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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

2. Sonntag nach Epiphanias, 20.01.2019

Begründet leben.
Predigt zu Römer 12:9-16, verfasst von Stefan Knobloch

Hätten der Bundespräsident oder die Bundeskanzlerin in ihren Weihnachts- bzw. Neujahrsansprachen so begonnen wie Paulus heute in seinem Römerbrief, wir hätten wohl gedacht, das muss eine falsche Einspielung sein, wir sind auf einem falschen Sender: „Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, eure Liebe sei ohne Heuchelei.“ Wir würden sofort abwehren. Die haben sich im Ton vergriffen.

 

Ich frage mich, ob unsere Toleranz gegenüber diesem Satz größer ist, wenn wir ihn in der Kirche hören? „Eure Liebe sei ohne Heuchelei.“ Wird uns da die Liebe wie eine „theologische Blase“ angeboten, an der wir uns abgehört haben? Wie oft ist schon ins Horn der Liebe geblasen worden, ohne dass es etwas ausgelöst hätte?

 

Ein Gemälde der Liebe

Nun reiht sich da auch Paulus ein. Ist er es wert, seinen Ratschlägen und Wünschen zu folgen? Ich denke, ja. Denn Paulus belässt es nicht bei einem farblosen Appell, sondern er malt in bunten Farben lebensnah aus, was es bedeutet, Liebe zu einem Element des Lebens zu machen. Er schließt an seinen Appell, eure Liebe sei ohne Heuchelei, den Satz an: Lasst das Böse in eurem Leben nicht heimisch werden, denn da kann sich Liebe nicht entfalten; es führt allenfalls zu einer geheuchelten Liebe. Orientiert euch an den Werten des Lebens, am Guten; so abstrakt das hier auch zunächst gesagt erscheint. Paulus belässt es nicht bei dieser Abstraktion, er fächert den Appell zur Liebe auf. Ein Appell, den er an die junge Christengemeinde in Rom richtet.

 

Seid einander in geschwisterlicher Liebe zugetan. Überbietet euch in gegenseitiger Wertschätzung. Werdet nicht lebensträge.

 

Bevor der Eindruck aufkommen könnte, Paulus spreche hier auf einer „säkular-humanitären“ Ebene von Mensch zu Mensch, gibt er den Blick frei auf die tiefere und eigentliche Motivation seines Liebesappells: Seid entflammt im Geiste. Damit ist nicht unser Intellekt angesprochen, sondern Gottes Geist, Gottes Geisteskraft, die uns bewegen und zur Liebe befähigen kann. Und Paulus fügt ein „Dient dem Herrn“ an, das heißt, „Dient dem Auferstandenen“. Das soll die Menschen befähigen, sich der Hoffnung ihres Lebens zu erfreuen, und ebenso Tage der Bedrängnis auf sich zu nehmen. Und haltet am Gebet fest.

 

Während diese Appelle sich mehr an innere Haltungen richteten, greifen die weiteren auf die Situationen des Lebens aus. Bietet denen solidarisch Hilfe, die in Not geraten sind. Macht euch die Gastfreundschaft zur Devise. Ruft über die Segen herab, die mit euch nichts Gutes im Sinn haben. Und weil das schwer ist, wiederholt Paulus diese Bitte: Ruft über sie Segen herab und jagt sie nicht zum Teufel. Freut euch mit denen, die voller Freude sind. Weint mit denen, denen zum Heulen ist.

 

Überschätzt euch nicht

Paulus schließt sein Gemälde gelebter Liebe in einer Zusammenfassung in der Bitte ab: Seid untereinander eines Sinnes. Und er schiebt noch zwei Mäßigungen nach: Bitte, phantasiert euch nicht in persönliche Höhenflüge hinein, bleibt auf dem Teppich und überschätzt euch nicht.

 

 

Zu Überschätzungen neigen wir, persönlich wie gesellschaftlich. Das galt auch für das damalige Leben im antiken Rom. Es handelte sich in Rom zwar um eine pluriforme Gesellschaft, um ein Gemisch aus verschiedenen kulturellen und religiösen Einflüssen. Aber über allem schwebte das Recht des römischen Bürgers, des „civis romanus“. Er sah sich berechtigt – und die Rechtslage gab ihm ausdrücklich das Recht dazu – , auf Menschen, die des römischen Bürgerrechts entbehrten, mit Verachtung, zumindest mit Nichtbeachtung herabzuschauen.

 

Sind daran gemessen unsere heutigen Gesellschaftsverhältnisse so anders? Gewiss rühmen wir uns des ersten Artikels des Grundgesetzes: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Und es ist gut, dass dieser Satz in das Grundgesetz Eingang gefunden hat. Aber wirkt er sich bis in die Lebenswirklichkeit hinein aus?

 

Spaltung durch Selbstüberschätzung

Um es nur an einem Punkt deutlich zu machen: Politologen und Soziologen sprechen heute davon, dass sich in unserer Gesellschaft eine tiefe Spaltung abzeichne. Wir merken das bisweilen bis in unseren Alltag hinein. Viele Leute haben das Vertrauen in die Organe der Gesellschaft, in ihre Institutionen verloren. In diesen Sog geraten auch die kirchlichen Institutionen. Manche denken, das Problem liege darin, dass die Menschen sich von der Politik nicht mehr verstanden, nicht mehr mitgenommen fühlen. Und Politiker reagieren dann darauf, indem sie meinen, sie müssten den Leuten ihre politischen Entscheidungen besser erklären. Aber daran liegt es wohl gar nicht. Die Spaltungstendenzen unserer Gesellschaft sind eher anders zu erklären.

 

Es geht wohl nicht um den Ruf nach dem starken Mann, nach der starken Frau in der Politik, die wieder Ordnung schafft. Um den Ruf nach Autoritarismus, nach einem autoritären Regierungsstil, der „aufräumt“, geht es nicht. Die Spaltungstendenzen sind anders zu erklären. Sie entstehen auf dem Boden des Vertrauensverlustes in die Politik und in die Medien.

 

Auf welche Basis ziehen sich dann die Menschen zurück, um ihr Leben zu bestehen? Die Antwort mag überraschen. Sie hat mit der letzten Empfehlung des Paulus zu tun: Überschätzt euch nicht! Sie lautet: viele meinen, alles besser zu verstehen.

 

Sie wüssten Bescheid, wie man die Probleme der Zeit lösen könne. Das Migrationsproblem, die Probleme der Integration von Menschen anderer Kulturen und anderer Religionen. Mit einem flotten „Lösungs-Sprech“, wie er manche Stammtische und manche Familiendiskussion beherrscht, ist hier nicht geholfen. Oder die Probleme von Hartz 4, die EU-Probleme angesichts des Brexit.

 

Überschätzt euch nicht, sagt Paulus. Das ist exakt hineinzusprechen in die Situation unserer Gesellschaft. Überschätzt euch nicht in euren Kompetenzen. Man missachtet die Printmedien, das Fernsehen. Sie würden einem die Ereignisse der Welt falsch darstellen, sie würden, neudeutsch, Fake News liefern. Und dann verschafft man sich Luft in den sozialen Medien von Facebook, WhatsApp, Twitter und anderen, in einer Art, die das soziale Leben vergiftet. In einer Art der Kommunikation, die vor der Mahnung des Apostels, eure Liebe sei ohne Heuchelei, puterrot anlaufen muss. Viele erregen sich über die „Lügenpresse“, weil sie irrtümlich meinen, eigenständig einen besseren, angemesseneren, wahreren Durchblick zu haben.  „Überschätzt euch nicht,“ ruft uns Paulus in diese Situation hinein zu.

 

Mit anderen Worten: Es breitet sich in unserer Gesellschaft eine Tendenz aus, die vermeintlich meinen könnte, die Devise des Grundgesetzes, die Würde des Menschen zu achten, umzusetzen. Menschen beziehen dann das Grundgesetz auf sich selbst, auf ihre Selbsteinschätzung. Vergessen dabei aber, dass das Grundgesetz sich auf meinem Umgang mit anderen bezieht. So individualisieren sich Menschen zusehends, sie vernachlässigen ihre sozialen Bindekräfte, auch wenn sie gelegentlich in Demonstrationszügen mitziehen.

 

Es kommt alles darauf an, das ergibt sich letztlich aus Paulus‘ Gemälde gelebter Liebe, neu einen Boden des Vertrauens zu gewinnen, des Vertrauens in andere, in Institutionen, in Organisationen, in die Zivilgesellschaft und in sich selbst. Ein Vertrauen, das dann freilich zuletzt in dem gründen könnte, was Paulus Gottes Geist und den Herrn nennt. Nicht um in diesem Bezug erneut entfremdet zu werden, sondern um uns so als Menschen zu begreifen, mit denen Gott seine Geschichte schreibt. Von Tag zu Tag.



Prof. Dr. Stefan Knobloch
Passau, Bayern, Deutschland
E-Mail: dr.stefan.knobloch@t-online.de

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