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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

2. Sonntag nach Epiphanias, 20.01.2019

Protest gegen die Normalität (nach Karl Barth)
Predigt zu Römer 12:9-16, verfasst von Berthold Haerter

(Text in der Übersetzung nach der Zürcher Bibel)

 

Liebe Gemeinde

  1. Selbstverständlichkeiten

„Die Liebe sei ohne Heuchelei.“

Logisch, sagen die Eltern und Verwandten unserer Täuflinge.

Logisch sagen Sie, wenn Sie unsere Taufkinder heute sehen und erleben.
Wer kleine Kinder sieht, der liebt sie.

So wird an Weihnachten die Geburt eines Kindes ja auch so ausgiebig gefeiert und es als Fest der Liebe bezeichnet/säkularisiert.

Liebe ist echt, authentisch, Liebe kann man nicht vorspielen – gerade im Bezug auf Kinder.

 

Ein Stück ist die Liebe zu Kindern eine Analogie zu dem, wie Gott uns liebt, eben wie seine Kinder.

Und bei Gott hält diese Liebe ein Leben lang an.

Selbst wenn wir meinen, wir seien nun erwachsen, selbstständig und kämen ohne Gott aus, Gott also einen lieben Mann sein lassen und der Kirche den Rücken kehren.

Gott bleibt uns menschenfreundlich zugewandt, jedem von uns, Dir und mir.

 

Aber wie ist es mit der Liebe unter uns Menschen?

Ist sie immer echt?

Gibt es da keine Täuschung, keine Fälschungen, nichts Vorgespieltes?

 

Liebe ist ja nicht nur die erotische Liebe zwischen zwei Menschen, sondern es geht hier um den Umgang miteinander.
Liebe meint nicht nur die Liebe in der Familie, sondern es geht dabei um echte freundliche Offenheit und doch sich selbst bleibend, es geht um Zuvorkommenheit und doch nicht etwas dabei anderen und sich selbst vorspielend.

 

Letzte Woche hat mir jemand eine Geschichte erzählt.

‚Stell Dir vor, beim Jahresessen sitze ich doch plötzlich neben der Chefin.

Ich mag sie gar nicht, halte sie für ziemlich unfähig.

Sie lässt uns die Arbeit machen, selbst aber präsentiert sie unsere Abteilung und bekommt dann immer das dicke Lob.

Aber was sollte ich machen?

Ich war freundlich und zuvorkommend zu ihr, aber im Stillen, da habe ich ....

Sie machte Witze.

Ich lachte laut mit, aber im Stillen fragte ich mich, wo eigentlich die Pointe ist.

Sie schimpfte über den Service.

Ich machte voll mit, aber eigentlich fand ich, die Kellnerinnen gaben sich alle Mühe die Extrawünsche zu berücksichtigen.’

 

„Eure Liebe sei ohne Heuchelei.“

„Die Liebe sei nicht vorgespielt.“ (Michael Wolter, EKK zum Römerbrief)

Ja, sind wir wirklich in Sachen Mitfreuen und Mitleiden immer echt, authentisch, so wie Paulus es hier beschreibt?

Gott erwartet es so, innerhalb und ausserhalb der christlichen Gemeinde, weil er selbst ohne Vorbehalte jeden Menschen liebt.

 

Sie können sich selbst hinterfragen, wenn Sie zum Arzt oder auf „Ämter“  oder zu Personen gehen, von denen sie abhängig sind, von denen sie etwas wollen.

Sind Sie dann echt?

Sind Sie bei den VIP’s, den „Very Import People“, denen Sie begegnen, ohne Heuchelei?

Immanuel Kant hat es so gesagt:

„Der Mensch ist die anschaulich gestellte und anschaulich zu beantwortende Gottesfrage.“

 

Eine letztes Beispiel, was mich ins Nachdenken gebracht hat.

Ich habe in dieser Woche eine Frau beerdigt, die aus Süditalien stammte.

Sie hat ihre Kinder wirklich über alles geliebt, alles für sie getan, gar nicht an sich und nur an die Anderen gedacht.

Ihr Leben war wirklich eine praktische Predigt ganz im Sinne Jesu.

So hätte ich auch sein wollen, habe ich gedacht und dann ist mir eine schwierige Situation in der Schulausbildung meiner Tochter wieder eingefallen.

Wenn ich jetzt zurückdenke, an die Lehrerschaft etc. und lese diesen Bibeltext, dann frage ich mich, habe ich so gehandelt wie Paulus es sagt: „Segnet, die euch verfolgen, segnet sie und verflucht sie nicht!“

 

Ist es nicht selbstverständlich das wir lieben, die uns lieben und das wir hart ins Gericht gehen mit denen, die uns oder unseren Lieben das Leben schwer machen?

Gerechtigkeit, die geht vor Liebe, das ist normal.

 

  1. Im Anderen Gott begegnen

Paulus weist uns und die Gemeinde in Rom damals auf etwas ganz Wichtiges hin.

Im Anderen, egal welchen, begegnet uns Gott auf Augenhöhe.

Ob es wichtige Personen in unserer Karriere sind, ob es meine Kinder sind, ob es der Flüchtling ist, der scheinbar immer nur Forderungen stellt, ob es meine alte Mutter ist, die nicht begreift, dass ich auch langsam erwachsen geworden bin, usw:

In jedem Menschen begegnet mir der ganz Andere, Gott.

Und das fragt mich an!

Gehe ich ehrlich und in Achtung mit jedemum, unabhängig von seiner Stellung und Wichtigkeit in meinem Leben?

Respektiere ich ihn, wie er ist?

Versuche ich immer das Gute im anderen zu sehen?

Opfere ich mich bei jedem Menschen auf, von dem ich weiss, er braucht Hilfe?

Ja, gehe ich wirklich mit jedemehrlich mit, in Freud und Leid?

Und richte ich nicht, denn das ist – wenn ich nicht dazu beruflich angestellt bin – nicht meine, sondern Gottes Aufgabe.

 

Wenn ich ehrlich zu mir bin: Ich bin nicht so.

Da gibt es Abstufungen.

Ich erinnere mich nicht bei jedem Menschen daran, dass mir hier Gott begegnet.

Dabei hat Gott uns gerade in einem kleinen Kind gezeigt:

‚Ich, Gott liebe jeden Menschen.’

Jesus Geburt ist der Anfang einer Geschichte Gottes, in der er uns seine Menschenfreundlichkeit wie ein Bilderbuch aufschlägt.

Jesu Wirken und Taten und Reden sind alles Bilder, wie Gott zu uns/mir ist.

So bekommen die Taufeltern heute eine Kinderbibel, damit sie diese Gottesliebe ihren Kindern erzählen können.

 

Apropos biblische Geschichten:

Erinnern Sie sich an die Geschichte vom korrupten Zöllner Zachäus in der Bibel?

Jesus holt ihn beim Durchziehen durch Jericho vom Baum herunter, wo er sich versteckt hatte, und lädt sich bei ihm ein.

Das bewirkt, dass dieser, sich bestechen lassende Staatsbeamte, von Jesu Art so überwältigt ist, dass er sein Leben ändern will.

Und Jesus hat nichts anderes gemacht als unvoreingenommen Liebe ausgestrahlt.

Die ganze Stadt, die Jesus als Star behandelte, fragt Jesus so: Seid Ihr auch so offen gegenüber denen, die ihr eigentlich nicht liebt, geschweige denn segnet, eher hasst? (Lukas 19)

Gott ist so, sagt uns Jesus hier zu Dir, zu mir, zu jedem von uns.

 

  1. Christ sein – Protest gegen die Normalität

Sehen Sie und so ist Christsein eigentlich ein Protestieren gegen das Normale, so wie es halt in unserer Gesellschaft so ist.

Eigentlich ist Christsein immer ein Schritt auf den anderen zuzugehen – ehrlich, nicht vorgespielt, ohne Heuchelei, auch klar und Klartext sprechend und danach handelnd, ohne aber über jemanden zu richten.

 

Paulus fordert uns auf: Benutzt Euren Verstand, Eure Intellektualität, Eure praktische Art, Euer Herz, benutzt es selbstverständlich immer wohlwollend gegenüber anderen.
Der Grund dafür ist, Gott macht es genauso bei Dir.

Eigentlich sollte uns diese Erkenntnis so verwandeln, wie es den Zöllner Zachäus verwandelte.
Dieser egoistische, nach oben buckelnde und nach unten tretende Mann stand überwältigt von Jesu Unvoreingenommenheit nämlich plötzlich auf und meinte:

„Hier, die Hälfte meines Vermögens gebe ich den Armen, Herr, und wenn ich von jemandem etwas erpresst habe, will ich es vierfach zurückgeben.“

 

Das war damals nicht normal und das ist heute nicht normal.

Christsein ist Protest gegen die Normalität, gegen das Übliche, gegen die Gepflogenheiten, wo Schein und Sein oft nicht übereinstimmen, gegen die Einteilung von Menschen in  VIP’s und Nobodys.

 

Christsein ist begreifen: In jedem Menschen begegnet mir Gott und ich muss mich fragen: Wie will ich mit Gott umgehen? So wie er mit mir oder anders?

 

  1. Ein Beispiel

Beim Zeitungslesen bin ich auf einen Berliner Pfarrer gestossen.

Vor Jahren haben wir Oberriedner Konfirmanden ihn in seiner Kirchgemeinde in Berlin-Kreuzberg besucht.

Die Kirchgemeinde hatte aus der Kirche ein Kirchgemeindezentrum mit vielen Räumen gemacht.

Im Zeitungsartikel wird nun erzählt, dass dieser Pfarrer und diese Gemeinde in Berlin 1983 das erste Kirchenasyl gaben.
Da sollten palästinensische Flüchtlinge in den Libanon abgeschoben werden, da der Flughafen in Beirut wieder offen war, aber die lebensbedrohliche Situation war immer noch im Land.

Plötzlich standen abends ein paar Leute aus der Autonomen Szene, die sich um diese Flüchtlinge kümmerten, mit diesen und Sack und Pack vor der Tür der Kirche und behaupteten, die Flüchtlinge müssten von der Kirche nun aufgenommen werden, sonst würden sie abgeschoben werden.

Die Sache bewirkte, dass man Zeit hatte, die Fälle nochmals anzusehen und erkannte, dass diese Menschen ein Bleiberecht hatten. (Zeitzeichen 2019/1, 36ff)

 

Ich habe mich an ein Bild erinnert.
Da schwimmen viele Fische mit dem Strom, einer aber schwimmt gegen den Strom.
Darunter stand:

„Nur wer gegen den Strom schwimmt kommt zur Quelle.“

Wer und was ist unsere Quelle?

Wie können wir sie für uns und für die Welt nutzen?

Protestierend gegen die Normalität?

 

Hören wir den Paulus doch nochmals.
Die Konfirmandinnen lesen den Bibeltext in einer Übertragung der Volxbibel:

 

„Leute, so eine Pseudoliebe ist doch total ätzend.
Auf gute Sachen sollt ihr ruhig abfahren, aber auf böse Sachen sollt ihr kotzen.
Liebt euch gegenseitig, tut das ehrlich und ohne dabei zu lügen.
Freut euch, dass ihr euch überhaupt kennt, und respektiert den anderen.
Ihr sollt nicht schlaff werden, wenn es ums Beten geht,
lasst euch von Gottes Kraft abfüllen.
Und macht euch immer gerade für Gott.
Freut euch auf Gottes Sache, auf die Dinge, die er noch für euch hat. Entspannt euch, wenn es mal derbe zugeht.
Und vor allem gilt: Nie aufhören, mit Gott zu quatschen, ja?!
Wenn andere Jesus-Leute Probleme kriegen, dann seid parat und helft ihnen.
Und lasst auch mal Leute bei euch pennen oder ladet sie zum Essen ein.
Wenn ihr selbst mal in Schwierigkeiten kommt, weil ihr Christen seid, dann schiebt keine Hasskappe gegen die, die hinter euch her sind.
Betet für sie, segnet sie!
Wenn Leute gut drauf sind, dann freut euch mit ihnen.
Und wenn sie depressiv sind, dann weint mit ihnen.
Streitet euch nicht und versucht euch nicht vor anderen in den Chefsessel zu flezen, sondern macht auch mal den Abwasch.
Und glaubt nicht, ihr habt die Weisheit mit Löffeln gefressen.“ AMEN



Berthold Haerter
Oberrieden, Zürich, Schweiz
E-Mail: Berthold.haerter@bluewin.ch

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