Göttinger Predigten

Choose your language:
deutsch English español
português dansk

Startseite

Aktuelle Predigten

Archiv

Besondere Gelegenheiten

Suche

Links

Konzeption

Unsere Autoren weltweit

Kontakt
ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

5. Sonntag vor der Passionszeit, 03.02.2019

Predigt zu Matthäus 8:23-27 (dänische Perikopenordnung), verfasst von Thomas Rasmussen

Neulich war ich auf einem Lehrgang für Pfarrer. Einer der Vorträge handelte von Schuld und Scham und davon, wie wir das heutzutage eigentlich problematisch behandeln. Dass es eigentlich nicht so sehr die Schuld ist, sondern die Scham, die ein Problem darstellt.

Denn es scheint so, als hätten wir durchaus gelernt, die Schuld in den Griff zu bekommen. Mit der Schuld kann man in vieler Hinsicht besser fertig werden als mit der Scham. Denn die Schuld kann man in aller Offenheit eingestehen, auch wenn das schmerzhaft ist, und dadurch vielleicht eine Art Versöhnung erreichen.

Mit der Schuld kann man in gewisser Weise besser fertig werden, mit der Scham scheint das schwieriger zu sein. Sie scheint sich unseren normalen Methoden zu entziehen, mit den Dingen fertig zu werden. Sie scheint uns in einer ganz anderen Weise zu belasten.

Man kann zwischen zwei Formen von Scham unterscheiden. Die eigene Scham und die anderer. Letztere ist eigentlich eine gute Art und Weise des Zusammenseins. Denn wenn wir einander in einer intimen Situation überraschen, können wir uns schämen – nicht für uns, sondern die anderen. Das ist eine gute Scham, weil sie den anderen deckt und verbirgt. Wenn wir diese Scham nicht haben, leben wir schamlos. Eine Gesellschaft, die keine Scham im positiven Sinne kennt, ist eine schamlose Gesellschaft.

Die andere Scham aber, das ist unsere eigene Scham. Sie ist vielleicht unerkannt, und vielleicht schwer in Worte zu fassen. Der Referent an dem erwähnten Lehrgang erzählte, dass er einmal einen Unterrichtsverlauf mit einer Reihe von Teilnehmern hatte. Das waren erwachsene vernünftige Menschen. Der Unterricht hatte mit der Frage begonnen, ob sie etwas hatten, über das sie sich schämten. Nicht so sehr die konkrete Scham, sondern das Gefühl, sich zu schämen. Und es zeigte sich, dass die ganze Gruppe dieser vernünftigen erwachsenen Menschen alle irgendein Gefühl kannten, nicht gut genug zu sein, in Bezug auf andere nicht zu genügen, in der Gemeinschaft nicht gut genug zu sein.

Alle kannten dieses Gefühl, das schwer zu definieren ist, das man aber in irgendeinem Sinne als Scham bezeichnen kann. Das ist merkwürdig. Alle glaubten, damit allein zu stehen, und dass die anderen in der Gruppe dieses Problem nicht kannten. Aber das ist nicht der Fall. Offenbar haben alle das Gefühl, nicht zu genügen, nicht dazuzugehören, nicht ordentlich Teil der Gemeinschaft zu sein.

Das gibt zu denken.

Wir reden also von Schuld und Scham. Der Schuld kann man mit Vergebung begegnen, aber wie geht man mit der Scham um? Die Scham kann durchaus in irgendeinem Sinne einer Schuld entspringen, der Umgang mit der Scham braucht also nicht im Widerspruch zu stehen mit dem Umgang mit der Schuld. Aber vielleicht geschieht dies nur in einem tieferen Sinne?

Wenn wir der Schuld mit Vergebung begegnen, dann ist die Begegnung mit der Scham der liebevolle Blick.

Gesehen werden ist nicht nur durchschaut zu werden, sondern mit Liebe gesehen zu werden, mit Nachsicht, mit einem großen christlichen Wort: gesehen zu werden mit Barmherzigkeit, die eben so etwas wie Fürsorge und Nachsicht bedeutet. Einander sehen und wissen, was man sieht, und das doch mit Liebe übersehen.

Barmherzigkeit – den anderen mit dem liebenden Blick sehen. Das ist es eigentlich, was wir brauchen. In Liebe gesehen werden.

Denn der Scham kann man begegnen. Sowohl der Scham, die einer konkreten Schuld entspringt, als auch der Scham, die man nur als Grundgegebenheit seines Daseins empfindet.

Die Scham kann nämlich so schwer werden, dass sie wie ein gewaltiges Unwetter erlebt wird, das alles umzustürzen droht und mein Rettungsboot zerschlägt. Man kann das Gefühl haben, in Schuld und Scham zu versinken. Meine Welt stürzt zusammen.

Und hier hilft keine Vergebung. Hier helfen nur der liebende Blick und das erlösende Wort. Der liebende Blick und das erlösende Wort, die uns im Wasser der Taufe begegnen, das wie eine See war, in der das Wort des Herrn alles ruhig machte. Es wurde ganz still. Die tiefe Unruhe wurde ganz still.

Du bist gesehen. Du bist angesprochen. Du bist von Gott gesehen und von ihm angesprochen, der die Liebe selbst ist. Wenn einer den anderen mit einem liebenden Blick sehen konnte, dann war er es. Er, der den Sturm auf dem See stillte, kann auch den Sturm in dir stillen. Den Sturm, den die Scham entfacht und der uns aus dem Leben und aus der Gemeinschaft zu reißen droht, zu der wir ansonsten geschaffen sind. Er kann sich mit dem Blick der Liebe sehen und sein Wort sprechen: „Du bist mein lieber Sohn, heute habe ich dich gezeugt“.

In diesem Sinne ist das Evangelium dieses Tages auch ein großes Bild für unser Leben. Denn ist handelt sich nicht nur um die Erzählung, dass Jesus auf dem See in einen mächtigen Sturm gerät. Es sind auch in irgendeinem Sinne Worte darüber: Der Sturm, der in uns wüten und uns zerreißen und uns niederschlagen kann, dem kann unser Herr auch Einhalt gebieten. Das tut er, wenn er uns in der Taufe und im Abendmahl umarmt und wenn wir einander mit der Liebe begegnen, die wir selbst in der Taufe empfangen haben. Dass wir einander mit dem Blick der Liebe sehen, der alle unsere Fehler und Mängel umfasst, ja nicht nur dies, sondern auch unsere Scham über die Unvollkommenheit des Lebens bei uns. Denn mit dem Blick sind wir selbst gesehen werden, und mit dem Blick soll der Getaufte andere sehen. Einander sehen mit Nachsicht und Nähe, denn wir sind selbst ein Teil des Sturmes auf dem See. Einander sehen mit der Barmherzigkeit, die nur Gott schenken kann. Von Gott gesehen werden, wo sich der Sturm legt und nur das Verhältnis des Kindes zu seinem Vater bleibt. Amen.



Propst Thomas Rasmussen
Hjørring, Dänemark
E-Mail: trr(at)km.dk

(zurück zum Seitenanfang)