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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

Septuagesimae, 17.02.2019

Predigt zu Matthäus 20:1-16 (dänische Perikopenordnung), verfasst von Marianne Frank Larsen

In dem Roman „Die Frau im Dunkeln“ (La figlia obscura) von Elena Ferrante beschließt Leda, ihren Mann und ihre Kinder zu verlassen. Als sie einmal nur kurz zurückkehrt, so nur um ihre Bücher und ihre Aufzeichnungen einzupacken, so dass sie fortgehen und sich ihrer Karriere an der Universität widmen kann. Sie hat Geschenke mit, Kleider für die kleinen Mädchen. Sie sind so klein, dass sie selbst ihnen die Kleider anziehen muss. Ihr Mann versucht, sie zum Bleiben zu überreden. Sie streiten sich, und sie schließt sich in der Küche ein. Kurz danach hört sie ein vorsichtiges Klopfen an der Küchentür. Herein kommen Bianca und die kleine Martha in den feinen Kleidern, ernst und ängstlich. Bianca nimmt eine Apfelsine aus der Fruchtschale und ein Messer in der Schublade und reicht beides ihrer Mutter. „Mach eine Schlange für uns“, bittet sie, und dann setzen sich die Mädchen hin und sehen erwartungsvoll auf sie, denn die Mutter pflegt imstande zu sein, die Apfelsine an einem Stück zu schälen, so dass sich die Schale sich kringelt und also einer Schlange gleicht. Und Leda nimmt denn auch das Messer und schält die Apfelsine, während die Mädchen zusehen wie kleine höfliche Damen in ihren feinen Kleidern. Sie merkt die Erwartung in ihren Blicken. Die unausgesprochene Bitte. Aber noch stärker spürt sie den Glanz des Lebens weit weg, steht da, neue Farben, neuer Körper, eine neue Sprache, was erobert werden soll, und das erscheint ihr völlig unvereinbar mit der heimischen Küche und den Ansprüchen der Töchter. Leda schält die Apfelsine fertig, und dann geht sie. Und hat keinen Kontakt zu ihren Mädchen in den nächsten drei Jahren.

Und dann kann man ja sagen: Leda ist genötigt, ihrem Herzen zu folgen. Sie erstickt fast in ihrer Mutterrolle. Seit die Kinder klein waren, hat sie sie als gierig und anspruchsvoll empfunden, was alle Eltern wohl irgendwie nachempfinden können, so sind kleine Kinder auch. Aber Leda erlebt das so als wurden die kleinen Mädchen sich mit ihren Ansprüchen all ihrer Kreativität, all ihrer Stärke und Energie bemächtigen. Sie kann damit nicht leben. Nun ist da endlich ein spannender Mann, der in ihr die kreative Frau sieht, die sie gerne sein will. Der Glanz des Lebens ist in Reichweite. Leda ist genötigt auszubrechen, den Augenblick zu ergreifen, den Sprung zu wagen, denn sie lebt nur einmal, und das ist ihr Leben.

Oder ist es das? Nicht wenn wir die Schilderung der Augen der Minder ernst nehmen. Und auch nicht, wenn wir das heutige Evangelium ernst nehmen. Dann ist das Leben Ledas nicht ihr Leben. Und das Dasein ist nicht das, was wir selbst daraus machen. In dem Gleichnis, das Jesus erzählt, ist unser Dasein der Weinberg Gottes, und Leda und wir anderen arbeiten in ihm. Das ist der große Rahmen, in den er uns und unser Leben stellt, ein schöner und fruchtbarer Rahmen mit Blättern und Tau, und Trauben, die im warmen Sonnenlicht reifen, aber ja auch ein verpflichtender Rahmen. Denn so sieht sein Vater uns. Nicht als Individuen, die die freie Wahl haben und mit unserem Leben tun dürfen, was wir für richtig halten. Sondern als Arbeiter, die eine ganz bestimmte Aufgabe im dem Leben haben, das er uns gegeben hat. In seinen Augen sind wir nie arbeitslos. Wir können uns klein fühlen, schwach, untauglich oder unbrauchbar, aber in seinen Augen sind wir noch immer Menschen, die etwas für andere als wir selbst mit unserm Tun und Sagen bedeuten. Geh auch du in meinen Weinberg, sagt er, und das sagt er noch immer, solange wir leben. Den ganz gleich, wo wir uns in unserem Leben befinden, da ist auch immer ein Mitmensch, für den unser Tun etwas bedeutet. Ganz gleich wo wir uns in unserem Leben befinden, so ist es unsere Aufgabe als Arbeiter im Weinberg des Herrn, dass wir uns um das Leben des anderen Menschen kümmern, das in unserer Hand liegt. Für einander Mitarbeiter an der Freude zu sein, wie Paulus das ausdrückt.

In dieser Perspektive gesehen gehört Ledas Leben nicht ihr selbst, so wenig wie unser Leben uns gehört. So gesehen kann es nicht gleichgültig sein, ob sie sich dafür entscheidet, ihre eigenen Träume zu verfolgen, oder ob sie auf die Bitte in den Blicken der kleinen Mädchen hört, während sie die letzte Apfelsine schält. So gesehen kann es nicht gleichgültig sein, wofür wir uns entscheiden. Wenn wir Arbeiter im Weinberg Gottes sind und nicht nur wir selbst, wenn er uns als Menschen sieht, die einander Mitarbeiter für die Freude sind, dann ist es unsere Aufgabe, das zu sein, was er in uns sieht. Immer, wenn wir hier in die Kirche kommen, erinnert er uns daran, dass wir das sind und dass wir das sollen. Dass niemand in seinen Augen gleichgültig ist. Dass er uns alle brauchen wird. Geh du auch in meinen Weinberg. Dass dies und nichts anderes der Sinn unseres Lebens ist, dass wir uns einander annehmen. So gesehen entdecken wir nicht, dass wir viel mehr haben sollten, sondern dass wir allzu wenig getan haben. Denn wir haben ja nicht nur für die Freude der anderen gearbeitet. Wir haben auch die Zeit vergeudet, die Bitte in den Augen anderer ignoriert wie Lena in dem Roman, uns auf unsere eigenen Bedürfnisse konzentriert, und in diesem Sinne sind wir allzu lange arbeitslos gewesen.

Die Überraschung in dem Gleichnis ist jedoch, dass der Weinbergbesitzer allen denselben Lohn gibt, ganz gleich, wie viel oder wie wenig sie geleistet haben. In diesem besonderen Weinberg, bei diesem besonderen Arbeitsgeber erhält man offenbar nicht gerechten Lohn nach Verdienst. Hier ist der Lohn offenbar nicht von der Leistung des einzelnen abhängig, sondern einzig und allein von der Großzügigkeit des Weinbergbesitzers. Oder habe ich nicht Macht zu tun, was ich will, mit dem, was mein ist, fragt er, und die Antwort ergibt sich von selbst. Vielleicht stehen wir an der Seitenlinie und wundern uns darüber, dass der, der seine Kinder versäumt und seinen Weg ging, um der Last und Hitze des Tages zu entgehen, schließlich denselben Lohn erhält wie der, der stets seine Pflicht getan hat. Das passt nicht zu unseren allgemeinen Vorstellungen von Gerechtigkeit. Aber die Antwort ist klar. Ja, Gott kann in der Tat tun, was er will, mit dem was sein ist. Und das, was er will, ist offenbar, jedem, der seinen Ruf hört und sich in seine Wirklichkeit begibt, den gleichen Lohn zu geben, ganz gleich wie spät es ist, ganz gleich welches Versagen und welche Liebe da waren, und ganz gleich, was da für eine Vorgeschichte war.

In diesem wunderlichen Weinberg erhalten alle denselben Denar. Dieselbe Vergebung, könnten wir sagen, dieselbe Liebe, dieselbe Befreiung, dieselbe gute Hoffnung, dasselbe ewige Leben. Für all das ist Jesus ja gestorben, um es uns weiterzugeben. Bis dahin zählen wir heute an Septuagesima die Tage. Septuagesima bedeutet siebzig, und der Sonntag heißt so, weil es nun etwa siebzig Tage sind bis Ostern. Man könnte es deshalb ganz kurz auch so sagen: In diesem wunderlichen Weinberg bekommen alle denselben Sohn Gottes. Die Kirche ist ein Bild für diesen Weinberg. Wenn wir Gottesdienst feiern, vergegenwärtigen wir, wie Gott uns ruft und uns in Arbeit bringt für die Freude der anderen – und wie er uns denselben Lohn zuteilwerden lässt, ganz gleich, womit wir kommen. Seinen eigenen Sohn, eingebunden in denselben drei Handvoll Wasser. Demselben Brot. Demselben Wein. Denselben milden Worten. Bitteschön, das ist für dich. Damit im Herzen sollen wir hingehen und uns selbst und einander als Mitarbeiter der Freude sehen. Und das Leben nicht als Kampfplatz oder eine Wüste sehen, als das, was wir daraus machen. Sondern als Weinberg Gottes, mit Tau und Blättern und Trauben, die in seinem hellen Sonnenlicht zu wunderbarem Wein reifen. Amen.



Pastorin Marianne Frank Larsen
Aarhus, Dänemark
E-Mail: mfl(at)km.dk

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