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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

Gründonnerstag, 20.03.2008

Predigt zu Hebräer 2:10-18, verfasst von Konrad Stock

 „Denn so ist Gott, um deswillen alle Dinge sind und durch den sie alle sind, daß er den, der da viel Kinder zur Herrlichkeit geführt hat, als den Herzog ihrer Seligkeit, durch Leiden vollendete. Denn weil sie alle von einem kommen, beide, der da heiligt und die da geheiligt werden, darum schämt er sich auch nicht, sie Brüder zu heißen, und spricht: ‘Ich will verkündigen deinen Namen meinen Brüdern und mitten in der Gemeinde dir lobsingen' (Ps 22,23). Und abermals: ‘Ich will mein Vertrauen auf ihn setzen' (Jes 8,17); und abermals:'Siehe da, ich und die Kinder, welche mir Gott gegeben hat' (Jes 8,18). Weil nun die Kinder Fleisch und Blut haben, ist auch er der gleichen Art teilhaftig geworden, damit er durch seinen Tod die Macht nähme dem, der des Todes Gewalt hatte, das ist dem teufel, und erlöste die, so durch Furcht vor dem Tode im ganzen Leben Knechte sein mußten. Denn er nimmt sich ja nicht der Engel an, sondern der Kinder Abrahams nimmt er sich an. Daher mußte er in allen Dingen seinen Brüdern gleich werden, auf daß er barmherzig würde und ein treuer Hoherpriester vor Gott, zu sühnen die Sünden des Volks. Denn worin er selber gelitten hat und versucht ist, kann er denen helfen, die versucht werden." (Hebr 2, 10-18)

 

 I

Wahrscheinlich waren es nur Männer: zornige junge Männer. Sie mußten sich heimlich treffen, im Schutze der Dunkelheit, zu einem bescheidenen, gar kärglichen Abendessen nach aufregenden und bewegenden Tagen. Es würde Jesu Letztes Mahl mit seinen Jüngern sein. Wenn diese seine Jünger, die zornigen jungen Männer, es nicht wahrhaben wollten - ihm stand es in aller Deutlichkeit vor Augen. Markus jedenfalls hat uns dies in seinem Evangelium überliefert:

„Wahrlich, ich sage euch, daß ich hinfort nicht trinken werde vom Gewächs des Weinstocks bis auf den Tag, da ich's neu trinke in dem Reich Gottes." (Mk 14,25).

Jesu Letztes Mahl mit seinen Jüngern: während ihm seine Passion und sein Todesweg vor Augen steht, schließen sie vor dem kommenden Leid die Augen und sind schon in Gedanken auf der Flucht. Erst als der Gekreuzigte ihnen als der Auferstandene erscheint, gehen ihnen die Augen auf und sie beginnen, den Sinn und die Bedeutung dieses Letzten Mahles zu verstehen. Erst dann, nach Ostern, gibt es für sie den Gründonnerstag. Erst dann, nach Ostern, feiern sie das Abendmahl, das Mahl des Herrn, die Eucharistie, die göttliche Liturgie. Erst dann, nach Ostern, entwickeln sie im Namen Jesu Christi das Ritual, das wir bis auf den heutigen Tag begehen und das wir unseren Kindern und Kindeskindern anvertrauen wollen: das Ritual einer Mahlgemeinschaft zwischen unverwechselbar eigenen und selbstbestimmten Wesen, die doch nur miteinander zu ihrem Ziel und zu ihrer Bestimmung gelangen können. 

Die Kirche, das Volk Gottes, der Leib Christi: zusammengehalten durch die regelmäßig wiederholte Mahlgemeinschaft, in der wir - ob wir nun wenige oder viele sind - unmittelbar dem Gekreuzigten als dem Auferstandenen begegnen. In, mit und unter Brot und Wein ist hier und überall auf Erden der Gekreuzigte als der Auferstandene mitten unter uns. Und indem er hier und überall auf Erden mitten unter uns ist, schließt er uns als seine Schwestern und als seine Brüder zusammen und stiftet eine Gemeinschaft zwischen unverwechselbar eigenen und selbstbewußten Wesen, zwischen Fernen und Fremden, wie sie sonst unerschwinglich ist.

 

II

Ein uns mit Namen unbekannter Verfasser schreibt gegen Ende des 1. Jahrhunderts einer uns sonst unbekannten Gemeinde - vielleicht in Rom, meinen die Bibelwissenschaftler - einen Brief, den Brief an die Hebräer: einen gelehrten, einen hochgebildeten Brief. Einen eindringlichen geistlichen Text vom Feinsten, der es wert ist, gründlich gelesen und gründlich betrachtet zu werden. Übrigens stammt das Leitmotiv des Kölner Kirchentags im letzten Jahr: Lebendig und kräftig und schärfer, aus diesem Brief. Den Verfasser treibt eine große Sorge um: die Sorge, daß die Mitglieder dieser Gemeinschaft des Glaubens und der Liebe und der Hoffnung ihre Orientierung verlieren und einfach so vor sich hin leben: ohne Profil, ohne religiöse Identität, ohne Begeisterung und ohne Feuer. Angepaßt an die wechselnden Moden und an die herrschenden Trends, so daß sie nur schwer von andern weltanschaulichen Gemeinschaften zu unterscheiden sind. Vielleicht surfen einige zwischen den verschiedenen weltanschaulichen Gemeinschaften hin und her: zwischen Christentum und Buddhismus, zwischen verlorenem Kinderglauben und Esoterik, zwischen Tanz im Mondschein und einsamer Versenkung. Immer auf der Suche, nie am Ziel. Immer auf dem Sprung, nie in der Gegenwart.

Dem Verfasser des Briefs an die Hebräer kommt dieses leise Verschwinden einer klaren Orientierung merkwürdig bekannt vor. Er erinnert sich der Bibel Israels, des Alten Testaments, und ihrer Erzählung von der Wanderung des Volkes Israel durch die Wüste. Nicht nur durch die Wüste zwischen Ägypten und dem Land der Verheißung, sondern durch die Wüste seiner Lebensgeschichte. Das Vertrauen in das göttliche Wort und in das Ziel, von dem das göttliche Wort redet, verblaßt und verschwindet. Die Hoffnung angesichts der Erfahrungen des Sterbens und des Todes zerbröckelt und zerbricht. Das Volk verliert die Sprache, in der es der lebendigen Stimme, der Sprache Gottes, in selbstbewußter und selbstbestimmter Weise antworten kann.

So nimmt der Verfasser des Briefes an die Hebräer all seine Intelligenz und all seine Beredsamkeit zusammen und legt seinen Leserinnen und Lesern die Orientierung ans Herz, die sie dem Christus Jesus verdanken. Er schärft ihnen das Ziel ein, dem ihre Lebensgeschichten in dieser Zeit entgegen gehen. Und er bringt ihnen die Weise nahe, in der der Herzog ihrer Seligkeit an diesem Ziel schon angekommen ist und sie erwartet. Wie immer es mit unserer Lebensgeschichte bestellt sein mag: wir werden erwartet. Und im Abendmahl, das wir an jedem Gründonnerstag eingedenk des Letzten Mahles feiern, begegnet uns der Christus Jesus als der Sohn des Vaters und als der göttliche Bruder, der uns erwartet.

 

III

Für das Ziel, dem alle unsere Lebensgeschichten in dieser Zeit entgegen gehen, hat der Verfasser des Briefs an die Hebräer ein schönes, ein verblüffendes Wort: Ruhe. Er schreibt: „So ist also noch eine Ruhe vorhanden dem Volke Gottes. Denn wer zu Gottes Ruhe gekommen ist, der ruht auch von seinen Werken gleichwie Gott von den seinen" (4,9-10).

Das Ziel, dem alle unsere Lebensgeschichten in dieser Zeit entgegen gehen, ist also alles andere als abstrakt oder gar nichtig. Es steht in einem festen und unauflöslichen Zusammenhang mit dem gelebten Leben in dieser Zeit. Unser gelebtes Leben, unser noch zu lebendes Leben: jedenfalls ist es ein Leben in Werken, ein vielleicht ganz kleines und ganz bescheidenes oder aber ein weithin ausstrahlendes und wirkungsvolles oder vielleicht sogar ein scheiterndes und vergeblich erscheinendes Lebenswerk. Wir bilden uns aus für einen Beruf und suchen unser Geld zu verdienen; wir gründen eine Familie und sorgen füreinander und für unsere Kinder; wir nehmen nachlässig oder engagiert an der politischen Willensbildung teil; wir setzen uns für die Menschenrechte der Menschen in Darfur oder für den Schutz der letzten Tiger ein; wir hören Pop-Musik oder doch lieber Anton Bruckner. Und wir suchen mit alledem schlecht und recht unserer Verantwortung vor Gott und füreinander gerecht zu werden. Am Ende eines Tages und erst recht am Ende unseres Lebens blicken wir - so gut es eben geht - auf eine Lebensgeschichte zurück, die keineswegs nur, aber doch auch unser Werk ist: unser Lebenswerk. Und jeder aufrichtige Rückblick sagt uns: es ist auf jeden Fall Fragment, belastet mit schweren Fehlern und mit schweren Versäumnissen. Ist dieser aufrichtige Rückblick mit seinem Für und Wider, mit seinem Ja und Nein etwa schon das Ziel? Können wir guten Gewissens sagen: es war gut? Ist dieser Rückblick etwa schon die Ruhe, die dem Volke Gottes vorhanden ist?

Nein, dieser Rückblick am Ende eines Tages oder am Ende eines Lebens ist noch nicht das Ziel. Das Ziel heißt vielmehr: zur Ruhe Gottes kommen. Es steht uns noch bevor und steht noch aus. Es heißt: dort ankommen und dort bleiben, wo Gott am Ziele ist. Der ganze Brief an die Hebräer richtet unseren Blick nach vorne und nach oben in eine Zukunft über jede irdische Zukunft hinaus, in die zukünftige Ewigkeit, in der unsere problematischen Lebensgeschichten und Lebenswerke vollendet sein werden. Und er erhebt unsere Gedanken und unsere Gewissen in eine unvorstellbar schöne Situation, in der wir ohne Leid und ohne Anfechtung die Gemeinschaft mit Gott und die Gemeinschaft miteinander erleben, feiern und genießen. Zu dieser Situation ist Gottes Volk in dieser Zeit noch unterwegs, unterwegs durch den Tod hindurch.

 

IV

Diese Orientierung für unsere Lebenswege und Lebensgeschichten hat es nicht schon immer und überall gegeben. In den traditionalen Religionen ist sie ganz unbekannt. In den Versuchen, eine vernünftige Religion zu ersinnen, wird sie schamhaft umgangen und verschwiegen. In der modernen Kritik der Religion wird sie als Lüge und als Illusion durchschaut. Und in der gnadenlosen Öffentlichkeit von heute ist das Lebenswerk eines Menschen immer nur sein Lebenswerk, das man entweder feiert oder aber richtet. Hier ist überall der Tod als eine Macht nahe, die über uns Gewalt hat, weil sie uns unwiderstehlich dazu führt, über uns selbst zu urteilen und zu richten. Die Orientierung unserer Lebenswege und Lebensgeschichten, von der der Brief an die Hebräer handelt, muß uns also erst ganz neu erschlossen werden und plausibel werden. Und eben das ist ja der Fall. Sie ist uns nämlich schon erschlossen. Sie ist uns schon erschlossen durch den Herzog der Seligkeit. Sie ist uns schon erschlossen durch den göttlichen Bruder, in dem Gott ganz und gar zeigt, wie er selbst ist.

Wenn wir an diesem Gründonnerstag, im Rahmen dieser Mahlgemeinschaft, über die Orientierung unseres Lebens nachdenken, die uns im Christus Jesus erschlossen ist, dann kreisen unsere Gedanken um die Passion. Sie nähern sich, vielleicht nur tastend und zögernd und scheu, einer Leidensgeschichte an. Sie versuchen, eine Leidensgeschichte zu verstehen und zu ergründen. Diese Leidensgeschichte sagt uns nicht - wie dies buddhistische Überzeugung ist -, daß Leben überhaupt nur Leiden sei. Sie lehrt uns aber, daß es einen Weg zu jenem Ziel unserer Lebensgeschichten und Lebenswerke nur gibt wegen dieser seiner Leidensgeschichte. Warum ist das so?

Nun, in dieser Leidensgeschichte kommt eine Lebensgeschichte und ein Lebenswerk zum Ziel. Es ist ihr Ziel, dem Tode die Macht zu nehmen (2,14). Macht hat der Tod, weil er Furcht und Schrecken verbreitet, weil man mit ihm drohen und herrschen kann, weil man sich vor ihm ängstigt und scheut. Macht hat der Tod, weil wir an ihm unsere Grenze erleben, die Grenze, die mit unserem geschöpflichen Wesen gegeben ist, die Grenze, die unsere Lebenswerke in Frage stellt. Und nun ist es doch das Besondere der Leidensgeschichte Jesu Christi, daß sie uns von dieser Furcht erlöst (2,15). Und sie erlöst uns von dieser Furcht, weil sie zutiefst die Geschichte ist, in der der schöpferische Gott unser Menschsein annimmt. Wir verstehen die Leidensgeschichte Jesu Christi, wenn wir sie im Zusammenhang mit der Weihachtsgeschichte verstehen: hier wie dort erscheint uns des großen Gottes Freundlichkeit. Des großen Gottes Freundlichkeit ist so unbedingt und unbeirrt, daß sie sich nicht scheut, den Tod zu schmecken (2,9). Indem wir unser Leben im Vertrauen auf des großen Gottes Freundlichkeit führen, wie sie uns hier erscheint, gewinnen wir Zuversicht. Und indem wir Zuversicht gewinnen, können wir die großen und die kleinen Entscheidungen unseres Lebens daraufhin prüfen, ob sie des großen Gottes Freundlichkeit bezeugen. Unser großes oder kleines, bedeutendes oder unbedeutendes Lebenswerk: es kann und es soll in diesem Bezeugen seinen Schwerpunkt haben. Das ist die Orientierung, die wir der Lebensgeschichte des Christus Jesus verdanken, die sich in seiner Leidensgeschichte vollendet.

 

V

Freilich sagt uns unser Gewissen, wenn wir ihm nur Gehör schenken, wie unvollkommen uns dieses Bezeugen gelingt. Wie steht es denn mit unserer eigenen religiösen Sprache, in der wir unsern Kindern und Kindeskindern die orientierende Kraft des Glaubens weitergeben können? Wie steht es denn mit unserer Kritik an einem Wirtschaftsleben, das sich als das Wichtigste im Leben überhaupt aufspielt? Wie steht es denn mit unserem Engagement für eine Politik, die der sozialen Gerechtigkeit verpflichtet ist und die nun dennoch nicht auf die Allmacht des Staates setzt? Wie steht es denn mit unserem Einsatz für ein Schulwesen, das der Selbstbildung der Jugend Rechnung trägt? Wie steht es denn mit unserem Kampf gegen die Korruption, die die großen internationalen Institutionen zu durchdringen scheint? Ist nicht alles, was wir besten Wissens und Gewissens tun, bestenfalls ein Tropfen auf einen heißen Stein?

So ist also noch eine Ruhe vorhanden dem Volke Gottes (4,9). Schaut nicht auf euere Schwächen und auf euere Mißerfolge; schaut nicht auf euer Mißlingen und auf euer Versagen - schaut noch oben, schaut nach vorne! Schaut auf jene unvorstellbar schöne Situation, in der alle unsere fragmentarischen Lebensgeschichten und Lebenswerke zur Ruhe kommen und vollendet werden! Schaut auf euer durch Gott vollendetes Leben! Und damit euch dieses Aufschauen gelingt und damit euch diese Sehnsucht erfüllt, feiern wir immer wieder um den Tisch des Herrn herum das Abendmahl, in dem der Anfänger und Vollender des Glaubens jedem von uns und jeder von uns unmittelbar gegenwärtig ist. Amen.

 

Prof. Dr. Konrad Stock

E-Mail: konrad_stock@freenet.de

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