Göttinger Predigten

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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

Altjahresabend, 31.12.2018

Ein Gebet aus dem Exil
Predigt zu Jesaja 51:4-6, verfasst von Verena Salvisberg Lantsch

Ach Gott, ich rede mit dir:

Ein weiteres Jahr ist vergangen. Momente, Minuten, Stunden, Wochen, Monate, ein ganzes Jahr Leben. Mein Leben. Leben im Exil.

Wie jedes Jahr habe ich versucht, mich einzurichten im fremden Leben.

Aber ich war fehl am Platz. Kam nicht an. Konnte nicht landen. Was ist falsch mit mir?

 

Schneller, höher, besser. Damit kann ich nichts anfangen. Polierte Fassaden, ein ständiger Kampf um Aufmerksamkeit. Daumen rauf, Daumen runter. Ist offenbar wichtig. Eine Kirche, die um Fans buhlt.

Und ich? Ich habe mich eingerichtet.

 

Gnadenloses Dokumentieren. In der Beweispflicht. Doch, ich war nützlich. Doch, ich habe gearbeitet. Ich habe optimiert. Ressourcen gespart. Ziele gesetzt. War beraten und gecoacht unterwegs. Konfliktmanagement. Ziel nicht erreicht.

Ein paar bleiben auf der Strecke. Werden therapiert. Bringen sich um.

Und ich? Ich habe mich abgefunden.

 

Kopfweh, Bauchweh, Rückenweh – alles tut weh. Exil tut weh.

Wer kann sich Gesundheit leisten? Wohnraum? Kultur? Die Schere geht auf. Würde ist ein Kampf.

Und ich? Ich habe mich arrangiert.

 

Gerechtigkeit? Das ist alles richtig machen. Nichts Illegales tun. Juristisch unanfechtbar sein.

Und ich? Ich habe aufgegeben.

 

Ach Gott! Da bin ich. In der optimierten Kirche. Nützlich. Effizient. Lösungsorientiert. Sparsam. Eine Kirche, die trotzdem jedes Bedürfnis befriedigt und jeden Wunsch erfüllt.

Eine Kirche, die nicht mehr im alten Buch liest. Stattdessen Wohlfühlgeschichten. Eine Heerschar von Schutzengeln, die in Watte packen. Kein Engel ist schrecklich[1].

Und ich? Ich bin Kompromisse eingegangen.

 

Menschen sterben wie Mücken. Im Krieg. An Hunger. Im Mittelmeer. Bleiben hängen im Stacheldraht

Mein Leben und ihr Leben. Ich profitiere. Ich fliege für nichts um die Welt. Ich werfe Brot weg. Ich kleide mich in Ausbeutung.

 

Ein weiteres Jahr ist vergangen. Momente, Minuten, Stunden, Wochen, Monate, ein ganzes Jahr Leben. Mein Leben. Leben im Exil.

Das war: Ich habe mich eingerichtet. Mich arrangiert. Weggeschaut. Weggehört. Kompromisse eingegangen.

Das ist das Leben. Richtig und falsch.

 

Und jetzt - am letzten Abend des Jahres - du!
Hört mir gut zu, mein Volk,[2]

schenkt mir Gehör, meine Leute!

Denn Weisung wird von mir ausgehen

und mein Recht als Licht der Völker.

 

Hier ist kein guter Ort zu hören.

Gerade eben wieder der Beweis: Wunderbarer Ratgeber, Heldengott, Vater für alle Zeit, Friedensfürst (Jes 9,5)

Alle Jahre wieder. Keine Zeit. Keine Stille. Kein Nichts. Keine Chance, dem Bild zu entsprechen, die Erwartungen zu erfüllen.

 

Hört mir gut zu, mein Volk,

schenkt mir Gehör, meine Leute!

Ich schaffe Ruhe.

 

Hier? Da ist kein guter Ort zu hören.

 

Mein Volk!

Meine Leute!

 

Wie könnte ich dein sein? In der Fremde?

 

Hört mir gut zu, mein Volk,

schenkt mir Gehör, meine Leute!

Meine Gerechtigkeit ist nahe, mein Heil ist hinausgegangen,

und meine Arme verschaffen den Völkern Recht.

 

Mein Volk.MeineLeute.

Da ist eine Erinnerung.

Oder ist es eine Sehnsucht?

Dein sein auch hier im Exil?

 

Richtig. Wahr. Gesund werden und gesund machen.

In Ordnung sein. Alle. Ganz, vollständig, unversehrt. Frieden auf Erden. Heiland.

 

Da ist eine Erinnerung. Eine Sehnsucht.

Du? Auch hier, in dem Leben, in dem so vieles falsch ist?

 

Hört mir gut zu, mein Volk,

schenkt mir Gehör, meine Leute!

Mein Heil aber besteht für alle Zeiten, und meine Gerechtigkeit wird nicht zerschmettert.

 

Gut zuhören. Gehör schenken.

Kein Vorsatz. Gnade.

Dank sei Gott.

Amen

 

[1]Vgl. Rainer Maria Rilke, Duineser Elegien: Ein jeder Engel ist schrecklich

[2]Die kursiv gedruckten Zitate des Bibeltextes sind von einer anderen Person zu lesen.

 

____________

Verena Salvisberg Lantsch, geb. 1965, Pfarrerin seit 1. Dezember 2018 in Roggwil BE, vorher in Laufenburg und Frick.



Pfrn. Verena Salvisberg Lantsch
Roggwil, Bern, Schweiz
E-Mail: verenasalvisberg@bluewin.ch

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