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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

Judika, 07.04.2019

Die Wahrheit Jesu Christi sind keine „Fake News“
Predigt zu Johannes 18:28-19,5, verfasst von Klaus Wollenweber

28 Da führten sie Jesus von Kaiphas vor das Prätorium; es war aber früh am Morgen. Und sie gingen nicht hinein in das Prätorium, damit sie nicht unrein würden, sondern das Passamahl essen könnten.

29 Da kam Pilatus zu ihnen heraus und sprach: Was für eine Klage bringt ihr vor gegen diesen Menschen?

30 Sie antworteten und sprachen zu ihm: Wäre dieser nicht ein Übeltäter, wir hätten dir ihn nicht überantwortet.

31 Da sprach Pilatus zu ihnen: So nehmt ihr ihn und richtet ihn nach eurem Gesetz. Da sprachen die Juden zu ihm: Es ist uns nicht erlaubt, jemanden zu töten. 

32 So sollte das Wort Jesu erfüllt werden, das er gesagt hatte, um anzuzeigen, welchen Todes er sterben würde.

33 Da ging Pilatus wieder hinein ins Prätorium und rief Jesus und sprach zu ihm: Bist du der Juden König?

34 Jesus antwortete: Sagst du das von dir aus, oder haben dir's andere über mich gesagt?

35 Pilatus antwortete: Bin ich ein Jude? Dein Volk und die Hohenpriester haben dich mir überantwortet. Was hast du getan?

36 Jesus antwortete: Mein Reich ist nicht von dieser Welt. Wäre mein Reich von dieser Welt, meine Diener würden darum kämpfen, dass ich den Juden nicht überantwortet würde; aber nun ist mein Reich nicht von hier.

37 Da sprach Pilatus zu ihm: So bist du dennoch ein König? Jesus antwortete: Du sagst es: Ich bin ein König. Ich bin dazu geboren und in die Welt gekommen, dass ich die Wahrheit bezeuge. Wer aus der Wahrheit ist, der hört meine Stimme.

38 Spricht Pilatus zu ihm: Was ist Wahrheit?

Und als er das gesagt hatte, ging er wieder hinaus zu den Juden und spricht zu ihnen: Ich finde keine Schuld an ihm.

39 Ihr habt aber die Gewohnheit, dass ich euch einen zum Passafest losgebe; wollt ihr nun, dass ich euch den König der Juden losgebe?

40 Da schrien sie wiederum: Nicht diesen, sondern Barabbas! Barabbas aber war ein Räuber.

19 1 Da nahm Pilatus Jesus und ließ ihn geißeln.

2 Und die Soldaten flochten eine Krone aus Dornen und setzten sie auf sein Haupt und legten ihm ein Purpurgewand an

3 und traten zu ihm und sprachen: Sei gegrüßt, König der Juden!, und schlugen ihm ins Gesicht.

4 Und Pilatus ging wieder hinaus und sprach zu ihnen: Seht, ich führe ihn heraus zu euch, damit ihr erkennt, dass ich keine Schuld an ihm finde.

5 Da kam Jesus heraus und trug die Dornenkrone und das Purpurgewand. Und Pilatus spricht zu ihnen: Sehet, welch ein Mensch!

 

Liebe Gemeinde,

vor einigen Wochen berichtete die Tagespresse über einen der spektakulärsten Fälle einer unrechten Verurteilung in der Geschichte der USA. Es ging um ein juristisches Fehlurteil, das einen Unschuldigen mit einer lebenslänglichen Haftstrafe getroffen hatte. Berichtet wurde über Craig Coley, der wegen angeblichen Doppelmordes schon fast 39 Jahre im Gefängnis saß und nun wegen erwiesener Unschuld frei gelassen worden war. Kein Einzelfall! Denn in demselben Zeitungsartikel wurde geschrieben, dass allein im Jahr 2017 in den USA 139 schon verurteilte Personen wieder frei gesprochen werden mussten.

Der bekannteste Prozess, in dem ein Unschuldiger schuldig gesprochen wurde, ist der Prozess vor dem römischen Statthalter Pilatus in Jerusalem. Der unschuldige Jude Jesus von Nazareth wurde zum Tod am Kreuz verurteilt, und der Verbrecher Barabbas frei gesprochen. Seit dem Beginn dieses Kirchenjahres am 1. Advent 2018 gibt es in der ev. Kirche in Deutschland neue, vorgeschlagene biblische Texte für die Predigt an den jeweiligen Sonntagen. So ist in der Passionszeit der biblische Abschnitt über diesen Prozess Jesu nach dem Zeugnis des Johannes-Evangeliums zum ersten Mal als Predigttext für den heutigen Sonntag vorgesehen. Dieser Sonntag in der Passionszeit hat nach einem Wort aus dem 43. Psalm den lateinischen Namen „Judika“, d.h. „schaffe mir Recht“. Jesus ist am Kreuz gestorben; ihm ist kein Recht mehr geschaffen worden!

Der Jude Jesus vor dem Römer Pilatus!  - eine filmreife Szene mit einer Reihe von Ungereimtheiten und Fragezeichen. Trotz der knappen und sachlichen Darstellung wirkt das Gerichtsverfahren wie ein interessantes, dynamisches Schauspiel mit immer neuem Szenenwechsel: mal innen im Palast des Pilatus, mal draußen vor dem Palast beim Volk; mal die Stellungnahmen des römischen Pilatus, mal die zornigen Entscheidungen des hasserfüllten jüdischen Volkes; mal der Spott und die Gewalttaten der gehorsamen Palastwache, mal die Worte des scheinbar ohnmächtigen Angeklagten. Die Szenen spiegeln eine so offensichtliche Verlogenheit wider, dass wir Hörerinnen und Hörer nur erleichtert Jesus zustimmen können, wenn er sagt: „Mein Reich ist nicht von dieser Welt!“

Denn bis auf Jesus lügen in dieser Erzählung alle: die Pharisäer, die Hohenpriester, die Soldaten, das Volk, der Pilatus. Und zur Krönung der Verlogenheit wird Jesus eine Dornenkrone aufgesetzt und ein Purpurmantel umgelegt; er wird als „König der Juden“ gegrüßt und verhöhnt und schließlich von Pilatus dem Volk gezeigt mit den Worten „Seht, welch ein Mensch!“.

Liebe Gemeinde, die evangelische Fastenaktion während der Passionszeit in diesem Jahr 2019 hat sich unter das Motto gestellt: „Mal ehrlich! Sieben Wochen ohne Lügen!“ Passt gut in unsere Zeit der „Fake News“ und des Populismus mit der Schwarz-weiß-Malerei. Aber hätte auch damals gut gepasst, als das Fehlurteil „Tod am Kreuz“ über Jesus gesprochen wurde.

Justizirrtümer, die als Sensationen ausgeschlachtet werden, sind bei aller Unterschiedlichkeit in keiner Zeit Einzelfälle. Möglicherweise hatte man vor 39 Jahren in den USA den angeblichen Doppelmörder Cray Coley auch nach dem Geschworenenprozess der Öffentlichkeit vorgeführt: Seht, welch ein Mensch! Und die Medien damals wie heute stürzten sich begeistert auf Schlagzeilen über derartige menschliche Verbrechen.

Und heute ist die Gefahr der lügnerischen, gesellschaftlichen Vorverurteilung aufgrund der schnellen sozialen Medien im Netzwerk noch größer. Nicht umsonst muss in unserer Demokratie die Justiz immer neu betonen: Bis zum Beweis des Gegenteils gilt die Unschuldsannahme; im Zweifel für den Angeklagten. Wie hilfreich, nötig und gut diese juristische Grundlage sich auswirkt, ist fast täglich zu spüren. Denn wie unüberlegt und erschreckend rasch fällt heute in der Gesellschaft das Vorurteil, dass bei Gewalt und Vergewaltigungen und terroristischen Anschlägen immer die Ausländer, die Migranten, als schuldig empfunden und benannt werden. Manche dieser Verbrechen werden sogar schon im Vorfeld im Blick auf Ausländer politisch instrumentalisiert.

Damals, vor mehr als 2000 Jahren, ließ sich Pilatus nicht so schnell beeinflussen. Lange Zeit sieht er in Jesus keinen Verbrecher und findet in ihm als einem möglichen jüdischen König kein gefährliches Gegenüber zum römischen König und Kaiser. Pilatus wehrt sich gegen eine Verurteilung Jesu; alles nur „Fake News“!, würden wir heute sagen. Aber unter dem Druck der Volksmeinung bekommt es Pilatus mit der Angst um seine eigene Existenz zu tun.

Ist uns das nicht auch bekannt? Wenn es um die eigene Haut geht, dann bleibt schon mal die Wahrheit auf der Strecke! Heute können einen Menschen Bedrohung, Verleumdung und Unterstellung auf den verschiedenen digitalen Portalen, in dem medialen Netzwerk, verstummen, ängstigen und wehrlos machen. Da ist man dem digitalen Ansturm der Vorverurteilung hilflos ausgeliefert.

„Was ist Wahrheit?“ – so fragt fast resignierend der römische Machthaber Pilatus, nachdem der vom jüdischen Hohen Rat angeklagte Mensch Jesus ihm bezeugt hat: “Ich bin dazu geboren und in die Welt gekommen, dass ich die Wahrheit bezeuge. Wer aus der Wahrheit ist, der hört meine Stimme.“  In dem Gespräch mit Pilatus bindet Jesus die Frage nach der Wahrheit an seine eigene Person. Für ihn ist Wahrheit kein philosophischer Begriff, mit dem man intellektuell herrlich jonglieren kann. Wahrheit ist auch kein politischer Begriff, mit dem man seine Regierungsmacht stabilisieren kann. Nein! Wahrheit ist mit der Person Jesus direkt verbunden. Er ist Mensch und Gott; er ist der Sohn Gottes. Das ist Wahrheit! Sie ist lebendig und wirkt wie der Mensch Jesus.

Und wenn heute ein Mensch mit christlichem Glauben die Wahrheit sagt, dann kann diese Aussage an der Person Jesu Christi gemessen werden. Diese Person, Jesus Christus, ist das Kriterium für die lebendige Wahrheit.

Ich will dies an einem – wenn auch manchmal umstrittenen – Beispiel verdeutlichen. Es geht um die Wahrheit am Krankenbett. Soll der Arzt einem Patienten ohne Rücksicht auf dessen Empfinden die Wahrheit sagen? Soll er sie lieber verschweigen und alles relativieren? Meine Antwort: Wenn ich Jesus Christus in meinem Glauben zu meinem Maßstab auch der Worte am Krankenbett mache, dann sage ich nur so viel, wie ich unter dem Gebot der Nächsten-liebe dem Kranken zumuten kann. Ich binde also die Wahrheitsaussage personal an die Person des kranken Menschen. Die Wahrheit braucht einen liebevollen Rahmen.

Ich habe in der Krankenhausseelsorge erfahren, dass ich bei der einen kranken Person vieles zur Sprache bringen kann, bei einer anderen nur sehr wenig und bei einer dritten besser schweige. Manchmal fehlen mir die rechten Worte. Jede Person nimmt die Wahrheit anders auf, und einige Menschen brauchen mehr Zeit, um schrittweise zu erkennen, wie es um sie steht. Die Wahrheit als erbarmungsloses Diagnoseergebnis wird jedenfalls individuell unterschiedlich aufgenommen und verarbeitet. Weil Wahrheit schmerzlich sein kann, kommt es vor, dass wir Menschen uns selbst und untereinander immer wieder belügen. Und mit diesen unseren „Ausreden“ machen wir uns etwas vor. Das tut auf die Dauer ebenso weh und macht zusätzlich misstrauisch.

Jesus offenbart sich dem römischen Statthalter Pilatus in einem sehr persönlichen Bekenntnis, das Pilatus so verunsichert, dass er in die objektive Frage flieht: Was ist Wahrheit? Er hatte gar nicht verstanden und konnte als römischer Heide nicht wahr-nehmen, dass der vor ihm stehende Jesus in seiner Person als Mensch gewordener Gott die Wahrheit selbst personifiziert. Diese Wahrheit ist Jesus als Sohn Gottes, der zur Rettung der Menschen in die Welt gekommen ist, gekreuzigt wird und an der Seite Gottes wieder lebendig ist. In der an diese Person Jesus gebundenen Wahrheit geht es um den Glauben, dass Gott uns als Mensch in unserem Nächsten begegnet. Es geht um den christlichen Glauben, dass wir deshalb - aufgrund dieser Begegnung Gottes mit uns - in und aus der Hand Gottes leben und sterben.

Diese Glaubensaussage ist das Bekenntnis zu einer bedingungslosen Liebesbeziehung zwischen Gott und Mensch. Das hat eine viel größere Bedeutung als die Frage nach der „objektiven Wahrheit“. Da können bis heute Agnostiker, Theologen und Historiker streiten, wer die Schuld an dem Kreuzestod Jesu hatte; die Römer, die Juden, Pilatus, der Hohe Rat, das Volk?! Dieser Streit ist müßig und sinnlos angesichts unseres christlichen Glaubens. Für uns Christen sind dieser grausame Kreuzestod Jesu und seine Auferstehung der Weg des Glaubens und die Wahrheit und das Leben.

Liebe Gemeinde, wenn für uns die Person Jesu die Perspektive der Wahrheit ist, dann ist auch sein Königreich das Reich Gottes. In seiner Antwort auf Pilatus weist Jesus darauf hin, dass unter der Begrifflichkeit „Reich Gottes“ der Bereich des Lebens gemeint ist, der Gott gehört. Und das ist die gesamte Schöpfung, unsere Welt mit dem Weltall, dem Himmel und der Erde. Jesus und Gottes Reich sind nicht begrenzbar zu beschreiben; der Bereich Gottes ist unendlich und ewig. Es ist in der Unbegrenztheit auch für uns irdisch begrenzte Menschen unbegreifbar. Das Reich Gottes kann auch nicht durch die Macht des Todes vernichtet oder besiegt werden. Das Kreuz mit der Person Jesu ist das eindeutige Symbol für die Unbesiegbarkeit des Schöpfergottes in seiner Schöpfung. Er bleibt Herr über Leben und Tod.

Da können die Soldaten - und beispielhaft jeder Mensch heute  -  noch so viele Kronen aus Dornen für unangenehme Widersacher flechten und Andersdenkenden Purpurmäntel umlegen; da können Personen in der digitalen Welt ganz schlichte oder hoch politische Menschen verspotten, quälen und verhöhnen. Es ändert nichts an der Wahrheit, dass der Mensch Jesus den Sieg über den Tod gelebt hat. An dieser Wahrheit, die an die Person Jesu gebundenen ist, kommt heute und morgen kein Christ vorbei, - auch nicht in den Dialogen mit anderen Religionen.

Ja, liebe Gemeinde, christlicher Glaube ist keine religiöse, von Menschen erdachte Lebens-einstellung, Philosophie oder Emotion, sondern das Bekenntnis und die Erkenntnis, dass mit dem Gottessohn Jesus das wahre irdische Leben am Kreuz endet und zugleich das wahre Leben in der Nähe Gottes sichtbar wird. Wider allen Augenschein ist für Jesus Recht geschaffen worden und damit auch für jeden und für jede von uns. Denken wir an den heutigen Passionssonntag „Judika“ = „schaffe uns Recht!“.

Das biblische Gespräch des Pilatus mit Jesus und dessen Verurteilung bedeuten für uns heute, dass wir Christen seit unserer Taufe den Bereich Christi in der Welt bilden. Wir leben schon jetzt in der wahren Beziehung und Begegnung, die der auferstandene Christus mit uns begonnen und uns ewig zugesagt hat. Natürlich haben wir die Möglichkeit und Freiheit, diese personale Beziehung Jesu Christi zu uns abzulehnen, - gleichsam diese uns in der Taufe zugesagte Bindung zu leugnen. Aber das evangelische Motto dieser Passionszeit bleibt entsprechend eine wahre Herausforderung für Sie und für mich: „Mal ehrlich! Sieben Wochen ohne Lügen!“  Von Jesus stammt die Zusage des Lebens: „Ihr werdet die Wahrheit erkennen und die Wahrheit wird euch frei machen!“   Das sind keine „Fake News“, das ist keine Falschmeldung!

 

Amen

 

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Bischof em. Klaus Wollenweber, Bonn

Viele Jahre Gemeindepfarrer in der Ev. Keuzkirchengemeinde Bonn; danach Oberkirchenrat in der EKU Berlin ( heute: UEK in Hannover ); dann Bischof der Ev. Kirche der schlesischen Oberlausitz mit dem Sitz in Görlitz / Neiße  ( heute: Ev. Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz ); seit 2005 im Ruhestand in Bonn.



Bischof em. Klaus Wollenweber
Bonn, Nordrhein-Westfalen, Deutschland
E-Mail: Klaus.Wollenweber@kkvsol.net

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