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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

2. Sonntag nach Epiphanias, 20.01.2019

Predigt zu Römer 12:9-16, verfasst von Cornelia Coenen-Marx

Römer 12, 9 - 16

9 Die Liebe sei ohne Falsch. Hasst das Böse, hängt dem Guten an.

 10 Die brüderliche Liebe untereinander sei herzlich. Einer komme dem andern mit Ehrerbietung zuvor.

 11 Seid nicht träge in dem, was ihr tun sollt. Seid brennend im Geist. Dient dem Herrn.

 12 Seid fröhlich in Hoffnung, geduldig in Trübsal, beharrlich im Gebet.

 13 Nehmt euch der Nöte der Heiligen an. Übt Gastfreundschaft.

14 Segnet, die euch verfolgen; segnet, und verflucht sie nicht.

 15 Freut euch mit den Fröhlichen, weint mit den Weinenden.

 16 Seid eines Sinnes untereinander. Trachtet nicht nach hohen Dingen, sondern haltet euch zu den niedrigen. Haltet euch nicht selbst für klug.

 

Heute möchte ich Sie gern einladen nach Berlin. In den Albrechtshof, das evangelische Traditionshotel – gleich am Bahnhof Friedrichstraße. Lange vor uns, 1964 zu DDR-Zeiten, ist Martin Luther King schon hier gewesen- nach ihm ist die Kapelle im Keller benannt. Bis heute kommen amerikanische Gemeinden auf seinen Spuren hierher. Und auch die unterschiedlichsten Gruppen und Gremien aus Kirche und Diakonie tagen hier. Da trifft man öfter mal jemanden, den man kennt- daher mein Heimatgefühl. Der Albrechtshof ist mein Lieblingshotel. Besonders gern mag ich die dunkelroten Ohrensessel auf den Zimmern. Und den Innenhof, wo man im Sommer auch frühstücken kann. Aber jetzt stehen wir erstmal an der Rezeption, nehmen die Karte in Empfang und gehen zum gläsernen Aufzug. Dem merkt man sein Alter an - er ist ausgesprochen langsam. Aber so bleibt Zeit, die Inschriften zu lesen, die jede der vier Etagen schmücken: 

„Wir begegnen Menschen und nehmen wahr, was sie brauchen.

Wir achten alle Menschen und begegnen ihnen in Liebe.

Wir geben Menschen Heimat und leben Gemeinschaft.“

Während ich das lese, sehe ich sie vor mir, die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Hotels und Wärmestuben, in der Bahnhofsmission und im Kältebus. Wie sie Rucksäcke an Wohnungslose verteilen, heißen Kaffee ausgeben, Hotelgäste bedienen- ich habe noch den Geschmack der Fleischbrühe auf der Zunge, die sie mir brachten, als ich hier einmal krank wurde. Das Leitbild „bildet den Rahmen unserer täglichen Arbeit“ lese ich im Netz. Es wurde von Mitarbeitenden der Berliner Stadtmission entwickelt. Und tatsächlich- die Worte rahmen die Bilder, die ich in Erinnerung habe.

Leidbilder- solche mit d- kennen sie bestimmt auch. Man braucht sie fürs Image und die Qualitätskontrolle. Entsprechend hängen sie gerahmt an der Rezeption oder werden im QM-Ordner abgeheftet. „Bei uns steht der Mensch mit Mittelpunkt“ steht dann da. Und sie kennen sicher das Augenrollen, wenn man darüber ins Gespräch kommt- mit Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, aber auch mit Kunden. Zu oft passen die Worte nicht zu den Erfahrungen. Brauchen wir solche Texte wirklich?

„Der moderne Kapitalismus braucht Menschen, die sich frei und unabhängig fühlen und glauben, keiner Autorität, keinem Prinzip und keinem Gewissen unterworfen zu sein. Die aber dennoch bereit sind, Befehle auszuführen, zu tun, was man von ihnen erwartet. Die sich reibungslos in die gesellschaftliche Maschine einfügen, sich ohne Gewalt leiten lassen, sich ohne Führer führen und ohne Ziel dirigieren lassen“, schrieb Erich Fromm schon 1979. Und es  passt bis heute zu den Entwicklungen in Wirtschaft und Gesellschaft.  Die Entwicklung von Leitbildern will alle in die Pflicht nehmen, ohne ihre Freiheit einzuschränken. Das geschieht über Vereinbarungen und gemeinsame Regeln, über Ziele und Meilensteine- von der Schulklasse bis zum Betrieb.

 „Feedback ist ausdrücklich erwünscht. Wir sprechen Störungen an. Wir respektieren einander. Wir gehen achtsam mit uns selbst und anderen um.“

 Das waren die Vereinbarungen in einem Fortbildungsseminar, an dem ich neulich teilgenommen habe. Während wir gemeinsam Regeln aufstellten, wurde deutlich, wie wenig solche Begriffe tragen. Was bedeutet denn achtsamer Umgang miteinander, wenn die Arbeit sich immer mehr verdichtet? Und was Respekt, wo es doch letztlich um Konkurrenz und Leistung geht? Woher wissen wir, wo die Grenzen des Respekts sind – und wo die Übergriffe beginnen? Begriffe wie Achtsamkeit und Respekt prägen unsere Leitkultur von den Schulen bis Krankenhäusern und Pflegeheimen. Spannend – und eben oft auch schmerzhaft – wird es, wen wir konkrete Situationen vor Augen haben. Das hat die Me-too-Debatte gezeigt.

Auch der Predigttext von heute ist eine Art Leitbild- darin gleicht er den Texten, die ich eben zitiert habe.

„Die brüderliche Liebe untereinander sei herzlich. Einer komme dem anderen mit Ehrerbietung zuvor“, schreibt Paulus an die Gemeinde in Rom.

 Die Begriffe, die er in den Mittelpunkt stellt, sind nicht exklusiv christlich – sie entsprechen der gängigen Ethik seiner Zeit.  Ehrerbietung und Geduld, Einigkeit und Gastfreundschaft sind den gebildeten Römern wie der jüdischen Gemeinde so wichtig wie uns Respekt und Achtsamkeit. „Einer komme dem anderen mit Ehrerbietung zuvor.  Übt Gastfreundschaft.  Seid eines Sinnes untereinander. Seid brennend im Geist“, steht da. Kann man das befehlen? Bei Paulus kommt das Leitbild im Imperativ daher – als Ermutigung vielleicht, als Zuspruch auch. Aber für uns Heutige ist das schwer zu ertragen. Wir sind skeptisch gegenüber Autoritäten und Prinzipien, da hat Erich Fromm ganz Recht. Deshalb werden ja unsere Leitbilder in Wir-Form geschrieben. Und der Zuspruch, der auch darin steckt, wird als Erwartung formuliert. „Wir kommen einander mit Ehrerbietung zuvor. Wir werden geduldig sein.“

Schaut man in den griechischen Originaltext dann zeigt sich allerdings: Paulus nutzt gar keine Imperative, sondern Partizipien. Das klingt dann ungefähr so:“ Mit Euren verschiedenen Gaben lebt ihr Gemeinde – indem bei Euch die Liebe ohne Heuchelei ist, indem ihr das Böse hasst und dem Guten anhängt, in dem ihr in geschwisterlicher Liebe lebt …“ Es geht ihm also darum,wiewir die Liebe leben - in unserem jeweiligen Kontext, im ganz alltäglichen Rahmen. Und das kann gestern und heute durchaus verschieden aussehen. Im römischen Reich, wo Christen eine verfolgte Minderheit waren, ganz anders als in einer christlich geprägten Mehrheitsgesellschaft. Angesichts von Gleichgültigkeit anders als inmitten von Hass und Gewalt. Da kommt es darauf an, nicht mitzumachen- auch nicht heimlich, sich nicht zu ergeben, einander zu schützen. Und hier, die Initiative zu ergreifen, auf die Straße zu gehen, sich zu öffnen. Aber so oder so:  Es geht um geschwisterliche Liebe. Es geht darum, eine neue Kultur zu entwickeln, eine Kultur der Liebe, die den Alltag verändern kann.  Modern gesagt: Es geht um „doing love“, um „doing congregation“. So wie wir von „doing family“ reden oder von „doing gender“, weil wir wissen: Es kommt nicht auf die Begriffe an, sondern darauf, wie wir in den unterschiedlichen Kontexten Familie, Alter oder Geschlechterrollen leben. Im Handeln zeigt sich die Wahrheit der Liebe Gottes. Handelnd stoßen wir auf die Situationen, die unsere Begriffe schärfen oder auch korrigieren.

„Übe, was Gott dir gebietet, dann weißt, wer er ist“; schreibt der Rabbiner Leo Baeck. „Freut Euch mit den Fröhlichen, weint mit den Weinenden“, schreibt Paulus. Was das bedeuten kann, erlebe ich zurzeit mit einem Pflegeteam in einem Viersener Krankenhaus.  Dort auf der Wachstation liegt seit Wochen eine alleinstehende Mutter, die ich vor vielen Jahren konfirmiert habe. Jetzt ist sie 50, hat eine 11-jährige Tochter und eine schwere Immunschwäche. Fast alle Organe waren in den letzten Jahren entzündet, sie hat unendlich viele Operationen hinter sich. Dahinter steht eine traumatische Erfahrung in der eigenen Familie- jahrelanger Missbrauch von Vater, Bruder, Onkel. „Ich habe keine Familie“, sagt sie- und tatsächlich lebt keiner mehr. Mutter und Bruder haben sich das Leben genommen. Gäbe es ihre 11- jährige Tochter nicht, sie wäre ganz allein.

Aber da ist die Pfarrfamilie, und da sind die vier Schwestern vom Team der Wachstation. Die sie wecken, wenn sie nachts im Schlaf schreit. Die länger dableiben, wenn sie aus dem OP zurückkommt. Die mit ihr reden, mit ihr beten, wenn sie lange nicht aufwacht. Nicht aufwachen will. „Ich komme morgen früher, um sie zum Gottesdienst zu bringen“, schrieb mir eine von ihnen an Silvester. „Noch nie bin ich einer Patientin so nahe gekommen“. Aber auch dem Bösen ist sie wohl nie so nahe gekommen- und immer aufs Neue zutiefst erschrocken, wenn die Patientin aus ihren Träumen aufschreckt. Wer mit den Weinenden weint, sieht die Tiefe der Wirklichkeit. Er kann sich das Leben nicht schön reden, kann Hass und Missbrauch nicht leugnen – und auch nicht die verzweifelte Frage, wo Gottes Liebe denn war in all dem.

Darum ist unser Paulustext kein geschliffener Leitbildtext. Keine bloße Behauptung, die der Realität nicht standhält. Keine Profilschärfung auf Kosten anderer. Stattdessen eine Ermutigung, unseren Glauben zu leben- mitten in unserer Wirklichkeit. Einzuüben, was wir glauben – in aller Demut, ohne uns selbst für klug zu halten. Es kann sinnvoll sein, ein Leitbild zu erarbeiten – für ein Krankenhaus und auch für eine Kirchengemeinde. Aber letztlich geht es nicht darum, unser Leben an selbstgesteckten Zielen, Meilensteinen und Begriffen zu messen. Es geht nicht um ein Programm, sondern um die lebendige Erfahrung mit Gottes Liebe. Um unser Miteinander, den Umgang mit Fremden, aber auch mit uns selbst. Scheitern, Zweifel, Grenzerfahrungen gehören dazu. Denn in ihnen nimmt Gottes Liebe Gestalt an – sie wird menschlich, realistisch und erdverbunden. „Trachtet nicht nach hohen Dingen“, sagt Paulus, „sondern haltet Euch zu den niedrigen“.

Vielleicht ist das das allerschwerste- die Differenz zu ertragen zwischen Sein und Sollen oder auch Wollen. Den anderen zu sehen, wie er leidet – und dabei wahrzunehmen, dass der Mensch eben nicht immer im Mittelpunkt steht, auch in unseren christlichen Krankenhäusern nicht. Die Gesundheitsbranche ist ja längst Teil des Kapitalismus, von dem Erich Fromm gesprochen hat. Wie üben wir da die Liebe? Wie die Schwestern in Viersen, denke ich: Manchmal mit unendlicher Geduld. Manchmal im Streit mit den Kassen. Und manchmal im Gebet. In all dem geht es nur um eins: der Liebe Gottes Raum zu geben. Und unserem Handeln einen Rahmen. 

Weihnachten ist noch nicht lange her. Da haben wir gefeiert, dass das Wort Fleisch geworden ist.  Nur darum geht es: dass wir diese Menschenliebe Gottes leben- mitten in unserer Wirklichkeit, in unserer Zeit.  Mit unserem Leben- alltäglich, praktisch, voller Hingabe und Veränderungsbereitschaft. Paulus fordert seine Leute übrigens ausdrücklich auf, zu prüfen, was Gott von uns will- was wirklich gut ist. Hören, handeln und beten. Paulus nennt das einen „vernünftigen Gottesdienst“.  Die Liturgie des Alltags wird gelebt - im Albrechtshof, im Klinikum, an unseren Schulen und Universitäten. Sie lässt sich entdecken in Leittexten, aber mehr noch in gelebter Erfahrung. In Augenblicken, die uns anrühren. Heute, am Sonntag, können wir um solche Erfahrungen beten. Amen



Cornelia Coenen-Marx
Hannover, Niedersachsen, Deutschland
E-Mail: office@seele-und-sorge.de

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