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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

Estomihi, 03.03.2019

Das gute Teil
Predigt zu Lukas 10:38-42, verfasst von Verena Salvisberg Lantsch

Liebe Gemeinde

Wenn ich heute meine Predigt zum Tag der Kranken halte, bin ich in prominenter Gesellschaft. Auch der Schweizerische Bundespräsident Ueli Maurer wird am Abend eine Rede aus diesem Anlass halten, 19.25 Uhr auf SRF 1 (Schweizer Radio und Fernsehen, Ann. d. Red.). Schauen Sie und finden Sie den Unterschied! Und wie wäre es wohl, wenn man einen Kranken oder eine Kranke zu Wort kommen lassen würde?

Wahrscheinlich ist es Absicht, dass dieser Gottesdienst hier im Alterszentrum Spycher stattfindet. Vielleicht haben die TerminplanerInnen gedacht, wir seien dann etwas näher am Thema.

Tatsächlich ist es ein schöner Brauch, dass an diesem Tag Menschen in Spitälern und Heimen besucht werden und Geschenke bekommen.

Für mich als Pfarrerin gibt es im Lauf eines Jahres viele Tage der Kranken. Viele Menschen sind froh, wenn sie besucht werden, wenn sie im Krankenhaus oder im Pflegeheim sind. Viele Menschen erzählen mir bereitwillig von ihrem Leben und von ihren Krankheiten.

Allerdings: seit meine Tochter als Kleinkind schwer erkrankt ist und viele Wochen im Spital verbringen musste, habe ich persönlich eine andere Sicht gewonnen für alle Anteilnahme und Hilfe, Unterhaltung und Ablenkung, die einem Kranken bereitwillig angeboten oder manchmal auch aufgenötigt werden. Eine Art heilsame Horizonterweiterung.

Meine Tochter war zum Beispiel einmal nicht gut drauf, als die Kinderpsychologin vorbeikam. Diese wollte mit ihr und uns über das Sterben reden, dabei hatte sie nur eine schlechte Laune, weil es zum Mittagessen ein Menü gegeben hatte, das ihr nicht geschmeckt hatte. Das liess mich vorsichtig werden: Auch bei todkranken Menschen ist nicht immer die Angst vor dem Sterben das grösste aktuelle Problem, manchmal ist es auch der Rosenkohl.

Die Bedürfnisse von kranken Menschen sind vielfältig. Die medizinischen Behandlungen können helfen, aber da gibt es auch Grenzen. Krankheit geht mit Angst und Sorgen einher.

Viele Krankheiten sind schnell zu behandeln und zu beheben. Das Leben geht weiter, die Erkrankung war nur eine Episode. Aber es gibt aber auch Krankheiten, die einen Menschen sein ganzes Leben begleiten, und solche, die so schwerwiegend sind, dass sie das ganze Leben erschüttern und bedrohen.

Dann bedeutet Kranksein unsicher sein, verletzlich und oft auch einsam. Neben der medizinischen Betreuung braucht ein kranker Mensch Trost und mitfühlende Begleitung. Vielleicht auch mal jemanden, der den Mut aufbringt, anzusprechen, dass es keine Lösung mehr gibt für ein Problem und der hilft, Schweres auszuhalten. Eben gerade da, wo es nichts mehr zu tun gibt. Wo keine Aktivität mehr hilft und auch nicht gefragt ist.

Auf der Homepage des Trägervereins des Tages der Kranken heisst es hingegen: «Der «Tag der Kranken» hat seinen festen Platz im Jahresgeschehen der Schweiz. Tausende beteiligen sich jeweils mit Konzerten, mit Besuchs- und Geschenkaktionen in Spitälern und Heimen sowie mit Predigten und Solidaritätsveranstaltungen. Am 3. März 2019 findet die 80. Ausgabe statt. Jede Geste zählt! Haben Sie Zeit und Lust sich mit einer Aktion zu beteiligen? Wir freuen uns über Ihr Engagement und Ihre Meldung. Dann können wir in der Rubrik «Aktivitäten»darüber berichten».[1]

«Jede Geste zählt», «Aktivitäten sammeln»… worum soll es denn nun eigentlich gehen? Um die Kranken oder um die guten Taten, die für sie getan werden?

Leiden nicht viele Kranke, viele ältere Menschen, viele Bewohnerinnen und Bewohner von Altersheimen eben gerade daran, dass sie nicht mehr aktiv sein können, dass sie keine schönen Gesten mehr aufzählen können? Betrübt sie nicht oft das Gefühl, deshalb zum alten Eisen zu gehören, unnütz zu sein und eine Belastung für die Gesellschaft?

Hören Sie den Bericht einer Begebenheit aus dem Lukasevangelium, die in dieser Frage von emsigen Taten oder untätig sein oder sein müssen zu uns spricht:

 

Lesung Lk 10, 38-42 (Zürcher Übersetzung)

 

Vielleicht sind Ihnen diese Worte vertraut. Eine Geschichte von zwei Frauen, zwei Schwestern. Eine Geschichte, die im Laufe der Jahrhunderte vielfach ausgelegt wurde. Oft von Männern. Deutungen, die auf die Frage hinauslaufen: Wie soll eine Frau sein? Soll sie die Arbeit machen oder soll sie den Mann anhimmeln, oder am besten beides?

Damit, liebe Gemeinde, kann ich mich nicht zufrieden geben.

Probieren wir doch einfach mal, der Geschichte nachzugehen, ohne sofort eine Handlungsanweisung daraus abzuleiten.

Viel wissen wir ja nicht über diese beiden Frauen, bei denen Jesus auf dem Weg nach Jerusalem zu Gast ist. Schwestern sind sie, mehr wissen wir nicht. Und doch regt die kurze Geschichte unsere Phantasie an.

Ich habe die Szene wie einen Film vor Augen:

Kaum ist Jesus angekommen, macht sich Marta an die Arbeit. Sie geht in die Küche. Liebe geht ja durch den Magen.

Jesus, so ahne ich, hat einen weiten Weg hinter sich. Sicher ist er müde und braucht eine Stärkung. Er ist ja auch nicht allein, sondern eine Reihe von Jüngerinnen und Jüngern sind mit ihm unterwegs. So viele Leute sind zu verköstigen. Wo soll Marta nur anfangen, dass sie das alles schafft? Gut, dass sie nicht alleine ist. Da ist ja noch die Schwester. Zu zweit können sie es schaffen.

Als es gerade so richtig turbulent zu und hergeht und Marta sich nach Maria umsieht, da sitzt diese doch seelenruhig bei den Gästen herum! Und was tut sie? Nichts! Gar nichts!

Also ich verstehe, dass sich Marta ärgert. Und sich an Jesus wendet, er solle sie daran erinnern, dass sie sich auch nützlich macht und nicht einfach herumsitzt und Marta die ganze Arbeit machen lässt.

Und auch die Antwort Jesu ärgert mich: Er sagt zu Marta, das sei schon in Ordnung, ja nötig, dass Maria nichts tue als zuhören.

Ja, liebe Gemeinde, da knistert es zwischen den Schwestern und wenn sie auch eine haben, dann kennen Sie das vermutlich. Und ja, es geht darum, dass die eine sich im Stich gelassen fühlt mit der vielen Arbeit und dass die andere sich vergisst oder die Prioritäten anders setzt.

Aber im Gegensatz zu vielen anderen Auslegern kann ich nicht erkennen, dass Jesus die eine Schwester der anderen vorziehen würde, auch nicht, dass es wichtiger sei, ihm zu Füssen zu sitzen als sich um den Haushalt zu kümmern.

Ich sehe auch nicht den Appell, im Leben die Balance zu halten zwischenMeditation und Engagement, zwischen Gottesschau und tätiger Menschenliebe, zwischen beschaulichem und tätigem Leben.

Es sind Versuche, den anstössigen Text zu glätten und aufzulösen in eine Lebensregel.

Was ich lese ist, dass Jesus sagt: Maria hat das gute Teil erwählt, das soll ihr nicht genommen werden.

Die Hände in den Schoss legen. Sitzen. Zuhören.

Ist das nicht das, was Sie, liebe Heimbewohnerinnen und Heimbewohner, sehr gut können?

Die Hände in den Schoss legen. Sitzen. Zuhören. Das gute Teil.

Das zu erkennen, das ist möglich, wenn Sie sich nicht als unnütz, als defizitär, als eine Last sehen.

Und Sie, liebe tüchtige Helferin mit den Blumen und den Geschenken, mit der Unterhaltung und dem Wunsch, Gutes zu tun, hören Sie die Worte Jesu? Das gute Teil. Das soll ihnen nicht genommen werden?

Zu Füssen Jesu ist diese Botschaft zu vernehmen. Welche Würde das Empfangen hat. Die Hände im Schoss. Sitzen und Zuhören.

Wenn wir uns auch immer wieder da einfinden, zu Füssen Jesu, dann können wir anders auf unsere vermeintliche Nutzlosigkeit und unsere angebliche Tüchtigkeit schauen.

Was dann passiert, kann möglicherweise nicht auf der Homepage als Geste oder originelle Aktivität im Rahmen des Tages der Kranken aufgelistet werden, aber es ist das gute Teil und das soll niemandem genommen werden.

Amen

 

 

[1]www.tagderkranken.ch

 

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Verena Salvisberg Lantsch, geb. 1965, Pfarrerin seit 1. Dezember 2018 in Roggwil BE, vorher in Laufenburg und Frick.



Pfarrerin Verena Salvisberg Lantsch
Roggwil, Bern, Schweiz
E-Mail: verenasalvisberg@bluewin.ch

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