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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

Erster Sonntag nach Weihnachten, 30.12.2018

Verheißung und Erfüllung
Predigt zu Matthäus 2:13-23, verfasst von Matthias Wolfes

„Da sie aber hinweggezogen waren, siehe, da erschien der Engel des HERRN dem Joseph im Traum und sprach: Stehe auf und nimm das Kindlein und seine Mutter zu dir und flieh nach Ägyptenland und bleib allda, bis ich dir sage; denn es ist vorhanden, daß Herodes das Kindlein suche, dasselbe umzubringen. Und er stand auf und nahm das Kindlein und seine Mutter zu sich bei der Nacht und entwich nach Ägyptenland. Und blieb allda bis nach dem Tod des Herodes, auf daß erfüllet würde, was der HERR durch den Propheten gesagt hat, der da spricht: ‚Aus Ägypten habe ich meinen Sohn gerufen.’

Da Herodes nun sah, daß er von den Weisen betrogen war, ward er sehr zornig und schickte aus und ließ alle Kinder [tats.: Knaben] zu Bethlehem töten und an seinen ganzen Grenzen, die da zweijährig und darunter waren, nach der Zeit, die er mit Fleiß von den Weisen erlernt hatte. Da ist erfüllt, was gesagt ist von dem Propheten Jeremia, der da spricht: ‚Auf dem Gebirge hat man ein Geschrei gehört, viel Klagens, Weinens und Heulens; Rahel beweinte ihre Kinder und wollte sich nicht trösten lassen, denn es war aus mit ihnen.’

Da aber Herodes gestorben war, siehe, da erschien der Engel des HERRN dem Joseph im Traum in Ägyptenland und sprach: Stehe auf und nimm das Kindlein und seine Mutter zu dir und zieh hin in das Land Israel; sie sind gestorben, die dem Kinde nach dem Leben standen. Und er stand auf und nahm das Kindlein und sein Mutter zu sich und kam in das Land Israel. Da er aber hörte, daß Archelaus im jüdischen Lande König war anstatt seines Vaters Herodes, fürchtete er sich, dahin zu kommen. Und im Traum empfing er Befehl von Gott und zog in die Örter des galiläischen Landes. und kam und wohnte in der Stadt die da heißt Nazareth; auf das erfüllet würde, was da gesagt ist durch die Propheten: Er soll Nazarenus heißen.“(Jubiläumsbibel, Stuttgart 1912)

 

 

Liebe Gemeinde,

 

es herrscht viel Bewegung in unserem Abschnitt. Die Heilige Familie entweicht von ihrem Aufenthaltsort Bethlehem in Judäa nach Ägypten, und zwar fluchtartig; dann wird in extremer Kürze ein Massaker berichtet, das der König Herodes zur Sicherung seiner Herrschaft an den männlichen Kleinkindern im Gebiet um Bethlehem ausführen läßt; und schließlich, nach Ablauf einer nicht angegebenen Zeitspanne, kehren Joseph und Maria mit „dem Kindlein“ zurück, nun aber in einen Ort namens Nazareth im „Galiläa der Heiden“ (Mt 4,15), weshalb Jesus „der Nazarener“ genannt werden soll.

Die Erzählung ist in drei Unterabschnitte gegliedert – Flucht nach Ägypten, der Kindermord, die Rückkehr aus Ägypten –, und in jedem findet sich der Hinweis darauf, daß sich mit dem Berichteten eine prophetische Weissagung erfüllt habe. Dies ist das Verbindende, und dies ist es auch, worauf es uns heute ankommen soll.

 

 

I.

 

Zu der Geschichte von Jesu Aufenthalt in Ägypten finden wir im Evangelium des Lukas überhaupt keine Analogie. Sie ist eine Sondertradition des Matthäus. Sie gehört zum legendarischen Stoff der Evangelienüberlieferung. Ob ihr, wie es ja bei Sagen und Legenden generell der Fall ist, in irgendeiner Weise geschichtliche Sachverhalte zugrunde liegen, können wir nicht sagen. Das ist aber auch nicht der entscheidende Punkt. Deshalb muß es uns auch nicht irritieren, wenn der Evangelist die Schilderung des Kindesmordes nicht mit der Frage verbindet, wie Gott ein solches Schreckensgeschehen hat zulassen können. Ihm geht es nur um den Kampf, den Gott mit dem Jesusfeind Herodes führt. Daß Gott seinen Sohn auf Kosten Unschuldiger rettet, beschäftigt Matthäus nicht.

Auch einzelne Textprobleme bleiben unaufgelöst. Auf welche biblische Stelle sich das dritte prophetische Erfüllungszitat – „auf das erfüllet würde, was da gesagt ist durch die Propheten: Er soll Nazarenus heißen“ – beziehen soll, ist unklar. Deshalb spricht Matthäus auch lieber von „den Propheten“, statt von einem bestimmten einzelnen. Nicht deutlich wird hier zudem, was der Evangelist überhaupt meint, wenn er solchen Wert auf die Benennung Jesu mit dem Ausdruck „Der Nazarener“ legt. Erst später erfährt der Leser, daß es um die Sendung Jesu zu den Heiden geht: Indem Jesus nach Nazareth in Galiläa, im Land der Heiden, kommt, wird er zum Lehrer und Herrn der Gemeinde.

Das erste der drei Zitate lautet: „[...] was der HERR durch den Propheten gesagt hat, der da spricht: ‚Aus Ägypten habe ich meinen Sohn gerufen.’“Zitiert wird der Prophet Hosea (11,1). Diesen Worten zufolge ist Gott selbst der Sprecher; er selbst spricht hier von seinem „Sohn“. Dieser Titel ist nun für den Evangelisten außerordentlich wichtig, ohne daß der Leser jetzt schon erkennen könnte, worin die Bedeutung eigentlich liegt. Erst später (Kap. 3 und 4) wird deutlich, daß sich in Jesus der Auszug Israels aus Ägypten sowohl wiederholt als auch vollendet.

 

 

II.

 

All diese Punkte seien hier nur kurz angedeutet; sie bilden den Gegenstand für ausführliche und zum Teil komplizierte sachkundige Erörterungen. Sie bieten aber, und das mag uns immerhin doch interessieren, auch eine Gelegenheit, einen etwas genaueren Einblick in die Denk- und Arbeitsweise des Evangelisten zu nehmen. Denn aus den Versionen, in denen er die alttestamentlichen Aussagen zitiert, variiert und zum Teil auch kombiniert, läßt sich erkennen, welche Vorlagen er benutzt hat, wie es um seine Hebräischkenntnisse stand und eben nicht zuletzt auch, was seine theologische Zielsetzung gewesen ist. Er wollte ja nicht eine Biographie schreiben, sondern die Schilderung eines einzigartigen Heilsgeschehens.

Für uns steht dieses letztere nun im Zentrum. Matthäus erklärt: Mit der Geburt, dem Wirken und dem Tod Jesu ereignet sich das Heil. Und zwar nicht irgendeines, sondern das in den biblischen Schriften dem Volk Israel verkündigte Heil, das nun aber sich auf die ganze Welt erstreckt und die ganze Welt einbezieht.

Soweit Matthäus. Was aber kann es nun uns bedeuten, wenn ein neutestamentlicher Autor sagt: „In Jesus“ ist das Heil vollendet? Sollen wir diesen Satz gelten lassen in dem Sinne, daß wir ihn als auch für uns gültig nachsprechen? Und in welchem Sinne könnten wir ihn denn „für uns nachsprechen“, und was heißt „gültig“? Das sind schwierige Fragen. Ich nehme nicht in Anspruch, auf sie in jeder Hinsicht zulängliche Antworten geben zu können. Aber vielleicht kann es mir gelingen, die Richtung anzudeuten, in der mir solche Antworten möglich zu sein scheinen. Dabei gehe ich von der dreifachen Bezugnahme des Evangelisten auf prophetische Worte aus.

 

 

III.

 

Matthäus und ebenso sämtliche anderen Autoren des Neuen Testamentes legen größtes Gewicht darauf, die neue Christus-Botschaft mit dem biblischen Zeugnis – das heißt den „alttestamentlichen“ Texten – zu verknüpfen. Je enger diese Verknüpfung war, desto besser. Doch zugleich haben sie sich in der Rückbeziehung durchaus auch als kreative Glaubensdenker erwiesen. Dafür steht beispielhaft unser heutiger Text aus dem zweiten Kapitel des Matthäusevangeliums. Nicht die Einzelheiten sind dabei wichtig, sondern der Grundzug, daß nämlich Jesus der angekündigte Erlöser ist und niemand anders.

Für die frühen Christen, und zwar nicht nur für ihre intellektuellen Köpfe, sondern für sie im ganzen, war dies die wesentliche Sache: Sie, diese Christen, wurden der Erfüllung einer Verheißung teilhaftig; ihnen wurde die Gewißheit zuteil, daß sich Gottes Wort erfüllt habe. Dies ist es, was den Evangelisten Matthäus bei seiner literarischen Arbeit antreibt; dies ist der Grundgedanke seines Werkes wie auch der Grundgedanke des Neuen Testamentes schlechthin.

Doch es handelt sich dabei viel weniger um einen religionsgeschichtlichen Sachverhalt als vielmehr um die Sache des Glaubens an und für sich. Und hier geht das ganze nun auch uns an. Denn auch wir stehen in der Spannung von Verheißung und Erfüllung. Auch wie sehen diese Spannung mit den Augen des Glaubens, und das bedeutet: von ihrem Ende her. Auch wir sind ja der Erfüllung schon teilhaftig und stehen zugleich mit unserem fragilen, sorgenvollen, unfertigen, oft auch geradezu unglücklichen und leidvollen Dasein noch ganz und gar im Stadium der Verheißung.

Hier weist uns unser Text geradezu in die Mitte des Glaubens. Glauben bedeutet ja, daß einer sein ganzes Selbstsein, sich selbst also, Gott anheimstellt, daß er sich ihm in unendlichem Vertrauen „überantwortet“, daß nichts und auch nicht der kleinste Rest seiner Existenz einen Ort außerhalb von Gottes vorsehender Güte hätte. Aber wenn wir dann von hier aus auf uns blicken, dann sehen wir, wie viel wohl und durchaus mit solchen Worten gesagt ist, aber wie wenig es dann doch auch wieder tatsächlich bedeutet. Da ist eine Art Maßstab formuliert, den wir wirklich auch als gültig betrachten, dem wir aber doch so gut wie nie genügen. Die Verheißung des Heils jedoch besagt gerade: Es wird einmal anders sein; es wird einmal so sein, daß dieses unbegrenzte Vertrauen wirklich da ist und sich dann auch wirklich nicht mehr der kleinste Rest findet, der davon ausgeschlossen wäre. Gerade weil wir dieser Verheißung teilhaftig sind, können wir eben in aller widersinnigen Realität dann doch auch die Erfahrung der unendlichen Güte Gottes machen. Das Glück des Glaubens – die Erfüllung – ist selbst aus der Verheißung hervorgegangen, wie auch die Verheißung selbst ihre Kraft aus der wirklichen Erfüllung bezieht.

Dieses Ineinander beider Seiten: des Noch-Nicht und des Jetzt-Schon ist unauflösbar. So wenig der Evangelist sie für auflösbar hielt, so wenig tue ich es. Und deshalb ist die dreifache Inanspruchnahme prophetischer Worte für seine Geschichte von der Bewegung des Jesuskindes zwischen den Orten „Bethlehem“, „Ägypten“ und „Nazareth“ auch völlig angemessen, ja geradezu notwenig. Hier wird uns keine bloße Geschichte geboten, die sich der Autor an seinem Schreibtisch zurechtkonstruiert hätte, sondern hier geht es um die Sache des Glaubens selbst.

Des Wunders bedürfen wir dabei nicht. Wir brauchen auch keine Kenntnisse derart, ob Jesu Aufenthalt in Ägypten nun ein Jahr oder vielleicht acht Jahre gewährt habe, ob er sich an diesem oder jenem Ort aufgehalten hat, ob sich während der Flucht tatsächlich Tiere oder sogar die Palmbäume vor ihm verneigt haben. Das alles überlassen wir der Phantasie; das geht uns nichts an. Die Wirklichkeit des Glaubens und seine Wahrheit sind viel nüchterner, viel schwergewichtiger und handgreiflicher. Wirklichkeit und Wahrheit des Glaubens bestehen darin, daß uns die unbedingte Zuwendung, die Nähe und Liebe Gottes sowohl verheißen, wir ihrer aber zugleich auch jetzt schon teilhaftig sind.

 

Amen.

 

 

 

Herangezogene Literatur:

Ulrich Luz: Das Evangelium nach Matthäus. Erster Teilband: Mt 1 – 7 (Evangelisch-Katholischer Kommentar zum Neuen Testament. Band I/1). Dritte, durchgesehene Auflage, Zürich / Neukirchen-Vluyn 1992.



Dr. Dr. Pfarrer Matthias Wolfes
Berlin, Deutschland
E-Mail: wolfes@zedat.fu-berlin.de

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