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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

Neujahrstag, 01.01.2019

Nächstes Jahr in Jerusalem
Predigt zu Josua 1:1-9, verfasst von Wolfgang Vögele

Friedensgruß

Der Predigttext für den Neujahrstag steht Jos 1,1-9:

„Nachdem Mose, der Knecht des Herrn, gestorben war, sprach der Herr zu Josua, dem Sohn Nuns, Moses Diener: Mein Knecht Mose ist gestorben; so mach dich nun auf und zieh über den Jordan, du und dies ganze Volk, in das Land, das ich ihnen, den Israeliten, gebe. Jede Stätte, auf die eure Fußsohlen treten werden, habe ich euch gegeben, wie ich Mose zugesagt habe. Von der Wüste bis zum Libanon und von dem großen Strom Euphrat bis an das große Meer gegen Sonnenuntergang, das ganze Land der Hetiter, soll euer Gebiet sein. Es soll dir niemand widerstehen dein Leben lang. Wie ich mit Mose gewesen bin, so will ich auch mit dir sein. Ich will dich nicht verlassen noch von dir weichen. Sei getrost und unverzagt; denn du sollst diesem Volk das Land austeilen, das ich ihnen zum Erbe geben will, wie ich ihren Vätern geschworen habe. Sei nur getrost und ganz unverzagt, dass du hältst und tust in allen Dingen nach dem Gesetz, das dir Mose, mein Knecht, geboten hat. Weiche nicht davon, weder zur Rechten noch zur Linken, auf dass du es recht ausrichten kannst, wohin du auch gehst. Und lass das Buch dieses Gesetzes nicht von deinem Munde kommen, sondern betrachte es Tag und Nacht, dass du hältst und tust in allen Dingen nach dem, was darin geschrieben steht. Dann wird es dir auf deinen Wegen gelingen, und du wirst es recht ausrichten. Habe ich dir nicht geboten: Sei getrost und unverzagt? Lass dir nicht grauen und entsetze dich nicht; denn der Herr, dein Gott, ist mit dir in allem, was du tun wirst.“

Liebe Schwestern und Brüder,

Josua steht an der Schwelle zum gelobten Land, hinter ihm die Menge des Volkes Israel, vor ihm das Ufer des Jordans. Den Fluss wird er gleich mit dem ganzen Volk durchqueren. Er wird das neue Territorium samt Weiden, Weinbergen und Bienenstöcken betreten, das Gott dem Volk Israel zugedacht hat. Dieser Raum, wo Milch, Wein und Honig fließen, liegt zwischen der Wüste Sinai im Süden, dem Irak im Osten, der Mittelmeerküste im Westen und dem Libanon im Norden. Und die politische Geographie kommt sehr bekannt vor, nachrichtenaktuell: ein Raum von Konflikten, eine Quelle von Flüchtlingsbewegungen, Sechs-Tage-Krieg und Intifada, Stacheldrahtzäune zu den palästinensischen Gebieten, umstrittene Siedlungsgebiete, Kibbuzim und Wasseraufbereitungsanlagen, Jerusalem mit Tempelberg, Klagemauer, Jerusalem, die umstrittene Hauptstadt, Selbstmordattentäter und Molotowcocktails, Stadtviertel orthodoxer Juden und die Gedenkstätte Yad Vashem, die Altstadt mit den Bazaren, Städte wie Haifa, Tel Aviv, Bethlehem, Nazareth, der See Galiläa. Modernes und biblisches Israel sind gar nicht mehr zu unterscheiden.

Der Sand unter Josuas Fußsohlen weiß noch nicht, wer auf ihm stehen wird in den kommenden Jahrhunderten, wahre und falsche Propheten, erfolgreiche Könige wie David, weise Tempelbauer wie Salomo, missbrauchte Frauen wie Bathseba und Susanna, babylonische Eroberer und Zerstörer, römische Statthalter, Besatzungstruppen und makkabäische Widerstandskämpfer, Joseph und Maria, Jesus von Nazareth und seine Jünger, Judas genauso wie Petrus, dann der Apostel Paulus, Kirchenväter und Kreuzzugsritter, Sultane und Wesire, später Archäologen und Grabräuber. Der Sand, der noch friedlich und gleichgültig unter Josuas Füßen liegt, wird mehrere Male durchgewühlt. Zu den Aposteln, Propheten und Archäologen kommen Flüchtlinge, die sich vor den Nationalsozialisten gerettet haben, dazu Zionisten, die Gründer des Staates Israel, die die Kolonialherren vertrieben haben. So geht es weiter bis heute, der Sand ist derselbe geblieben, auf ihm laufen die Bürger des Staates Israel, Palästinenser, Touristen, gelegentlich ein Politiker aus Europa oder den Vereinigten Staaten, der einen weiteren Versuch unternehmen will, Frieden zu stiften im Heiligen Land, auf der Sandfläche, auf der einmal die nackten Füße Josuas standen, die stellvertretend für Mose das Land betreten.

Liebe Schwestern und Brüder, Gott redet mit Josua, und das Thema ist der Raum, das gelobte, heilige Land. Im Raum siedelt die wandernde Stämmegruppe, das Königreich wird gegründet und geht an die Babylonier verloren, und nach dem Weltkrieg wird die Demokratie des Staates Israel gegründet. An Neujahr denken feiernde Menschen in Partylaune eher an die Zeit, an Wunderkerzen, Böller und gute Vorsätze, an das kommende Jahr und was es bringen wird, an Fortschritt und Verbesserung ebenso wie an Risiken, Gefahren und Krankheiten. Raum und Zeit sind auf eine ganz einfache Weise miteinander verbunden. Der Karlsruher Geograph Friedrich Ratzel (1844-1904) hat beides in einer einfachen und prägnanten Formel verbunden: „Im Raume lesen wir die Zeit.“ Und er meinte damit: Geschichte wird nicht nur chronologisch erzählt, mit Anfang, dramatischem Mittelteil und hoffentlich gelungenem, glücklichem Schluss. Geschichte macht sich auch im Raum sichtbar, an Gebäuden und Landschaften, Karten und Plänen. Um es mit einem biblischen Beispiel zu sagen: Die Bibel umfasst die Geschichte von der Schöpfung über Erzväter und Propheten bis zu Jesus von Nazareth, dessen Botschaft der Apostel Paulus durch den ganzen Mittelmeerraum trug, bis zur Offenbarung an den Seher Johannes auf der Insel Patmos. Aber biblische Geschichte wird auch sichtbar am Raum und seiner Gestaltung. Auch deswegen reisen Christen, Muslime und Juden nach Israel, um den See Galiläa, die Klagemauer mit den Resten des Tempels, den Felsendom, die Grabkapelle und den Garten Gethsemane zu sehen. Die Sandalen der Touristen berühren den Sand, auf dem vielleicht schon Abraham, Amos oder eben Josua gestanden haben.

Der typische Neujahrsraum hat sein eigenes Gepräge: Er lebt von der Stille, die das Feuerwerk der Silvesternacht, das Läuten der Glocken, das Lärmen der feiernden Menschen abgelöst hat. In den Straßen stehen leere Flaschen herum, und die Reste von Feuerwerkskörpern und Luftschlangen liegen unbeachtet auf dem Asphalt. Kaum ein Auto fährt, nur Katzen und Eichhörnchen schleichen um Baumstämme herum und wundern sich über die Ruhe nach dem ungewohnten Lärm der Nacht. Hunde schlafen noch im Körbchen und erholen sich von den tiermedizinischen Beruhigungsmitteln, die sie gegen das Silvesterknallen erhalten haben. Den ersten Tag des neuen Jahres verschlafen die meisten Menschen, sie müssen sich vom Feiern erholen, wie ausufernd und überschäumend fröhlich immer das Feiern gestaltet war. Im verschnarchten Halbschlaf wäre niemand vorbereitet, die Stimme Gottes zu hören, wie das Josua vor Jahrtausenden geschah. Neujahr ist ein Tag der Erschöpfung und des Ausruhens.

Ausgeruht wird es möglich, sich in Josua hinein zu fühlen. Räume erschließen sich durch Blicke und Gefühle. Josua wirft einen Rückblick nach hinten in die Vergangenheit, und vor dem Jordan verschafft er sich einen Überblick für die Zukunft. Das Volk Israel ist vierzig Jahre lang durch die Wüste gewandert, und häufig hat es sich quengelnd gegen Gott gewehrt. Dieser war deswegen so zornig, dass er dem Mose das Betreten des Gelobten Landes versagte. Mose ist nun begraben, und Josua hat die Führung übernommen. Er nimmt sich einen Moment Zeit, er möchte den Horizont sehen, er weiß, dass er aus der anstrengenden Wüste kommt, und er möchte so gern dieses Land betreten, in dem Milch und Honig fließen. Josua hat dieses gelobte Land Kanaan schon gesehen, denn er hat es als Kundschafter betreten. Er weiß, was auf ihn und auf das Volk Israel zukommen könnte. Nun wird sich die Hoffnung des ganzen Volkes erfüllen. Wer den Horizont sehen will, der verschafft sich einen Überblick. Ich stelle mir vor, dass neben dieses Bedürfnis auch ganz unterschiedliche Gefühle traten: Wehmut wegen der Vergangenheit, die trotz aller Konflikte das Volk auch zusammengeschweißt hat; Aufregung und Nervosität wegen der Gegenwart, dazu eine Portion Angst und Hoffnungen über das, was die Zukunft jenseits des Jordan bringen wird.

Und genau darin wird Josua zum Neujahrsmenschen, wegen dieser Mischung aus Wehmut, Orientierungsbedürfnis, Hoffnung und Ängstlichkeit. Die Pappröhren der Silvesterraketen liegen nun zerfetzt am Straßenrand. Jemand hat einmal gesagt: Böller und Raketen sollen das Herzpochen der Menschen übertönen, mit denen sie das neue Jahr beginnen. Vieles ist ja schon geplant und wird sich wie jedes Jahr wiederholen: der Geburtstag im April oder Oktober, das Ende des Schuljahres im Juni, die üblichen Feste, Jahresempfänge im Januar, ein bisschen Urlaub im Sommer. Das alles ist gar nicht so selbstverständlich. Man gewöhnt sich allzu schnell. Von Josua wäre zu lernen: Geschichte ist nicht nur Wiederholung, sondern sie Bewegung auf ein Ziel hin. Nicht ein Kreis, der jedes Jahr wiederkehrt, sondern eine Linie, die auf ein Ziel hinführt. Ich bin überzeugt, Josua hat das gewusst. Ihm war deutlich, dass er der Stellvertreter des Mose war, der dieses gelobte Land nicht mehr sehen durfte. Genauso sind wir alle Kinder, die vielleicht leben, was sich die Eltern gewünscht haben. Die Eltern sind alt geworden und längst gestorben, sie erleben selbst nicht mehr, was sie sich vorgenommen haben.

Wenn der Blick an Neujahr von der Vergangenheit in die Zukunft wechselt, dann denkt der noch schläfrige Neujahrsmensch an gute Vorsätze: Nicht so viel und nicht so fett essen! Weniger Kohlehydrate! Dreimal Joggen in der Woche! Josua schwärmte zwar von den wunderbaren Trauben, die er von seiner Kundschaftertour aus Kanaan mitgebracht hatte, aber zu Vorsätzen ließ er sich nicht verleiten. Vielleicht wusste er damals schon, dass gute Vorsätze höchstens bis Mitte Februar reichen. 

Josuas Übergang mit Rückblick und Ausblick wird geadelt durch die Begegnung mit Gott. So etwas könnten wir Neujahrsmenschen auch gebrauchen, und es findet sich auch, nämlich in der Erinnerung an die Taufe, die im Übrigen Jahrhunderte nach Josua auch im Jordan begann, mit dem neutestamentlichen Freundespaar: Johannes der Täufer und Jesus von Nazareth. Taufe ist ein Innehalten, der Blick zurück auf ein vergangenes Leben und der Blick nach vorn auf ein gesegnetes Leben. Was auch immer die Zukunft für einen Menschen bereithalten mag, es gilt das Wort: Seid unverzagt und getrost. Selbst wenn ein Mensch nicht nur angenehme Tage erlebt, es gilt die Zusage:  Ich bin getauft. Gott bleibt bei dir. Er begleitet dich über jeden gefährlichen Fluss Jordan. Er leitet dich in neue gelobte Länder, wo Milch und Honig fließen. Taufe ist ein Gespräch mit Gott, das in ein Ritual umgegossen wird. Jeder Mensch, ob getauft oder nicht, braucht wie Josua Momente und Orte der Orientierung, nicht nur am ersten Tag des neuen Jahres, sondern an allen Wendepunkten des Lebens. Es gehört zu diesem Leben, immer wieder in die eigenen Vergangenheit, die eigenen Wüstenwanderungen, das eigene Murren, die eigenen Durststrecken zurückzublicken. Es gehört zum Leben, gerade am Neujahrstag, sich der eigenen Stimmungen und Gefühle zu vergewissern, in welche Richtung sie auch ausschlagen mögen. Und es gilt, immer wieder in die Zukunft zu blicken. Geschichte wiederholt sich nicht, sie ist kein Kreislauf, sie ist ein offener Raum, in dem der barmherzige Gott Möglichkeiten und Chancen eröffnet, bis hin zu dem Reich, das Jesus von Nazareth verkündet hat.

Es gehört zum Leben, sich an bestimmten Wendepunkten (und stets am Neujahrstag) neu zu orientieren und dann vor allem Gewissheit und Vertrauen zu erlangen. Es lohnt sich, die entscheidenden Fragen zu stellen: Welches sind die Werte und Überzeugungen, die mich selbst prägen? Welches sind die Werte und Überzeugungen, die ich meinen kleineren und größeren Kindern weitergeben will? Josua stellte diese Fragen. Aber er, der am Ufer des Jordan stand, beantwortete sie nicht in einem Selbstgespräch. Die Bibel erzählt in aller Unmittelbarkeit von einem Gespräch mit Gott. Vielleicht ist uns diese Unmittelbarkeit heute verloren gegangen. Josua braucht Orientierung, und Gott lässt sich nicht lange bitten. Gott redet mit Josua. Und er sagt ihm drei Dinge.

Erstens: Ich verlasse dich nicht. Ich sage dir meine Begleitung, meinen Segen und meinen Schutz zu. Zu dieser Verheißung stehe ich, dessen kannst du gewiss sein. Denke daran, wenn du dir Sorgen machst. Das ist die Verheißung an Josua, die alle Glaubenden durch die Taufe übernommen und verinnerlicht haben.

Zweitens: Halte dich an die Gesetze, die ich dir gegeben habe. Damit sind vor allem die zehn Gebote gemeint. Das heißt nicht einfach: Befolge strikt die Regeln, die ich aufgestellt habe. Das Leben geht nicht auf im Befolgen von Regeln, es ist viel komplizierter. Zu den Geboten in der Bibel gehören auch die Geschichten, in die sie eingebettet sind. Wenn du dir nicht sicher bist, schau in den überlieferten Geschichten der Bibel nach, wie Menschen sich damals an mir orientiert haben. Meist haben sie nichts anderes getan als mutig und ohne Angst von der Freiheit des Glaubens Gebrauch zu machen.

Drittens: Gottes Verheißung und das Handeln der Menschen gehören zusammen. Kein Leben ist so böse oder schlecht, dass ihm jede Zukunft verschlossen ist. Das ist ein Kernpunkt christlicher Hoffnung. Leben reicht über alle Verzweiflung und alles Missgeschick hinaus. Das Leben reicht auch über diejenige Grenze hinaus, die der Tod markiert. Josua blickt hinüber auf das neue, verheißene Land, wie wir jetzt hinüberblicken auf das neue verheißene Jahr. Ich schließe mit dem Wunsch, den sich unsere jüdischen Schwestern und Brüder am Seder-Abend sagen. Dieser Wunsch umfasst Raum und Zeit, aber vor allem Vertrauen auf Gott: Nächstes Jahr in Jerusalem. Amen.

 

Nachbemerkung:Das Zitat von Friedrich Ratzel (https://de.wikipedia.org/wiki/Friedrich_Ratzel) bildete später den Titel eines wichtigen Buches des Historikers Karl Schlögel: Karl Schlögel, Im Raume lesen wir die Zeit, München 2003, hier eine Leseprobe (https://files.hanser.de/Files/Article/ARTK_LPR_9783446257139_0001.pdf) und eine Rezension (https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-3267). Wer das Bild von den Fußsohlen aufnehmen will, der sei auf diesen Blogpost (https://wolfgangvoegele.wordpress.com/2011/10/23/fuse-im-weiten-raum/), wo man auch Bilder von Füßen findet, allerdings im Anschluß an Ps 31. Das läßt sich aber ohne Mühe abändern.

 

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Wolfgang Vögele, geboren 1962. Privatdozent für Systematische Theologie und Ethik an der Universität Heidelberg. Er bloggt über Theologie, Gemeinde und Predigt unter www.wolfgangvoegele.wordpress.com.



PD Dr. Wolfgang Vögele
Karlsruhe, Baden-Württemberg, Deutschland
E-Mail: wolfgangvoegele1@googlemail.com

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