, weil sie ihn ausgetragen hat.

Was ist der Mensch? Wenn wir einmal alle philosophischen Theorien über den Menschen beiseitelegen, weil wir uns auf keine einzige einigen können, ist es am Ende die Geburt, die uns zu Menschen macht: wir alle wurden einst von einer Frau geboren. Noch lange wird an diesem Umstand keine Technologie etwas ändern. Und so ist auch Jesus ein Mensch wie wir. Wegen Maria.

Wenn etwas wirklich gut ist, wird es immer wieder neu entdeckt. Und mit jeder Entdeckung wird es wieder neu übersetzt. Auch das Marienlied wurde mehrmals neu entdeckt. Nachgewiesen um 1450 in Strassburg in einer Handschrift des Klosters St. Nikolaus in undis, zugeschrieben dem Strassburger Mystiker Johannes Tauler. Später nimmt der evangelische Theologe Daniel Sudermann das Lied ins Strassburger Gesangbuch auf, unter der Überschrift: „Ein uralter Gesang, gefunden unter den Schriften von Herrn Tauler, etwas verständlicher gemacht“. Sudermann machte den ursprünglichen Text verständlicher, indem er die Weihnachtsstrophe hinzufügt: „Zu Bethlehem geboren / im Stall ein Kindelein…“ Aber das Lied wurde wieder vergessen. Und dann doch wiederentdeckt und im Gottesdienst gesungen. Sowohl in evangelischen, als auch in katholischen Kirchen. Es ist heute ein wahrhaft ökumenisches Christus- und Marienlied.

Die bewegte Geschichte dieses Liedes zeigt: 1. Es wurde schon früh als „uralt“ und „unverständlich“ empfunden. Und 2. es entstammt der christlichen Mystik. Das Ziel der christlichen Mystik ist aber nicht das rationale Verstehen. Ziel ist vielmehr das Einswerden mit Christus.

Wenn man nun etwas als «uralt» und «unverständlich» erlebt, dann will man es übersetzen. Was in rätselhaften, traumgleichen Bildern angedeutet wird, «das Schiff geht still im Triebe», «der Anker haft’ auf Erden», das soll nicht in der Schwebe nebulösen Verstehens bleiben, sondern klare Konturen bekommen. Darum die vierte Strophe, als Auflösung des Rätsels: «Zu Bethlehem geboren im Stall ein Kindelein». Doch die Nähe des Liedes zur Mystik führt dazu, dass das Lied nicht unbedingt verständlicher wird, wenn man es versteht. Oder anders gesagt, mit dem Verstehen allein ist es nicht getan. Der Mehrwert des Liedes ist in den Strophen 5 und 6 ausgedrückt: «Und wer dies Kind mit Freuden umfangen, küssen will, muss vorher mit ihm leiden gross Pein und Marter viel». Es geht in diesem Kind nicht darum, es zu verstehen, sondern mit hineingezogen zu werden in seine Geschichte. Mitleiden, mitsterben, mitauferstehen – das ist das Ziel, und es ist auch der Weg. Wenn wireins werden mit der ganzen Christusgeschichte, ist das Schiff an Land, haftet der Anker auf Erden. Dann ist Advent und Weihnachten, Karfreitag und Ostern zusammen.

 

  1. Ein Mann

 

Wer schreibt so etwas? Wessen Stimme weht da zu uns herüber, wenn wir «Es kommt ein Schiff geladen» hören. Die ersten drei Strophen werden Johannes Tauler zugeschrieben. Diesen Mann möchte ich Ihnen vorstellen.

Johannes Tauler wurde um 1300 in Strassburg geboren. Mit 14 oder 15 Jahren, also in einem Alter, in dem unsere Jugendlichen den Konfirmandenunterricht besuchen, schloss er sich dem Dominikanerorden an. Er wurde zum Studium nach Köln geschickt und kehrte nach Straßburg zurück. Aber dann musste er die Stadt verlassen. Straßburg hatte sich in einem Streit zwischen Papst und Kaiser auf die Seite des Kaisers geschlagen und wurde darum vom Papst hart bestraft. Die Glocken und Orgeln der Stadt mussten schweigen. Öffentliche Messen fanden keine mehr statt. Damit wurde den Bürgerinnen und Bürgern die Aussicht auf ihr Seelenheil genommen. Die Dominikaner verliessen die Stadt und wichen nach Basel aus. Mit ihnen ging Johannes Tauler. In Basel erwies sich der inzwischen Vierzigjährige als begnadeter Volksprediger. Er predigte in deutscher Sprache, unter anderem zu Frauen, die keinem anerkannten Orden angehörten und sich dennoch an die klösterlichen Gelübde von Keuschheit, Armut und Gehorsam hielten. Diese Frauen – Beginen – führten, weil sie nicht von oberster Stelle anerkannt waren, ein prekäres Dasein. Johannes Tauler wurde ihr Fürsprecher, predigte für sie und verteidigte sie gegen Misstrauen und Anfeindungen. Nach sieben Jahren kehrte er nach Straßburg zurück. Wenig später wütete dort die Pest und raffte über 16.000 Menschen dahin. Dem Dominikanermönch waren noch dreizehn Jahre Leben geschenkt, bevor er, gepflegt von seiner Schwester, in seinem Heimatkloster verstarb. Wenige Jahre vor seinem Tod bebte in Basel die Erde. Das Beben hat man vielleicht auch in Straßburg gespürt und wenig später wird Johannes Tauler erfahren haben, dass es das Münster, wie er es gekannt hatte, nicht mehr gab. Johannes Tauler lebte in einer Welt, in der man sich auf die äusseren Dinge nicht verlassen konnte.

Johannes Tauler war Mystiker. Er glaubte, dass im Grunde einer jeden Seele Gott sei. Er glaubte, dass man zu Gott komme, indem man den Weg der Selbsterkenntnis geht. Er war Mönch, gewiss. Aber er war kein Einsiedler. Sein Leben war verwoben mit dem Handel und Gewerbe der Städte. Er suchte Gott. Aber er suchte Gott nicht in der Abgeschiedenheit von der Welt. Das alltägliche Leben mit seinen banalen Pflichten, fand Tauler, stehe der Suche nach sich selbst keineswegs im Wege. Der Alltag gehöre dazu, und die mystische Vereinigung mit Christus sei nicht nur Ordensleuten vorbehalten. Jeder könne das. Ja, jede solledas. Jede Umkehr von dem, was uns von Gott entfremdet, sei zugleich eine Einkehr zu sich selbst. Und wer zu sich selbst einkehrt, erlebt einen «Durchbruch», erlebt eine «Überfahrt». Und das Ziel dieser Überfahrt ist die Gelassenheit, ein Zustand, in dem man sich von allem löst, sogar von dem Anspruch, die eigene Seligkeit zu erwerben. Ein Mystiker ist unabhängig von den amtlichen Verwaltern des Seelenheils. Er findet an ihnen vorbei den inneren Frieden.

Die Städte, mit denen Johannes Tauler zeit seines Lebens verbunden war, waren vor allem Straßburg, Basel und Köln, und fällt Ihnen etwas auf? Sie lagen alle mehr oder weniger nah am Rhein. Johannes Tauler wird wohl immer wieder Gelegenheit gehabt haben, den Rhein zu betrachten. Den grossen Fluss zu meditieren. Gewiss wird er in Basel von der Pfalz auf den Fluss geschaut haben. Dort sah er die Schiffe vorbeiziehen oder irgendwo vor Anker gehen. Vielleicht verspürte er dabei auch die Sehnsucht nach dem Meer, das er wohl nur vom Hörensagen kannte. In Basel sah er Kähne, die mit ihren schweren Ladungen auf dem Treidelpfad rheinaufwärts gezogen wurden. Vielleicht stattete er sie im Geiste mit Segeln aus und liess sie hochseetauglich und leicht wie der Wind über das Meer gleiten. Möglicherweise sind ihm am Rheinufer zu Basel, die ersten Zeilen eines Liedes zugeflogen: „Es kommt ein Schiff geladen bis an sein höchsten Bord, trägt Gottes Sohn voll Gnaden, des Vaters ewigs Wort“.

 

  1. Zwei Frauen

 

Das Schiff ist Maria. Ihr wird die Geburt eines Sohnes verkündet. Ein Engel spricht zu ihr. Welche Sprache sprechen Engel? Immer die Sprache derer, zu denen sie gesandt sind. Engel brauchen keine Übersetzer. Maria hatte den Engel verstanden, auch wenn sie zuerst erschrak und ihre Rückfragen hatte. Verstehen beginnt manchmal mit einem Erschrecken. Und Verstehen schliesst nicht aus, dass man Rückfragen hat. Aber Maria hat nicht nur verstanden. Sie hat geglaubt. Glauben ist mehr als Verstehen. Maria macht sich auf die Reise zu Elisabeth, der anderen Frau, die mit einem besonderen Kind schwanger geht. «Selig bist du, die du geglaubt hast!» sagt Elisabeth zu Maria, und daraufhin singt Maria ihr Lied: «Meine Seele erhebt den Herrn, und mein Geist freut sich Gottes meines Heilandes.» Sie singt das «Magnifikat», das seither zu den täglichen Gebeten der Kirche gehört. Es hat einen subversiven Klang, wie die Lieder der Frauen manchmal einen subversiven Klang haben. «Selig bist du, die du geglaubt hast!» sagt eine Frau zur anderen, und vielleicht ist das der Grund, warum unsere katholischen Geschwister bis heute der Maria einen besonderen Gruss erweisen. Denn ja, selig bist du, Maria, die du geglaubt hast! Ohne dich hätte die Christusgeschichte nicht beginnen können.

Die Christusgeschichte muss immer wieder neu übersetzt werden. Wir sind keine Engel, wir sind Menschen, und wir reden zu verschiedenen Zeiten an verschiedenen Orten verschiedene Sprachen. Und Geschichten werden manchmal wie Lieder vergessen. Wenn sie gut sind, werden sie wiederentdeckt und neu übersetzt. Und eines ist klar: Wenn die Übersetzung dieserGeschichte gelingt, ist das Ergebnis nicht Verstehen, sondern Glauben.

Gewiss, es gibt die grossen Übersetzer, die die alten Sprachen, Hebräisch, Griechisch, Latein beherrschten. Vor 1600 Jahren schuf der Kirchenvater Hieronymus die Vulgata, die Bibel in lateinischer Sprache, die bis heute in der katholischen Kirche grundlegend ist. Vor 500 Jahren brachte der humanistische Gelehrte Erasmus von Rotterdam hier in Basel mit Hilfe griechischer Handschriften eine Alternative zur Vulgata hervor. Gegen seine Absicht leistete er damit einen Beitrag zur Reformation. Denn mit Hilfe seines Werkes übersetzte Martin Luther das Neue Testament in ein verständliches Deutsch. In seinen Tischreden soll er gesagt haben: "Wirklich übersetzen heisst: etwas, das in einer anderen Sprache gesprochen ist, seiner Sprache anpassen." Heisst für mich: Übersetzen braucht Freiheit.

Doch Übersetzung ist nicht nur das Handwerk gelehrter Männer. Wer die Christusgeschichte übersetzen will von Mensch zu Mensch, der lässt sich mit Leib und Seele involvieren. Wie Maria und Elisabeth, zwei Frauen, die einander besuchen, weil sie gleichermassen betroffen sind. Zwei Frauen, die einander nahe wurden in ihrer Schwangerschaft. Zwei Frauen, die einander nahe wurden in ihrem Erschrecken, in ihrer Hoffnung und in ihrem künftigen Schmerz.

Durch zwei Frauen, Maria und Elisabeth, will Gott bei uns ankommen. Wirsind das Ufer, zu dem das Schiff übersetzt. Und indem das Schiff bei uns vor Anker geht, indem seine Fracht bei uns landet, werden wir selbst zu Schiffen, die die Ladung aufnehmen, die schwanger gehen mit dem Gottessohn, die mit ihm leiden und sterben und ihn erneut zur Welt bringen, wie Maria ihn zur Welt gebracht hat. Wir werden hineingezogen in den nicht aufhörenden Übersetzungsprozess des göttlichen Wortes.

Wenn wires sind, die Gottes Wort heute „übersetzen“, dann übersetzen wir es mit unserer ganzen Existenz, so wie Maria Gottes Wort mit ihrer ganzen Existenz übersetzt hat. Wir sagen Ja zu dem, was der Engel uns zumutet, wir sagen Ja zu Gottes Willen, wie Maria Ja gesagt hat. Wir empfangen Gottes Wort, wie sie es empfangen hat. Wir geben ihm Raum, wie sie ihm Raum gegeben hat. Wir tragen es aus und bringen es zur Welt, wie sie es ausgetragen und zur Welt gebracht hat. Unsbraucht Gott, um überzusetzen aus der Ferne seiner himmlischen Wohnung in die Wirklichkeit des 21. Jahrhunderts. Und darum möchte ich mit einem noch ungeborenen Lied schliessen, im Glauben, das ein Marienlied auch immer ein Christuslied ist. Vielleicht werden wir es nächstes Jahr hier in Basel singen.

 

«Ich geb dir Raum in meinem Leben

Wie einst in Demut Miriam

Ihr Lied lässt Mächtige erbeben

Ihr Jubel tastet Throne an

Ja sagt sie zu deinem Willen

Jesus Christus ist durch sie nicht fern

Er wird unsre Sehnsucht stillen

Mut ist ihrer Demut harter Kern.»

 

 

Amen

 

 

___________

Caroline Schröder Field, geb. 1966, kirchliche Examina an der Evangelischen Kirche im Rheinland, promoviert in Systematischer Theologie bei Gerhard Sauter, von 2005-2011 Pfarrerin der Evangelisch-Methodistischen Kirche in Winterthur, seit 2011 Pfarrerin am Basler Münster.



Pfarrerin Dr. Caroline Schröder-Field
Basel, Schweiz
E-Mail: caroline.schroederfield@erk-bs.ch

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