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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

Heiligabend, 24.12.2018

Das Märchen von den Weihnachtsmän-nern und dem Wandel der Zeit
Predigt zu Matthäus :, verfasst von Wolfgang Vögele

Jedes Jahr, nach der Bescherung am Heiligen Abend, trafen sich die Weihnachtsmänner mit Schlitten und Rentieren an einem zugefrorenen See nördlich des Polarkreises. Die Rentiere trieben sie auf eine Weide, sie zündeten Feuer an, wärmten einen großen Topf mit Glühwein und erzählten sich, was sie in den weihnachtlich geschmückten Wohnzimmern beim Schenken und Singen erlebt hatten. Die meisten Weihnachtsmänner waren schon sehr alt und hatten große Erfahrung mit dem Weihnachtsstreß. Sie machten den Schlitten wieder flott, wenn er im Kamin steckengeblieben war. Sie konnten trösten, wenn ein Kind mit seinem Geschenk nicht glücklich war, und sie sorgten mit ausgleichenden, verbindlichen Worten für Ruhe, wenn eine Familie sich schon von der Bescherung zerstritten hatte. Und wenn ein Christbaumstollen oder eine Weihnachtsgans im Ofen angebrannt war, hatten sie ganz unten im Sack ein wohlschmeckendes kulinarisches Notfallset dabei.

Wie die Engel pendeln Weihnachtsmänner zwischen Himmel und Erde. Nun gilt für das himmlische Personal der Satz: Vor Gott sind tausend Jahre wie ein Tag. Es war die Zeit, welche die Europäer später die sechziger Jahre nennen sollten. An diesem Abend saßen die Weihnachtsmänner wieder einmal in der Nähe des Sees um das Feuer herum. Der Weihnachtsmann, der Klaus hieß, war ein Vetter des amerikanischen Santa Claus. Der Weihnachtsmann, der Klaus hieß, erzählte vom vielen Lametta an den Tannenbäumen. Er liebte die dünnen silbernen Streifen. Er schwärmte von leuchtenden Kinderaugen und von den Weihnachtsliedern, welche Eltern und Kinder vierstimmig zu Gehör zu bringen pflegten. Die anderen Weihnachtsmänner stimmten ihm zu: Sie machten jedes Jahr ebenso schöne Erfahrungen. Aber das sollte sich ändern, zuerst nur ganz langsam.

Es begann damit, daß die himmlische Verwaltung die Rentiere an Hirten in Lappland verkaufte. Die alten Holzschlitten mit den verrosteten Kufen wurden durch Elektroschlitten ersetzt. Die Weihnachtsmänner nahmen das hin, denn es machte großen Spaß, mit Vollgas in die Kamine hineinzustürzen und den Schlitten gerade so eben vor dem Weihnachtsbaum zum Stehen zu bringen. Aber am Lagerfeuer erzählten sich die Weihnachtsmänner nach ein paar Jahren Geschichten, die Besorgnis erregten: Leere Akkus, Pannen an den Elektromotoren, Familien, deren Kinder sich wegen ausgebliebener Geschenke bitter beklagten. Auch der Weihnachtsmann, der Klaus hieß, konnte seine Geschichten beitragen. Er sagte: Wir sollten uns beim Christkind beschweren, das hat doch den direkten Kontakt zum Chef. Wir wollen die Rentiere zurück. Wir beschweren uns, daß in den letzten Jahren an Weihnachten die Verbindung zwischen Himmel und Erde gestört ist. Die Weihnachtsmänner schickten erst einmal eine Abordnung zum Erzengel Gabriel, der die Beschwerde in ein dickes Buch eintrug. Diese Taktik hatte sich der Erzengel Gabriel bei der Deutschen Bahn abgeguckt.

Aber in den nächsten Jahrzehnten kamen immer neue Schwierigkeiten auf die Weihnachtsmänner zu. Der eine landete mit seinem Elektroschlitten im Kamin einer Weihnachtsmarktbude, weil er von den vielen Glitzerlichtern geblendet wurde. Es stellte sich heraus, daß dieser Kamin nur eine Attrappe war, und der Weihnachtsschlitten erlitt einen Totalschaden. Der andere wurde abgewiesen, weil die Kinder von ihren Verwandten schon so viele Geschenke hatten, daß sie die Geschenke des Weihnachtsmannes gar nicht mehr interessierten.

Dann kündigte der Erzengel Gabriel an, daß ab sofort alle Weihnachtsgeschenke mit Barcodes versehen würden. Ab sofort müßten die Eltern aller Geschenke empfangenden Kinder den Empfang des Geschenks mit ihrer elektronischen Unterschrift quittieren. Das wiederum hatte sich der Erzengel Gabriel von den Versandunternehmen der Menschen abgeschaut. Die Weihnachtsmänner gründeten einen himmlischen Betriebsrat und wählten den Weihnachtsmann, der Klaus hieß, zum ersten Vorsitzenden. Er sprach beim Erzengel Gabriel vor und drohte: Wenn wir nicht zu den alten Gebräuchen zurückkehren, gründen wir eine Gewerkschaft. Oder wir streiken und blockieren den Schuppen, in dem die Schlitten gelagert werden.

Der Erzengel Gabriel erklärte: Engel und alle anderen himmlischen Vollzugsbeamte haben nicht das Recht zu streiken. Wir müssen an Weihnachten so viele Kinder beschenken, da können wir auf das, was sich die Menschen an Logistik, Organisation und digitaler Verwaltung ausgedacht haben, nicht verzichten. Wir müssen den Wandel leben und gestalten.

In den nächsten Jahrzehnten wurde es noch schlimmer: Die Kinder wollten keine Geschenke mehr, nur noch Gutscheine. Das Lametta war aus Umweltgründen längst von den Tannenbäumen verschwunden. An die Stelle von Wachskerzen traten elektrische Kerzen. An die Stelle von selbst gebackenen Zimtsternen traten gekaufte Lebkuchen. Die Familien sangen keine Weihnachtslieder mehr, sondern spielten CDs ab. Es gab Gerüchte, daß Weihnachtsmänner nicht mehr zur Arbeit gingen, sondern stattdessen Gelage mit Glühwein und Spekulatius feierten. Umfragen belegten, daß die meisten Kinder gar nicht mehr an den Weihnachtsmann glaubten.

Was noch schlimmer war: Die Weihnachtsmänner glaubten nicht mehr an sich selbst. Jenseits des Polarkreises, bei der Nachfeier der Weihnachtsbescherungen, herrschte in diesem Jahr schlechte Stimmung. Der Geruch von Tannenreisig und frisch gebratener Weihnachtsgans hatte sich verflüchtigt. Wie bringen wir den Himmel und die Erde wieder zusammen, fragte sich der Weihnachtsmann, der Klaus hieß. Wir müssen uns Gedanken machen. Die anderen Weihnachtsmänner stimmten zu. Eine Weihnachtsfrau, seit zwanzig Jahren gab es auch Weihnachtsfrauen, aber ohne Vollbart, eine solche Weihnachtsfrau sagte: Vielleicht wissen die im Himmel gar nicht, was jetzt in der Adventszeit auf Erden geschieht. Die da oben jenseits des Sternenhimmels haben den Wandel der Zeiten nicht begriffen.

Der Weihnachtsmann, der Klaus hieß, bereute es mittlerweile, daß er sich zum Vorsitzenden des himmlischen Betriebsrates hatte wählen lassen. Er räusperte sich und sagte: Nicht einmal wir Weihnachtsmänner können den Wandel der Zeit aufhalten. Ich trauere meinen Rentieren nach, dem Schnee, dem Lametta und den selbstgebackenen Lebkuchen. Vielleicht sollten wir den Menschen sagen, daß sie an das Kind denken. Jedes Kind, das gerade geboren wurde, gleicht dem Christkind, das wir an Weihnachten feiern. Wer solch ein Kind sieht, kann gar nicht anders als für Liebe, Freude und Friede zu sorgen, weil alle wollen, daß es diesem Kind – und allen Kindern auf der Welt – gut geht. Nächstes Jahr werden wir Geschenke und Elektroschlitten weglassen  und statt dessen mit den Menschen reden. Wir müssen ihnen helfen, in allem Wandel das Wichtige und das Unwichtige zu unterscheiden. Das Menschliche ist wichtiger als das Gezählte und das Digitale. Die anderen Weihnachtsmänner und -frauen fanden das gut, und sie applaudierten ihrem Betriebsratsvorsitzenden.

So hat am Ende der Weihnachtsmann, der Klaus hieß, einen Plan gemacht, um den zerbrechlichen Frieden des Weihnachtsfestes wieder herzustellen. Auf verschlungenen Wegen, vorbei am strengen Erzengel Gabriel, kam das auch Gott zu Ohren. Und Gott lächelte. Aber da war es schon fast Ostern. Aber Sie wissen ja: Vor Gott sind tausend Jahre wie ein Tag.

Und der Friede Gottes, welcher auch an Weihnachten höher ist als alles, was wir Menschen uns denken und vorstellen können, bewahre eure Herzen und Sinne in diesem kleinen Kind in der Krippe - in Christus Jesus. Amen.

 



PD Dr. Wolfgang Vögele
Karlsruhe, Baden-Württemberg, Deutschland
E-Mail: wolfgangvoegele1@googlemail.com

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