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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

Erster Sonntag nach Weihnachten, 30.12.2018

Romantisch, legendär, besorgt oder gestört? Zwischen Winternachtstraum und Wiederholungszwang
Predigt zu Matthäus 2:13-23, verfasst von Udo Schmitt

(1. romantisch)

Die Flucht der Heiligen Familie

Länger fallen schon die Schatten,
Durch die kühle Abendluft,
Waldwärts über stille Matten
Schreitet Joseph von der Kluft,

Führt den Esel treu am Zügel;
Linde Lüfte fächeln kaum,
's sind der Engel leise Flügel,
Die das Kindlein sieht im Traum,

Und Maria schauet nieder
Auf das Kind voll Lust und Leid,
Singt im Herzen Wiegenlieder
In der stillen Einsamkeit.

Die Johanneswürmchen kreisen
Emsig leuchtend über'n Weg,
wollen der Mutter Gottes weisen
durch die Wildnis jeden Steg,
    

Und durchs Gras geht süßes Schaudern,
Streift es ihres Mantels Saum;
Bächlein auch lässt jetzt sein Plaudern,
Und die Wälder flüstern kaum,

Dass sie nicht die Flucht verraten.
Und das Kindlein hob die Hand,
Da sie ihm so Liebes taten,
Segnete das stille Land,

Dass die Erd' mit Blumen, Bäumen
Fernerhin in Ewigkeit
Nächtlich muss vom Himmel träumen -
O gebenedeite Zeit!                            
(Joseph von Eichendorff)

Die Flucht nach Ägypten, so klingt es jedenfalls bei Joseph von Eichendorff, war eine Art abendlicher Waldspaziergang an einem murmelnden Bächlein entlang, mit Glühwürmchen und Grasgeraschel. Alles, die ganze Natur ist erfüllt von Freudenflüstern, von süßen Schaudern. Das Kindlein segnet mit sanfter Hand das stille Land, o gebenedeite Zeit. Und wir sommernachtsträumen von der Ewigkeit.

Erstaunlich. Selbst so etwas Schreckliches wie die Flucht vor Verfolgung und Mord wird hier im Lichte der Romantik des 19. Jahrhunderts zu einer Biedermeier-Idylle. Man würde sich nicht wundern, wenn als nächstes Oberon und Titania samt ihrem Hofstaat aus Feen- und Elfenwesen an der Wiege wachten und sich stritten, wer das Kind in den Schlaf singen darf. Wie süß!

(2. legendär)

Im weniger verträumten, sondern eher nüchtern-brutalen 20. Jahrhundert erfuhren wir dann von wissenschaftlicher Seite, dass die Legende vom Kindermord zu Bethlehem eben genau das sei: eine Legende. Zugegeben, Herodes der I. war ein ziemlich grausamer Mann. Er litt zum Ende seiner Herrschaft hin wohl an Verfolgungswahn und ließ, das ist verbürgt, seine zweite Frau Mariamne, deren Großvater und auch drei seiner eigenen Söhne hinrichten, weil sie gegen ihn konspiriert hätten. Mag sein, mag sein. Aber die Tötung aller männlichen Babys in Bethlehem? Nein. Das ist nirgends sonst belegt. Und dürfte eine Legende sein.

Eine ausgedachte Geschichte also, wie man sie sich gern von (später) berühmten Männern erzählt. Oft genug weiß man ja recht wenig über deren Kindheit. Und diesen Mangel füllt man dann mit Fantasie. Und berichtet meist von Anekdoten, die schon etwas erahnen lassen von dem, was noch kommen soll. Eine Untergruppe dieser Kindheitslegenden ist die wundersame Errettung aus Gefahr. Von dem starken Herakles etwa wird berichtet, er habe schon als Baby in der Wiege ein Attentat mit zwei Schlangen überlebt, indem er diese kurzerhand erwürgte, bevor diese das mit ihm tun konnten. Von Sargon dem großen, ersten König von Akkad vor viereinhalbtausend Jahren, erzählt man sich, er sei als Baby in einem kleinen Kästchen auf dem Fluss ausgesetzt und so gerettet worden. Ähnliches wird von den Gründern der Stadt Rom, den Brüdern Romulus und Remus berichtet. Und natürlich auch von Moses. Wer wüsste es nicht. Selbst bei modernen Helden, wie etwa der Comicfigur Superman, kommt dieses Motiv vor: Er entgeht der Zerstörung seines Heimatplaneten in einer kleinen Raumkapsel. Und aus seiner Babydecke wird später sein roter Umhang, mit dem er so schön fliegen kann.

Die Besonderheit des Kindes zeigt sich also schon früh. Nicht nur an seinem eigenen hellstrahlenden Lächeln und anderen erstaunlichen Eigenschaften. Sondern – gleichsam als Kontrast und düsterer Hintergrund – auch an den gegen ihn gerichteten dunklen Plänen grausamer Herrscher, die durch Intrige und Lüge an der Macht bleiben wollen und dabei auch vor der Ermordung unschuldiger Kinder nicht zurückschrecken. Aber, Gott sei Dank, vergeblich. Wundersam wird unser Held gerettet. Und wir atmen auf. Puh! gerade noch mal gut gegangen. Nicht auszudenken, was passiert wäre, wenn die Bösen gewonnen hätten.

(3. besorgt)

Soweit so schön. Eine Legende mit happy Ende. Oder doch nicht? Vielleicht können wir der alten Geschichte von der Gefährdung und wundersamen Errettung eines Kindes heute hier, im 21. Jahrhundert, auch noch ein bisschen mehr ablauschen. Denn der Errettete ist ja nicht irgendwer, sondern er selbst, der HERR. Die Engel haben gejubelt, die Hirten gestaunt, Joseph geträumt und Maria hat das Geheimnis bewahrt. Es war einfach wunderbar. So wie jedes Jahr. Alle Jahre wieder kommt das Christuskind auf die Erde nieder, wo wir Menschen sind.

Doch das war letzte Woche, in der Nacht von Montag auf Dienstag, um genau zu sein. Heute ist Sonntag, der erste nach dem Christfest, der letzte in diesem Jahr. Die Geschenke sind ausgepackt und umgetauscht, die Gutscheine schon eingelöst. Thema durch und abgehakt. Und siehe da, der Alltag hat uns wieder. Die Sorgen sie haben sich nur für eine kurze Weile zudecken lassen von den Friedenswünschen und Wunschträumen unter Weihnachtsbäumen. Schon wendet sich der Blick bang zum Neuen Jahr und der Frage: Was wird kommen?

Nur für einen kurzen Augenblick waren über der Krippe im Stall die Himmel offen und der Gesang himmlischer Chöre und Heere hörbar. Nur für einen kurzen Augenblick waren wir wieder kindlich, erlöst, friedlich, freudestrahlend, frei. Nun ist es wieder dunkel. Schon regt sich etwas in der Dunkelheit der Welt. Es sind keine guten Feen, die da flüstern. Keine Glühwürmchen, die wispern. Es sind Ängste und Sorgen, die zunächst verborgen, dann vehementer die Frage stellen: Was wird werden? Was wird werden?

Ich frag ja nur. Das wird man ja wohl noch mal fragen dürfen! Als besorgter Bürger. Seht: Das Weihnachtslicht verlischt, das Lächeln auch. Wir sind wieder zurück vom Ausflug in den Himmel. Und nun: Frieden auf Erden?

(4. gestört)

Oder: Wird Jesus mich stören im kommenden Jahr? Wenn ich meinen Geschäften nachgehe. Meine kleinen Kompromisse eingehe, die ich hasse. Meine Neurosen pflege, meine Angst füttere mit Nachrichten, echten und gefälschten (ge-fake-ten). Wenn ich mich aufrege über die Ungerechtigkeit und die Unfähigkeit, über die Reichen und Mächtigen. Wird Jesus mich dann stören im kommenden Jahr?

Werde ich auch wie Medea, wie Herodes? Gejagt von den eigenen Gespenstern. Ein Mörder an den eigenen Kindern. Oder nur ein Mörder an dem Kind in mir? Indem ich dieses vernachlässige wie jene. Keine Zeit habe für kindliche Bedürfnisse. Keine Zeit. Rational sein muss und brutal. Zu mir selbst. Streng. Streng dich an, Mann! Wenn mein schlechtes Gewissen mich antreibt, Dinge zu tun, die ich nicht möchte, um Leuten zu gefallen, die mich nicht mögen. Statt von kindlich zarter Hand geführt an murmelnden Bachläufen zu verweilen. Muss ich eilen. Eilen von Termin zu Termin, ich muss. Ich muss... Wirklich?

Oder wird Jesus mich dabei stören im kommenden Jahr? Mich unterbrechen. Befreien, erlösen. Oder mich immerhin auf andere Gedanken bringen? Oder werde ich dann unabsichtlich – unweigerlich Abstand nehmen müssen und die Annahme verweigern? Nicht nur das Kind in mir – einsperren, aushungern. Sondern auch…

Auch ein Mörder sein an diesem einen, diesem ganz besonderen Kind in der Krippe. Weil ich – wie weiland Herodes – den fürchte, der er werden kann. Weil er mein Leben von Grund auf verändern kann. Und ich eben das fürchte und nicht will. Lass ich ihn in der Krippe. In der Kapsel. In der Zeitkapsel des Weihnachtsfests, auf Wiedervorlage abgelegt. Auf immer gefangen zwischen Winternachtstraum und Wiederholungszwang. Prokrastiniert bis ins Unendliche. Lass ihn in der Kapsel und lasse ihn nicht wachsen, groß werden. Und nicht an mich ran. Diesen Mann, der er wird. Werden kann. Auch für mich?

„Wird Christus tausendmal in Bethlehem geboren,

und nicht in dir, du bleibst noch ewiglich verloren.“ (Angelus Silesius)

 

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Udo Schmitt, geb. 1968, Pfarrer der Evangelischen Kirche im Rheinland, von 2005-2017 am Niederrhein, seit 2017 im Bergischen Land.



Pfarrer Udo Schmitt
Wülfrath (Düssel), Nordrhein-Westfalen, Deutschland
E-Mail: udo.schmitt@ekir.de

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