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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

Estomihi, 03.03.2019

Schwestern. Auch eine Liedpredigt
Predigt zu Lukas 10:38-42, verfasst von Wolfgang Vögele

Friedensgruß

Der Predigttext für den Sonntag Estomihi steht im Lukasevangelium (Lk 10,38-42):

„Als [Jesus und die Jünger] aber weiterzogen, kam [Jesus] in ein Dorf. Da war eine Frau mit Namen Marta, die nahm ihn auf. Und sie hatte eine Schwester, die hieß Maria; die setzte sich dem Herrn zu Füßen und hörte seiner Rede zu. Marta aber machte sich viel zu schaffen, ihnen zu dienen. Und sie trat hinzu und sprach: Herr, fragst du nicht danach, dass mich meine Schwester lässt allein dienen? Sage ihr doch, dass sie mir helfen soll! Der Herr aber antwortete und sprach zu ihr: Marta, Marta, du hast viel Sorge und Mühe. Eins aber ist not. Maria hat das gute Teil erwählt; das soll nicht von ihr genommen werden.“

 

Liebe Gemeinde,

Schwestern wie Maria und Marta fordern den Vergleich untereinander heraus: die Klügere und die schöner Angezogene, die Ältere und die größer Gewachsene, die Attraktivere und – sehr wichtig – die Begehrtere, die bessere Hausfrau und die Erfolgreichere im Beruf. Es herrscht eine verborgene Konkurrenz, die Dauerspannung erzeugt. Schwestern vergleichen sich selbst, mindestens heimlich, und sie vertrauen sich dann ihrer besten Freundin an, um ihr Leid zu klagen über innerfamiliäre Eifersucht, Konkurrenzneid und kleine Biestigkeiten. Wer als Onkel oder Außenstehende zwei Schwestern erlebt, der vergleicht ebenfalls. Von außen richtet er den Blick auf zwei Frauen, um Unterschiede und Gemeinsamkeiten zu staunen - bei zwei Menschen, die von der gleichen Mutter geboren wurden. Die beobachteten Muster und Eigenschaften fördern Geschichten, die sich erzählen oder als Lied singen lassen.

Johannes Brahms, den Komponisten, brachte das dazu, das Gedicht „Die Schwestern“ zu vertonen, für zwei Singstimmen plus Begleitung am Klavier. Das Gedicht hat Eduard Mörike geschrieben, und es erzählt von zwei Schwestern, bei Brahms Sopran und Alt. Beide ziehen dieselben Kleider an, sie spinnen gemeinsam Wolle, ja sie schlafen sogar im gleichen Bett. Beide wiegen sich in herzlicher Freundschaft und Einigkeit, Hand in Hand gehen sie spazieren. Erst am Ende des Liedes ziehen die Wolken eines Liebesproblems auf: Beide verlieben sich in den gleichen Mann. „O Schwestern zwei, ihr schönen,/ Wie hat sich das Blättchen gewandt!/ Ihr liebet einerlei Liebchen;/ Jetzt hat das Liedel ein End!“ Das „Liedel“ bricht ab, bevor die Schwestern Liebesschmerz und Eifersucht samt finalem Entscheidungsdrama ausfechten können. Die Zuhörer denken sich ihr Teil, denn sie kennen den nervigen Rest, den der Dichter Mörike ironisch verschweigt.

Ein Jahrhundert später, in den sechziger Jahren veröffentlichte die englische Popgruppe „The Kinks“ eine neue Langspielplatte (für Konfirmanden: frühe, heute nicht mehr gebräuchliche Form eines Tonträgers). Als Nummer 3 der ersten Seite lief ein Song mit dem Titel „Two Sisters“. Die beiden Schwestern hießen Sylvilla und Percilla.  Im Gegensatz zu den namenlosen Mörike-Schwestern ist Percilla schon verheiratet und beneidet Sylvilla um die Freiheit, abends auszugehen und sich mit anderen Jungs zu treffen. Später ist Percilla auf ihre Schwester eifersüchtig. Sie beneidet sie um ihre Freiheit, um ihren Reichtum, ihre schönen Kleider. Aber dann wirft sie einen Blick auf ihre Kinder. Und mit dem Blick auf ihre Kinder versiegt auch ihre Eifersucht. „And then decided she was better off / Than the wayward lass that her sister had been / No longer jealous of her sister.” (Und dann entschied sie, daß sie besser dran war / als das eigensinnige Mädchen, das ihre Schwester gewesen war. / Sie war auf ihre Schwester nicht länger eifersüchtig.“)

Unausgesprochene Konkurrenz, Rivalität, ein wenig Liebe und Eifersucht, all das steht hinter der Geschichte von Maria und Marta, auch wenn beide nicht singen wie die Brahms-Schwestern und nicht verheiratet sind wie die beiden Schwestern im Song der Kinks. Maria und Marta pflegen ebenfalls ein inniges Konkurrenzverhältnis – Familienbande eben. Auf das erste Hören ist an dieser Geschichte überhaupt nichts Evangelisches. Man fragt sich, wieso Lukas diese Geschichte überhaupt erzählt. Kennen wir doch alles schon.

Männer haben, um diese fehlende evangelische Dimension zu kompensieren, in diese Geschichte eine Art Typologie des Frauencharakters hineingelegt. Danach gibt es die Maria- und die Marta-Frauen, die Zuhörerinnen – sprich: Nonnen, Diakonissen und andere – sowie die Dienerinnen – sprich: Gemeindehelferinnen, Pfarrfrauen, Hausfrauen und andere. In dieser verstaubten männlichen Sicht erscheinen sie beide als nachgeordnet. Dem Mann Jesus und den männlichen Jüngern nachgeordnet. Plötzlich bauen sich in der Deutung der Geschichte hohe Mauern aus Klischees auf. Und wer sich auf dieses alltagsethische Gleis einläßt, der kommt dann doch in Schwierigkeiten mit der Gleichheit von Mann und Frau vor Gott und voreinander. So also läßt sich die vermeintlich harmlose Geschichte nicht in feministische Lebensberatung umsetzen, bevor nicht die männlichen Klischees niedergerissen sind.

Der genaue Blick auf die Details der kurzen Geschichte offenbart dann erstens doch eine theologische Dimension und zweitens gewisse Kanten und Schärfen, über die sich noch heute trefflich streiten läßt. Maria und Marta gehören zu den Anhängerinnen Jesu. Als dieser im namenlosen Dorf vorbeikommt, gewähren beide ihm Gastfreundschaft. Im damaligen Israel war das eigentlich unvorstellbar. Der Evangelist Lukas kam aus einem anderen gebildeten, hellenistisch-antiken Umfeld, wo es durchaus selbstverständlich war, daß (unverheiratete) Frauen zuhause bei sich auch Männer empfingen. In der Apostelgeschichte, dem zweiten Band seiner Entstehung des Christentums, wird Lukas von der Purpurhändlerin Lydia erzählen, der ersten europäischen Christin, die ohne Zögern den Apostel Paulus auf der Durchreise aufnahm, ihn beherbergte, seiner evangelischen Botschaft zuhörte und sich samt ihrem ganzen Haus wenig später taufen ließ (Apg 16).

Zurück zu den beiden Schwestern: Maria kauert zu Füßen Jesu, um seinen Worten zuzuhören. Diese Sitzposition erinnert heute an eine jüngere, unschuldige Frau, die einen Mann bewundert und anhimmelt, aber damals war gerade diese Sitzhaltung akademisch und theologisch besetzt. Wer einem Rabbi „zu Füßen saß“, der oder die verstand sich als sein Schüler oder seine Schülerin. Und das war ungewöhnlich, denn im Synagogengottesdienst saßen Frauen und Männer strikt getrennt in unterschiedlichen Raumhälften. Maria also macht sich – schon durch ihre Sitzhaltung – zur Jüngerin und Schülerin Jesu.

Martha dagegen kümmert sich um den Haushalt. Lukas verwendet im griechischen Text dafür das Verb „diakonein“ = dienen. Und mit diesem Dienen ist nicht das normale, routinierte Alltagsgeschäft des Haushaltsführens (die Ökonomie von oikos = Haus) gemeint, sondern das Dienen als frommes Handeln, das aus dem Glauben erwächst. Noch heute kommt diese dienende Diakonie darin zum Ausdruck, daß Pflegeheime, Krankenhäuser, Obdachlosen- und Jugendhilfeeinrichtungen diakonisch genannt werden, wenn sie in christlicher Trägerschaft aus evangelischem Geist geführt werden.

Martha dient, Maria lernt, und Jesus lehrt. Die Szene wirkt sehr selbstverständlich, und Lukas erläutert die häuslichen Verhältnisse gar nicht weiter. Diese selbstverständliche Vertrautheit deutet darauf hin, daß Jesus die beiden Schwestern schon kannte und nicht zufällig in dem Dorf vorbeikam.

Frauen konnten also sowohl als Schülerin (Maria) wie auch als Helferin (Marta) in der Jesusbewegung mitarbeiten, ohne daß sich darüber irgendjemand aufgeregt hätte. Schon gar nicht die Jünger. Ich bin überzeugt, es war auch nicht so, daß Frauen als Anhängerinnen Jesu auf eine dieser beiden Rollen (Schülerin oder Helferin) festgelegt waren.

Die Szene der Predigtgeschichte ist sehr häufig auf Bildern dargestellt worden. Eines der berühmtesten Bilder stammt vom Maler Jan Vermeer aus dem niederländischen Delft und zeigt die drei Personen in einer Kammer: Jesus sitzt in einem hölzernen Lehnstuhl, vor ihm hockt Maria auf einem Schemel, und hinter dem runden Tisch, auf den Jesus sich aufstützt, bringt Marta gerade ein Tablett mit einem Leib Brot herein. Mich fasziniert an diesem Bild, daß Vermeer die drei Personen so eng beieinander dargestellt hat. Sie begegnen sich alle drei beinahe auf Augenhöhe. Frühere Interpreten haben hier stets eine drastische Hierarchie eingezeichnet. Oben, unten und nebensächlich war genau markiert: Der Lehrer übertrumpft die arme, kleine Schülerin, welche wiederum die arme, dienende Hausfrau übertrumpft. Das überzeugt an Vermeers Bild, daß er hier die Menschlichkeit Jesu betont; er begegnet den beiden Frauen auf Augenhöhe, und vor allem macht er zwischen den Frauen keine Unterschiede.

Martas Frage an den Lehrer Jesus zeigt nun, daß hier unausgesprochen doch geschwisterliche  Konkurrenzgefühle herrschen, die sich psychologisch nicht so leicht aus dem Unterbewußtsein ausklammern lassen. Und erst in seiner Antwort kommt Jesus auf die entscheidende alltagsethische Pointe: „Marta, Marta, du hast viel Sorge und Mühe. Eins aber ist not.“

Im ersten Satz Jesu über die Sorgen erkenne ich keine weibliche, aber eine universale menschliche Haltung wieder. Oft übertreffen Gedanken, Grübeleien, Phantasien, die sich ein Mensch um sein Leben macht, das, was in Wirklichkeit geschieht. Ergrübelte Phantasien überfallen ängstliche Menschen am Morgen kurz vor dem Aufwachen oder bei einem längeren Spaziergang. Meistens stellen sie sich viel schlimmer dar als die Wirklichkeit, die in der Zukunft eintritt. Und daraus kann man nur den Schluß ziehen: Wenn ich doch nur aufhören könnte zu grübeln! Ich könnte mich von den Spiegelfechtereien meiner Ängste und Befürchtungen auf das konzentrieren, was in Wirklichkeit geschieht. Und viele Ausleger haben das dann so gedeutet, daß Jesus die pragmatische Hausfrauenvernunft Martas höher bewertet als Marias Wunsch, etwas über die theologischen Weisheiten Jesu zu erfahren. Praxis, Handeln und Verwirklichen, triumphieren über Wissen und Glauben. Die Macherin steht über der Denkerin. Aber das ist in dieser Geschichte nur die halbe Wahrheit.

Denn das eine, was not ist, besteht nicht in der pragmatischen Orientierung an der Wirklichkeit. Darauf kommt auch die Vernunft, die sich an Ursache und Wirkung orientiert. So kann man klug, weise und alt werden. Das, was not ist, geht weit über die Vernunft und die Wirklichkeit hinaus. Notwendig ist der Glaube an den erlösenden Gott des lehrenden Jesus von Nazareth. Eins ist not! Diese Formel hat ein früh verstorbener Theologe aus dem 17.Jahrhundert, Johann Heinrich Schröder (1667-1699) aufgenommen. Er entwickelte aus dieser kurzen Formel einen langen Choral mit zehn Strophen: „‘Eins ist Not!‘ Ach Herr, dies eine/ lehre mich erkennen doch;/ alles andre, wie's auch scheine, /ist ja nur ein schweres Joch, /darunter das Herze sich naget und plaget/ und dennoch kein wahres Vergnügen erjaget./ Erlang ich dies eine, das alles ersetzt,/ so werd ich mit einem in allem ergötzt.“ Und in der dritten Strophe seines Chorals kommt Schröder dann ganz selbstverständlich auf die Maria aus der Lukas-Geschichte zu sprechen. Wir werden gleich nach der Predigt einige Strophen aus dem Choral singen. Der Liederdichter unterschlägt die Figur der Marta, und dennoch legt er die Spur, aus dieser ganz alltäglichen Dreiergeschichte am Ende noch etwas herauszuziehen, das über die Alltagswirklichkeit hinausweist. Das Leben geht nicht auf in Gastfreundschaft, Vernunft und Alltagsweisheit. Es muß noch etwas hinzukommen, und gerade Maria, die Jesus zu Füßen sitzt, will darüber etwas erfahren. Jesus weiß darüber Bescheid. Es ist die Erfahrung, daß Gott sich gegen alle Vernunft und gegen allen Anschein dieser Welt zugewandt hat, zuwendet und noch weiter zuwenden wird. Diese Erkenntnis des Glaubens nimmt in Jesus von Nazareth menschliche Gestalt an. Deswegen kümmern sich Maria und Marta, beide auf ihre ganz persönliche Weise, um ihn. Mit Vernunft kann man alt und weise werden. Mit dem Glauben erreicht man das ewige Leben.

Und der Friede Gottes, welcher höher ist als alles, was wir uns denken und vorstellen können, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.

Nachbemerkungen:

Das von Brahms vertonte Gedicht von Eduard Mörike, „Die Schwestern“, findet sich unter folgendem Link: http://www.zeno.org/Literatur/M/M%C3%B6rike,+Eduard/Gedichte/Gedichte+(Ausgabe+1867)/Die+Schwestern. Ein Video des Liedes mit Barbara Bonney und Angelika Kirchschlager kann man hier (https://www.youtube.com/watch?v=H5MyNJ3mlzg) anschauen.

Der englische Text des Liedes „Two Sisters“ von den „Kinks“ findet sich unter https://www.azlyrics.com/lyrics/kinks/twosisters.htmlsowie hier das Video (https://www.youtube.com/watch?v=zRzA12_zd8M). Wer ein aktuelleres Beispiel als die Kinks einspielen möchte, der kann auch zu dem Lied greifen, das bei der Vorentscheidung für die deutschen Teilnehmer beim Grand Prix de la Chanson 2019 in Israel gewonnen hat, das Lied „Sister“ von der Gruppe S!sters. Der Text findet sich hier: https://www.eurovision.de/news/Songtext-Sisters-Sister,lyrics422.html.

Exegetische Informationen über Lk 10,38-42 lassen sich nachlesen bei Judith Hartenstein, Art. Maria und Marta, www.wibilex.com, https://www.bibelwissenschaft.de/stichwort/51980/ , 2010

Informationen über die Entstehungsgeschichte des Bildes „Christus bei Maria und Martha“ von Jan Vermeer sowie das Bild zum Download bietet der entsprechende wikipedia-Artikel: https://de.wikipedia.org/wiki/Christus_bei_Maria_und_Martha

Es bietet sich an, als Lied nach der Predigt den Choral „Eins ist not, ach Herr dies eine“ (EG 386) zu singen.

 

 

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Wolfgang Vögele, geboren 1962. Privatdozent für Systematische Theologie und Ethik an der Universität Heidelberg. Er bloggt über Theologie, Gemeinde und Predigt unter www.wolfgangvoegele.wordpress.com.

 



PD Dr. Wolfgang Vögele
Karlsruhe, Baden-Württemberg, Deutschland
E-Mail: wolfgangvoegele1@googlemail.com

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