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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

Gründonnerstag, 18.04.2019

Predigt zu Matthäus 26:17-30 (dänische Perikopenordnung), verfasst von Poul Joachim Stender

Wer von uns hat es nicht satt, vom Brexit zu hören? Das Wort ist eine Kombination von British Exit. Und es geht darum, dass England sich entschieden hat, die EU zu verlassen. Aber sie wissen nicht, wie sie die EU verlassen sollen. Das ist eine dumme Scheidung. Denn die Engländer sind ein phantastisches Volk, und je enger und mehr wir in Europa mit ihnen verbunden sein können, desto besser für alle. Manchmal soll man das Volk nicht nach zu viel fragen. Wir haben eine repräsentative Demokratie. Wir müssen damit rechnen, dass die Politiker, die wir wählen, für uns gute Entscheidungen treffen. Und wenn sie das nicht tun, können wir sie bei der nächsten Wahl abwählen. Ich weiß nicht, wie es ausgehen würde, wenn man die Beziehung der dänischen Volkskirche zum Staat zum Gegenstand einer Volksabstimmung machen würde. Vielleicht würde das zu einer Trennung von Staat und Kirche führen, und das wäre eine Katastrophe für Dänemark und die Kirche. Wir sind ein christliches Land, und das ist nicht etwas, worüber man abstimmen kann. Nun hat Theresa May, die britische Premierministerin, erreicht, dass der Austritt auf den 31, Oktober verschoben wird. Wir werden deshalb in den nächsten Monaten mehr vom Brexit hören.

Ich will deshalb einen neuen und interessanteren Begriff einführen. Nämlich Chrexit, die Abkürzung für den Exit Christi. Bei Jesus gibt es keinen Aufschub. Er entscheidet sich dafür, am Ostermorgen, dem dritten Tag nach seiner Kreuzigung auf dem Golgatha, einen harten Chrexit vom Tode zu machen. Er bricht aus vom Grabe. Er steht auf von den Toten. Es mag ja sein, dass es schwierig ist, die EU zu verlassen, wenn man erst Mitglied geworden ist. Das zeigt der englische Brexit. Aber es ist noch schwerer, den Tod zu verlassen, wenn man erst gestorben ist. Aber Jesus hat das vollbracht! Und wir können in der Kirche kein Abendmahl feiern, ohne an diesen Chrexit zu denken. Wir essen mit dem auferstandenen Christus, der bei unserem Abendmahl voll und ganz gegenwärtig ist.

Vor den alten Mauern Jerusalems gibt es ein Tal, das Hinnomtal. Eist, unter dem Götzen Moloch, wurden dort Kinder geopfert. Die Vergangenheit des Tals war so furchtbar, dass später die Hölle nach ihm benannt wurde. In diesem Tal erhängte sich der Tradition infolge auch Judas. Wenn man sich in dem Tal befindet, wo es heute ein tolles Restaurant gibt, ist es als hörte man Schreie von den Kindern und von Judas. Generationen von Christen haben Judas gerne verurteilt. Aber warum? Er war Teil in dem Plan von Gottes Chrexit. Jesus sollte sterben und von den Toten auferstehen, um uns Menschen einen Exit in die Ewigkeit zu verschaffen. Bei der letzten Mahlzeit, die Jesus mit seinen Jüngern einnimmt, ist Jesus mit am Tisch. Er empfängt Jesu Leib und Blut und ist damit nicht ausgeschlossen.

Vor einigen Jahren kam ein dänischer Spielfilm des dänischen Regisseurs Thomas Vinterberg mit dem Titel: Die Jagd. Der Film handelt von einem Pädagogen in einem Kindergarten, ein sympathischer Mann, der beschuldigt wird, sich an einem kleinen Mädchen vergangen zu haben. Obwohl er unschuldig ist, wird er gejagt, geschlagen, getreten und schließlich mit Konservendosen in einem Laden beworfen. Es ist erschreckend, daran zu denken, wie vielen Pädagogen Pädophilie vorgeworfen wurde – und wie wenige verurteilt wurden! Jede Zeit hat ihre Hexenjagden. Schließlich bereut das kleine Mädchen, das ihn angeklagt hatte, und gesteht, dass das, was sie gesagt hatte, nicht wahr ist. Man sieht ein, dass man nicht immer von betrunkenen Leuten und Kindern die Wahrheit hört, wie es in einem Sprichwort heißt. Der Pädagoge wird rehabilitiert. Happy End. Der Vater des Mädchens und der Pädagoge essen zusammen eine Mahlzeit, die den Charakter eines Abendmahls hat. Sie versöhnen sich, ohne ein Wort zu sagen, bei Rotkohl und Schweinebraten. Aber der Film endet damit, dass bei einer Jagd, an der der rehabilitierte Pädagoge teilnimmt, jemand – niemand kann sehen, wer es ist – ihn mit einem Gewehr zu töten versucht. Wer ist diese Person? Wir denken, dass es die Mutter des Mädchens sein muss oder der Vater oder ein anderer aus dem Film, die den Pädagogen verurteilt hatten. Aber das stimmt nicht. Die Person sind wir selbst. Wir sehen alle anderen Personen als uns selbst in der dunklen Gestalt des Films. Auch wenn eine Person von dem Vorwurf der Pädophilie oder des Raubüberfalls oder der Gewalt gegen die Ehefrau oder Steuerbetrug oder dergleichen entlastet ist, bleibt trotzdem ein Verdacht in uns hängen. Nicht ohne Grund heißt es in einem Sprichwort: Da kommt kein Rauch ohne ein Feuer. Es ist leicht, Judas als Verräter zu verurteilen. Ihn zu verurteilen, heißt uns selbst freisprechen. Die ersten Christen waren wie wir sehr darum bemüht, Sündenböcke zu finden, alle anderen als uns selbst. Aber wir haben alle das Hinnomtal in uns, eine höllische Finsternis, aus der wir immer einen Exit finden müssen. Da sind Schreie von Menschen, die wir übersehen, Aufschrei von unseren Übergriffen und Hexenjagden, Seufzer derer, die wir zu Sündenböcken machen. Der große Verrat besteht darin, dass wir so tun, als wäre in uns nichts Böses. Wir geben der Gesellschaft die Schuld oder den anderen oder dem Zufall, wenn es unseren Mitmenschen schlecht geht. Aber vielleicht sollten wir uns zusammenreißen?

Ist das, was ich sage, deprimierende Rede an einem Gründonnerstag, wo sich das Fleisch des Osterlamms unsere Zähne gesetzt hat und der Rotwein sanft über unsere Zunge gleitet? Nein, das ist keine deprimierende Rede. Auch wenn Finsternis in uns ist und wir immer wieder Gott, einander und uns selbst verraten, will Jesus mit uns sein. Er vollzog einen Chrexit, um bei uns zu sein im Leben und im Tod. So wie er mit Judas zu Tische saß, dem Verräter, essen wir das Abendmahl zusammen mit dem Sohn Gottes. Wir sitzen nicht mit Gott zu Tische, weil wir ohne Fehler sind. Wir kommen zum Abendmahl mit all unseren Fehlern, die uns nicht von der Liebe Gotts trennen. Gründonnerstag ist deshalb einer der stärksten Tage des Kirchenjahres, weil der Tag all die vielen Seiten in sich enthält, die wir Menschen in uns tragen. Finsternis, Versagen, Schmerz, Verzweiflung, das Hinnomtal, der Verrat des Judas. Zugleich aber ist Gründonnerstag auch Freude, Freiheit, Vergebung, Exit zu etwas Besserem, die warme Gemeinschaft zwischen der Ewigkeit und der Erde und zwischen den Menschen untereinander. Gott befohlen. Amen.



Pastor Poul Joachim Stender
Kirke Såby, Dänemark
E-Mail: pjs(at)km.dk

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