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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

Jubilate, 12.05.2019

Predigt zu Johannes 16:16-22 (dänische Perikopenordnung), verfasst von Anders Kjærsig

Mikron – das christliche und menschliche Drama

 

„Eine kleine Weile“ heißt auf Griechisch „mikron“. Das ist dasselbe Wort, das sich in „Mikroskop“, „Mikrobiologie“ und „Mikro-Makro“ findet. Ein Zeitbegriff, der so konzentriert ist, dass wir ihn nicht in unsere Dimensionen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft fassen können.

Denn was ist „eine kleine Weile“? Ist das die reine Gegenwart, also Gegenwart ohne Zukunft und Vergangenheit? Ist es der Übergang von der Vergangenheit zur Zukunft? Ich zweifle. Dort können wir nämlich nicht sein – in der reinen Gegenwart. Gegenwart ist zwar reines Sein, ungehinderte Wirklichkeit, hier und jetzt, aber da ist keine Dauer. Und der Mensch kann sich selbst nicht ohne Dauer verstehen, ohne Vergangenheit und Zukunft. Aber was ist es dann?

Das beste deutsche Wort für dieses „mikron“ ist der „Augenblick“. Der Augenblick ist eben gerade ein Blick oder ein Blinken oder ein Wink, etwas Plötzliches, eine Mischung von Ferne und Gegenwart. Anders gesagt: „Einen Augenblick, dann seht ihr mich nicht mehr, und noch einen Augenblick, dann seht ihr mich wieder“. Diese Verschiebung zwischen Nichtsehen und Sehen ist so gesättigt und zeitlos, dass man es kaum denken kann. Der Augenblick lässt sich nicht in die Zeit einfangen, könnte man sagen. Und dennoch sagt Jesus diese Worte zu seinen Jüngern: „Noch eine kleine Weile, dann werdet ihr mich nicht mehr sehen; und abermals eine kleine Weile, dann werdet ihr mich sehen“.

Die Worte sind im Kontext einer Abschiedsszene gesprochen. Aber das ist zweifellos eine merkwürdige Form von Abschied. Ein Auf Wiedersehen und Guten Tag zugleich. Und wer begreift das? Da ist keine Dauer in den Worten Jesu. Sie stehen nur und vibrieren in all ihrer Unverständlichkeit. Man versteht sehr wohl, dass es den Jüngern schwer fällt, das Wort zu verstehen: Mikron. Das Wort könnte die Überschrift für eine ästhetische Theorie vom Sublimen sein, wo man das Unsichtbare hinter dem Sichtbaren sehen soll, eine Art plötzliche Begebenheit, die einen trifft, um wieder zu verschwinden. Ein Déja-vu-Erlebnins oder eine Wiederholung im Sinne Kierkegaards.

Das erinnert an die Erkenntnis, die den beiden Jüngern zuteilwurde, als sie mit Jesus zu Tische saßen und dem Brot und dem Wein nach der Wanderung nach Emmaus. Hier offenbarte Jesus sich sichtbar und unsichtbar zugleich. Erst erkennen sie ihn wieder, und im nächsten Augenblick ist er ihnen fremd. Mikron. Es ist mit anderen Worten eine Kultur der Verwandlung verbunden mit diesem Mikron, etwas, was geschieht, was man aber dann nicht in eine feste Formel bringen kann.

Das gilt auch, als Jesus sein wahres Wesen den Jüngern oben auf dem Berg offenbart. Dort sehen sie ihn in seiner ganzen göttlichen Fülle, werden natürlich verlegen und können keine Worte finden. Aber im nächsten Augenblick erkennen sie ihn wieder als einen gewöhnlichen Menschen. Hier spielt die doppelte Natur Jesu eine Rolle, Gott und Mensch stehen einander gegenüber und bringen die Jünger an die Grenze der Verwirrung und der Sprache. „Wir verstehen nicht, wovon er redet“. Mikron.

An und für sich denkt Luther an dasselbe, wenn er vom sichtbaren und unsichtbaren Gott spricht. Sie überlagern sich und offenbaren sich gegenseitig im Mikron – könnte man sagen. Etwas, was geschieht, mehr ein Ereignis als ein Prozess.

Die Spannung, die in diesem Mikron liegt, ist in vieler Hinsicht der Nerv im christlichen Drama. Nehmen wir das widersprüchliche Mikron und übertragen es auf eine Lektüre bestimmter Texte, so geht es nicht nur um Zeit, sondern um Spannung und den Zusammenfall von Widersprüchen.

An Heiligabend und am Weihnachtstag hören wir die Geschichte von dem kleinen Jesuskind in der Krippe, von der Liebe Gottes zu den Menschen, dass er seinen Sohn gibt, damit kein Mensch verloren geht. Aber diese Erzählung wird am zweiten Weihnachtstag, dem Sankt Stephanstag mit einem Gegenbild konfrontiert, wo Versöhnung und Freude durch Wahnsinn, Gewalt und Ekstase ersetzt ist. Vom kleinen Kind in der Krippe zur Steinigung von Stephanus. Starke Sachen. Was mit der einen Hand geschenkt wird, wird im nächsten Augenblick mit der anderen Hand von uns genommen.

Es gibt zu denken, dass wir dieselbe Spannung auch außerhalb des Kirchenraums finden. Weihnachten ist das Fest der Familien, der zweite Weihnachtstag das Fest der familiären Dramen. Nach Geschenken kommt die Gewalt. Der zweite Weihnachtstag ist der Tag, an dem die Polizei aus den Familien die meisten Anzeigen wegen Gewalt erhält. Erst lieben wir einander, im nächsten Augenblick hassen wir uns. Mikron – die Spitze der Dramatik, der Zusammenfall der Widersprüche.

Dies gilt auch für die Spannung, die sich am Tag der Verkündigung Mariä findet. Neun Monate vor Weihnachten erfährt sie, dass die ihren ersten Sohn gebären wird. Welche Freude. Das wissen alle, die sich ein Kind wünschen. Man bereitet sich vor, richtet ein Kinderzimmer ein und freut sich grenzenlos. Und die Geburt wird in der Weihnacht erwartet. Wie toll.

Aber im Kirchenjahr löst sich die Freute in der Woche danach auf. Das wissen wir als Leser. Das weiß Maria natürlich nicht, auch wenn sie oft viele Geheimnisse in sich trägt. In der Woche nach der Verkündigung Mariä ist Palmarum, und dasselbe Kind reitet nun auf seinem Esel in Jerusalem ein, seinem eigenen Untergang entgegen. Was für ein Kontrast! Was sich seine Eltern von ihm erwarten, ist nicht das, was ihn erwartet: Hohn, Folter, Kreuzigung und Tod.

Die Verwundbarkeit ist die Rückseite der Liebe. Das wissen wir alle. Es ist gefährlich, sich zu früh zu freuen, weil man alles verlieren kann. Das ist nicht nur eine menschliche Erfahrung, sondern der Kern des christlichen Dramas. Die Extreme werden aufgezeigt und in einem Mikron einander gegenübergestellt.

Das wusste der dänische Liederdichter Kingo:

Kummer und Freude, zusammen sie wandern,

Unglück und Glück, sie auch gehen zu zweit,

Aufstieg und Fall, eines folget dem andern,

Sonne und Wolken sich geben’s Geleit;

dieser Welt Gold im Sand verrollt,

einzig im Himmel wohnt Seligkeit hold.[1]

 

Amen.

 

[1] Sorrig og glæde de vandre til hobe, Deutsch-dänisches Kirchengesangbuch Nr. 46.



Pastor Anders Kjærsig
Odense, Dänemark
E-Mail: anderskjaersig(at)hotmail.com

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