Göttinger Predigten

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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

4. Advent, 23.12.2018

Die Niedrigkeit seiner Magd
Predigt zu Lukas 1:39-56, verfasst von Sven Keppler

I.Drei Jahre alt war das Mädchen, als es in Pflege kam. Es wurde einem Priester anvertraut. Die Eltern lebten beide noch, aber sie hatten es so entschieden. Und so wuchs das Mädchen in der Obhut von Geistlichen auf. Neun Jahre lang.

Als es zwölf war, fand sich ein Mann, der für das Kind sorgen sollte. Ein Witwer, der bereits mehrere Söhne hatte. Er schien vertrauenswürdig, war in einem gründlichen Verfahren ausgewählt worden.

Als er das Mädchen zu sich nehmen sollte, kamen ihm Bedenken. Was würden die Leute reden? Ein älterer Mann und fast noch ein Kind. Aber diejenigen, die bisher für die Kleine gesorgt hatten, setzten ihn unter Druck. Und so nahm er sie zu sich. Vier Jahre später war sie schwanger.

Liebe Gemeinde, diese Geschichte klingt allzu bekannt. Wie einer der vielen Skandale, die in den letzten Jahren an die Öffentlichkeit gekommen sind. Sie klingt nach Versagen der Kirche. Nach Missbrauch und Verantwortungslosigkeit. Und nach großem Leid.

Der Bericht, durch den wir die Geschichte des Mädchens kennen, ist jedoch auf einen anderen Ton gestimmt. Die Eltern des Mädchens hießen Joachim und Anna. Sie waren seit Langem kinderlos. Anna hatte ein Gelübde abgelegt: „Wenn ich doch noch ein Kind bekommen sollte, dann will ich es Gott weihen. Ich werde es an den Tempel geben.“ So wie ihre Namensschwester Hanna im ersten Buch Samuel. Ebenfalls eine kinderlose, ältere Frau.

Dann wurde tatsächlich die kleine Maria geboren. Nach drei Jahren erfüllten die Eltern ihr Gelübde. Schweren Herzens. Maria wuchs am Tempel in Jerusalem auf, bis sie zwölf Jahre alt war. Als ihre Pubertät begann, konnte sie dort nicht mehr bleiben. Man fürchtete um die Reinheit des Heiligtums. So wurde sie dem Wittwer Josef anvertraut. Er war durch ein Wunder ausgewählt worden: Aus seinem Stab war eine Taube gekommen. Nicht von ihm wurde sie schwanger. Sondern vom Heiligen Geist.

So berichtet es das so genannte Protevangelium des Jakobus. Eine Schrift der frühen Christenheit, die auch die Kindheit Jesu beschreibt. Mit vielen Wundern ausgeschmückt, voller Phantasie.

Trotz aller frommen Ausmalung – es bleibt die traurige Geschichte einer notvollen Kindheit: fern von den Eltern, hin- und hergereicht, eine Teenager-Schwangerschaft mit allem Gerede.

Das Lukasevangelium schmückt die Vorgeschichte Jesu nicht ganz so stark aus. Maria hatte gerade von ihrer Schwangerschaft erfahren, als unser Predigttext einsetzt. Hören wir, was der Evangelist Lukas im ersten Kapitel berichtet [lesen: Lukas 1,39-56]

 

II.Maria spricht von ihrer Niedrigkeit. Von den Niedrigen, die Gott erhebt und den Hungrigen, die er mit Gütern sättigt. Sie weiß, wovon sie redet. Ausgerechnet sie wurde mit einer geradezu unglaublichen Ankündigung konfrontiert. Wie hatte es der Engel gesagt? Siehe, du wirst schwanger werden und einen Sohn gebären, und du sollst ihm den Namen Jesus geben. Der wird groß sein und Sohn des Höchsten genannt werden; und Gott der Herr wird ihm den Thron seines Vaters David geben, und er wird König sein über das Haus Jakob in Ewigkeit, und sein Reich wird kein Ende haben.

Morgen werden wir wieder die Weihnachtsgeschichte hören. Von dem König, der im Stall zur Welt kommt. Vom Gottessohn, dessen Wiege ein Futtertrog ist. Von den schmutzigen und stinkenden Hirten, die als erste dem neuen Weltenherrscher huldigen. Und von der Bedrohung, unter der sein Leben von Anfang an steht.

Die Würde von Jesus ist von Anfang an verborgen. Äußerlich sieht alles nach dem Gegenteil aus. Und Maria fügt sich in dieses Bild: keine Königinmutter von altem Adel. Keine Prinzessin mit rosaroter, goldverzierter Kindheit, die irgendwann ihren Märchenprinzen findet und eine Traumhochzeit feiern darf. Maria ist sozusagen das innerliche Gegenstück zum äußerlichen Stall. Der Ärmlichkeit des Stalls entspricht ihre Niedrigkeit.

 

III.Vom Engel wurde Maria voller Ehrfurcht gegrüßt. Und auch von ihrer Verwandten Elisabeth. Das Ave Maria, dieses Grundgebet der Marienanrufung, hat hier seinen Ursprung: Gepriesen bist du unter den Frauen, und gepriesen ist die Frucht deines Leibes! Daraufhin singt Maria ein Loblied, das berühmte Magnificat. Magnificat anima mea Dominum. Meine Seele rühmt den Herrn.In der katholischen Kirche steht dieses Magnificat im Zentrum der Marienfrömmigkeit.

Wenn es um Maria geht, ist uns Protestanten die katholische Frömmigkeit so fremd wie vielleicht nirgends sonst. Maria, die Himmelskönigin. Maria, die Fürbitterin. Maria, nicht nur die Mutter des sündlosen Gottessohnes, sondern selbst ohne Sünde. Kopfschüttelnd, verständnislos stehen viele Protestanten vor diesen Glaubenslehren.

Ist die Pointe der Weihnachtsgeschichte nicht gerade, dass Jesus mitten in die armselige Menschlichkeit hinein geboren wurde? Da wo es schmutzig ist und stinkt? Da wo Not herrscht und Gewalt, Armut und Trostlosigkeit. Warum musste die Kirche aus Maria eine Sündlose machen? Eine Göttliche? Warum musste sie den uralten Mythos fortspinnen, in dem die Göttermutter vom himmlischen Göttervater befruchtet wird? Maria zur christlichen Gestalt der ewig weiblichen Urgöttin machen, Demeter, Ischtar?

Aber das führt zu weit. Im Gegenzug haben wir Evangelischen das Kind mit dem Bade ausgeschüttet. Haben Maria zur Unperson gemacht. Die Frau, die Jesus unter dem Herzen getragen hat. In wie vielen Gemeinden ist bis heute durch Presbyteriumsbeschluss verboten, das Ave Maria in der Kirche zu singen? Bei Trauerfeiern werden die Lieblingsschlager der Verstorbenen gespielt. Aber auf keinen Fall das Ave Maria. Dieser doch so urevangelische Gruß an die werdende Mutter Jesu!

 

IV.In unserem Predigttext sagt Maria jedoch: Siehe, von nun an werden mich selig preisen alle Kindeskinder.Sollte es wirklich so falsch, so verboten sein, dass auch wir diese Maria selig preisen? Wir Evangelischen sollten da keine Scheu haben!

Wir sollten nur wissen, wen wir preisen: das erniedrigte Mädchen. Die junge Frau mit ihrer harten Lebensgeschichte. Die Schwangere, die beinahe von Josef verlassen worden wäre, weil auch er ihr misstraute. Die Mutter, die mit ansehen musste, wie ihr Sohn hingerichtet wurde.

Diese Maria hat Gott für würdig erklärt. In ihr ist Gott zur Welt gekommen. In ihr. Im Stall von Bethlehem. Im unterdrückten Land Israel. Mitten in der Not der Welt. Zu dieser Frau dürfen auch wir sagen: Ave Maria. Gepriesen bist du unter den Frauen, und gepriesen ist die Frucht deines Leibes!

 

V.Warum ist Marias Niedrigkeit so wichtig? Das Magnifikat verrät es. An Maria können wir sehen, was Gott mit seinen Menschen vorhat. Maria singt: Gott hat die Niedrigkeit seiner Magd angesehen. Er hat große Dinge an mir getan.Und wenig später: Er stößt die Gewaltigen vom Thron und erhebt die Niedrigen. Die Hungrigen füllt er mit Gütern und lässt die Reichen leer ausgehen.

Maria ist nicht die große Ausnahme. Sondern an ihr wird sichtbar, was Gott will. Gott wendet sich den Opfern zu. Den einfachen Menschen. Denen, die an Hunger leiden und anderen Nöten.

So, wie Gott Maria auszeichnet, so will er auch andere Menschen auszeichnen. Liebe Gemeinde, ich glaube, das heißt nicht nur: Gott wird diese Menschen sättigen. Er wird nicht nur ihr Ansehen wiederherstellen.

Sondern das heißt auch: In diesen Menschen kommt Gott zur Welt. Wer hungrig ist. Wer sehnsüchtig ist. Wer an seinem Leben leidet. Wer krank ist an Leib und Seele. Wer traurig oder verzweifelt ist. In dem oder in der kommt Gott tatsächlich zur Welt. Ihnen ist er nahe. Gott wohnt in ihrem Herzen, so wie er sich unter Marias Herzen hat tragen lassen.

Gott wird in uns wohnen. Nicht, weil wir so beeindruckend sind. Nicht, weil wir so moralisch sind und so viel Gutes tun. Nicht, weil an unseren Erfolgen abgelesen werden könnte, wie erwählt wir doch sind. Sondern gerade in unserer Einfachheit, in unserem Scheitern, in unseren engen Grenzen kommt Gott uns nahe.

Denn Gott hat auch unsere Nöte angesehen. Er tut große Dinge an uns. Er erneuert unser Leben. Schenkt uns Glauben und Hoffnung. Jetzt ist die Zeit seiner Ankunft bei uns! Jetzt ist Advent! Amen.

 



Pfarrer Dr. Sven Keppler
Versmold, Nordrhein-Westfalen, Deutschland
E-Mail: sven.keppler@kk-ekvw.de

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