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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

Reminiszere, 17.03.2019

Predigt zu Matthäus 15:21-38 (dänische Perikopenordnung), verfasst von Margrethe Dahlerup Koch

Die Wende und der Fall der Mauer

 

”Die Wende”. So nennt man in Deutschland die Ereignisse während des Falls der Mauer im November 1989, wo Grenzen geöffnet wurden, von denen die wenigsten von uns geglaubt hatten, dass sie je beseitigt werden würden. und wo wir unsere Feindbilder revidieren mussten. Das, was wir eben gehört haben, ist auch so eine „Wende“, so ein Wendepunkt im Matthäusevangelium, und das Evangelium dieses Sonntags könnte so gesehen auch die Überschrift tragen: Der Fall der Mauer. Die Mauer, die Jesus um sich und seine Mission errichtet hatte, fällt, als die kananäische Frau sie durchbricht und ihren Willen bekommt. Der Dämon, der ihre Tochter befallen hat, verliert seine Macht über sie, als Jesus die Worte spricht, die sonst Gott vorbehalten sind: „Dir geschehe“ – das sind die Worte, mit denen Gott zu Anfang alles schuf „Es werde Licht, Himmel, Erde, Tiere Pflanzen, Menschen – und es geschah“, wie dies im Schöpfungsbericht steht. Die Worte sind nun an eine Kanaanäerin gerichtet – jemanden aus dem Volk, das seit jeher als Erzfeind der Juden galt. „Dir geschehe, wie du willst“, sagt Jesus.

  Und die Gottesworte ergehen in Feindesland. Das gilt im buchstäblichen Sinne, geographisch. Die Gegend um Tyrus und Sidon ist für den Juden Jesus fremdes Land. Und es ist Feindesland in dem Sinne, dass es offenbar ein Ort ist, wo Dämonen freies Spiel haben. Jesus hat in jeder Hinsicht Grenzen überschritten, indem er sich dahin bewegt.

Die Mauer in Berlin wurde im August 1961 errichtet, um die ostdeutsche Bevölkerung vor den Westmächten zu schützen, sagten die Bauherren der Mauer damals. Die Mauer sollte die Ostdeutschen nicht einsperren – dafür bestand ja kein Anlass, wo man nun angeblich das Glück hatte, in der besten aller Gesellschaften zu leben. Nein, die Mauer sollte die Leute aus dem Westen fernhalten.

  Als Jesus die kananäische Frau zurückweist, geschieht dies aus einer ähnlichen Logik. Er sagt, dass für sie bei ihm kein Platz ist. „Ich bin nur gesandt zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel“.

  Aber die Frau weiß etwas anderes über Mauern. Mauern beschützen nicht nur. Mauern halten nicht nur jemanden weg. Mauern tun auch etwas anderes. Sie begrenzen und machen den, der hinter ihnen sitzt, unfrei. Deshalb ist die Frau so gesehen nicht daran interessiert, hinter die Mauer in die Nähe Jesu zu kommen. Sie will etwas ganz anderes. Sie will nicht auch zum inneren Freundeskreis um Jesus gehören. Sie will viel mehr. Sie will ihn herausholen. Heraus in die offene, wilde Landschaft. Da wo ein Dämon sein Unwesen treibt und der Tod herrscht. Draußen, wo keine ideale Gesellschaft existiert, sondern die Welt. Dort soll er seine Macht zeigen und gebrauchen und ihr krankes Kind heilen.

Am Anfang des Matthäusevangeliums (und der Fastenzeit, das war der Predigttext des letzten Sonntags) wird Jesus dreimal vom Teufel versucht. Die erste Versuchung war diese: „Bist du Gottes Sohn, so sprich, dass diese Steine Brot werden“. Die letzte Versuchung war dies: „Bist du Gottes Sohn, dann sollst du über die ganze Welt herrschen“. Und Jesu Antwort war jedes Mal eine Ablehnung. Aber die Frau bittet ihn ja eigentlich um dasselbe. Als er sie mit steinharten Worten zurückweist, bittet sie ihn, diese Worte zu Brot zu machen – zu Barmherzigkeit, zu Leben für sie und ihre Tochter: „Gib mir Brosamen“, sagt sie.

  Und das ist die Macht in der ganzen Welt – nicht nur in der kleinen Welt hinter den Mauern – es ist die Macht in der ganzen Welt. Die soll er zeigen, indem er hier draußen heilt auf der anderen Seite der Mauer. Sozusagen in aller Welt.

  Und Jesus tut schließlich, was die Frau will. Er lehnt es ab, Steine zu Brot zu machen in der ganzen Welt, als ihn der Teufel darum höflich und freundlich bittet. Aber er tut das dennoch – als die Frau ihn hartnäckig und lautstark daran festhält, dass er das tun soll.

   Deshalb ist die Begegnung mit ihr die große Wende im Matthäusevangelium. „Wenn du Gottes Sohn bist, so zeige, was du kannst“ – das ist das Angebot des Teufels. „Wenn du Gottes Sohn bist, dann sei es auch für mich“. Das ist die Bitte und das ist die Forderung der Frau.

Der Teufel wird zurückgewiesen. Die Frau bekommt Recht. Denn die Frau zeigt Jesus offenbar etwas darüber, was es heißt, Sohn Gottes zu sein, und was er bis dahin nicht verstanden und gesehen hatte. Sie ist sozusagen von Gott selbst gesandt, wie sich zeigt. Ein Bote, der Jesus klarmachen soll, dass der Gott, dessen Sohn er ist, der Gott ist, der für den Anderen da ist. Jeden Anderen!

Gottes Sohn sein heißt für den Anderen da sein. Das ist es, wofür die Frau Jesu Augen und Ohren öffnet. Deshalb endet die Fasten Zeit damit, dass der Sohn Gottes am Kreuz hängt und nicht der verführerischen Aufforderung der Menge folgt: „Wenn du Gottes Sohn bist, dann rette dich selbst und steige herab vom Kreuz“. Gottes Sohn ist der, der für den Anderen da ist und der deshalb nicht an sich selber denkt. Was bekanntlich einen hohen Preis hat.

  Und das war nicht billiger zu haben, weil der Sohn Gottes den Preis bezahlen musste.

Die Mauer fällt. Die Frau bekommt Recht. Und Jesus hat von nun an keine Ruhe. Denn, wie er am Ende des Matthäusevangeliums sagen wird: „Mir ist gegeben alle Gewalt im Himmel und auf Erden. Darum gehet hin und macht alle Völker zu meinen Jüngern“. Die Macht ist ihm gegeben, weil er sich als der eine treue Sohn seines Vaters, als das Ebenbild seines Wesens erwies. Als der, der für den Anderen da ist. Das, was man auch Liebe nennt. Bedingungslos. Grenzenlos.

Immer wenn wir versuchen, Gott hinter unsere privaten Mauern einzusperren, ob das nun Kirchenmauern sind oder die Mauern, die wir um unser eigenes kleines privates Denken und Glauben errichten („Ich glaube an Gott in meiner eigenen Art und Weise“, wie das in einen unschuldig klingenden, aber tief selbstverliebten und andere ausschließenden Glaubensbekenntnis formuliert wird – immer dann, wenn wir so versuchen,  Gott für ins in Anspruch zu nehmen und ihn zum Garanten unseres eigenen Glücks zu machen, dann sollen wir an die hartnäckige schreiende kananäische Frauenzimmer denken, das Jesus und uns andere darauf aufmerksam machte, dass wir damit zu gering von Gott denken.

    Grundtvig nennt sie in einem Lied ziemlich patronisierend „kleine Frau“, „Frauchen“. Er war nie woanders als in Nordeuropa gewesen und nie stolze orientalische Frauen gesehen und gehört, wie es klingt, wenn sie parlamentieren. Vielleicht hätte er sich auch nur weg von seiner Kirche in Vartov in Kopenhagen in die engen Straßen der Altstadt bewegen sollen, zu den Fischweibern am Hafen oder den weniger wohlhabenden Frauen. Dann hätte er Frauen gesehen, die der kananäischen Frau ähneln. „Kleine Frau“, diese Anrede geht ganz auf die Rechnung Grundtvigs. Jesus nennt sie zu keinem Zeitpunkt klein. Vielmehr nennt er ihren Glauben groß.

  Und ihre Größe besteht gerade darin, dass die daran festhält, dass Gott groß ist und sich deshalb nicht einmauern lässt, weder in Kirchen, Glaubensrichtungen noch in unserem ach so interessanten individuellem Innenleben.

  Gott ist groß. So groß, dass Gott für den Anderen da ist. Auch für mich.

  Das ist die Wahrheit über Gott, die Frau bringt Jesus dazu, das zu offenbaren. Und keiner soll es sich gefallen lassen, dass diese Wahrheit verborgen bleibt. Amen.



Pastorin Margrethe Dahlerup Koch
Ringkøbing, Dänemark
E-Mail: mdkoch(at)mail.dk

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