Göttinger Predigten

Choose your language:
deutsch English español
português dansk

Startseite

Aktuelle Predigten

Archiv

Besondere Gelegenheiten

Suche

Links

Konzeption

Unsere Autoren weltweit

Kontakt
ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

Karfreitag, 21.03.2008

Predigt zu Matthäus 27:, verfasst von Inger Hjuler Bergeon

(Liturgischer Gottesdienst mit Lesungen der Passionsgeschichte. Die Predigt wird ohne Einleitung, als eine Art Meditationstext gehalten.)

Karfreitag sind wir Zuschauer. Und wir sind punktuell Teilnehmer. Aber nur punktuell. Denn wir können es nicht ertragen, einbezogen zu sein. In kleinen Punkten wird uns also klar, dass dies etwas mit uns zu tun hat. Da ist etwas, das wir wiedererkennen. Da ist etwas, worin wir uns selbst sehen können. Oder verstehen können, wenn wir an etwas aus unserem eigenen Leben denken. Es können kleine Punkte sein, wo wir selbst erlebt haben, dass wir im Stich gelassen wurden. Oder dass wir ungerecht behandelt wurden. Oder geopfert wurden. Ob das im Kleinen geschieht oder im Großen, es tut sehr sehr weh. Denn es ist die Hölle auf Erden, von seinen Mitmenschen im Stich gelassen und geopfert zu werden.

            Und dann sind da Punkte, in denen wir uns selbst wiedererkennen und verstehen können, was erzählt wird, indem wir uns an die Situationen in unserem eigenen Leben erinnern, in denen wir es waren, die andere im Stich ließen. Die Situationen, in denen wir uns feige davonschlichen. Schwiegen. Das Böse geschehen ließen. Oder aktiv dazu beitrugen, einen anderen zu opfern. Im Großen oder im Kleinen. Und es beschämt einen so fürchterlich, wenn man daran denkt, dass wir am liebsten nur schnell darüber hinweggehen möchten.

            Also Karfreitag sind wir Zuschauer. Denn wir können nicht ertragen, Teilnehmer zu sein außer in Punkten. Punktuell. Flüchtig.

            Die Kinder im Alter von ca. 9 Jahren, die Kinder aus der 3 b der Privatschule Odense, die die wunderbaren Kruzifixe gemacht haben, die wir hier ausstellen, hatten lange überlegt, ob Jesus

Augen haben sollte. Denn gibt man ihm Augen, dann ist er es, der uns anschaut. Gibt man ihm keine Augen, dann sind wir es, die ihn anschauen.

            Das ließ mich an die Kruzifixe denken, bei denen Jesus geschlossene Augen hat - das war die große Mode seit dem 15. Jahrhundert, in derselben Epoche, als man ihn mehr und mehr leidend darstellte. Und als man diese Seite unseres Frömmigkeitslebens pflegte, wo wir Zuschauer sind, die von Demut und Mitleid überwältigt werden sollten, wenn sie ihn ansahen und seine furchtbaren Leiden sahen. Und wo wir seine große Erlösertat an uns versagenden Menschen sehen sollten - wie in unseren Passionsliedern.

            Auf einem Kruzifix in der Kirche von Broager in Südjytland hat Jesus geschlossene Augen, und er ist ein kleines bisschen zur Seite geneigt. Es ist so ein Kreuz des Übergangs vom Kreuz des frühen Mittelalters, wo er nahezu gerade dasteht und ausschaut. Hier sind wir auf dem Wege zur leidenden Christusfigur des späteren Mittelalters, mit geschlossenen Augen, die es nicht ertragen können, uns anzusehen, und mit denen wir aus gutem Grund Mitleid haben. Aber als man das Kruzifix vor 80 Jahren restaurieren wollte, entdeckte man, dass unter den übermalten Augenlidern offene Augen waren. So ändert sich also die Mode. Die Weise, wie wir uns selbst betrachten und wie wir Christus im Verhältnis zu uns selbst sehen, ändert sich. Er hatte einmal offene Augen, die hinausschauten, aber man übermalte sie und wurde so seinerseits zum Zuschauer und Beobachter. Zu innerer Erbauung.

            Wenn Jesus offene Augen hat, dann kann er sowohl hinausschauen, herunterschauen und aufschauen. Die Kinder sagten (als sie an ihren Kruzifixen arbeiteten) auf unterschiedliche Weise: wenn er herunterschaut, dann tut es mir leid um ihn, und ich bin traurig. Wenn er aufschaut - darin liegt größere Hoffnung. Oder: wenn er aufschaut, dann ist es, wie wenn er mit Gott spricht.

            Wer sieht also wen an? Und wie?

            Wer ist Zuschauer: Jesus, der auf uns schaut? oder wir, die ihn ansehen? Und wie schauen wir: senken wir den Blick, voller Scham? Oder sehen wir nach oben, voller Hingabe? Schaut er herab: im Stich gelassen und geopfert? Oder sieht er herab, voller Mitleid und liebevoll? Oder sieht er nach oben und sagt: warum hast du mich verlassen? Oder sieht er nach oben und sagt: vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun? Oder schaut er hinaus in die Welt und denkt: so sind die Bedingungen.

            Oder schließt er die Augen, weil er müde ist? Er mag nicht mehr.

            Oder, nun hat er getan, was er konnte, für uns, für die Welt.

            Jetzt will er nach Hause. Jetzt will er in Frieden gelassen werden. Vater, in deine Hände befehle ich meinen Geist?

            Wir sind Zuschauer, Karfreitag.

            Nur punktuell können wir es aushalten, teilzunehmen.

            Und genau hier gilt es, ehrlich und freimütig zu sein. Und dazu zu stehen, dass wir Zuschauer sind, und nicht 'so zu tun als ob'. So tun, als ob wir teilnähmen. Vorgeben. Voyeur zu sein ist nicht besonders schön. Vielleicht weil in dem Begriff des Voyeurismus und des Voyeur-Seins etwas von dem 'So tun als ob' liegt. Man ist Zuschauer, aber man hat mehr davon; man lockt etwas aus dem heraus, was man sieht, als gelte es einem selbst. Und das ist Heuchelei. Auf Abstand zu sein, sich auf Abstand zu halten, aber Vorteil aus dem zu ziehen, was man sieht, ohne den Preis zu bezahlen, indem man sich involviert, involviert ist.

            Z.B. als die beiden Türme in New York in Stücke geflogen wurden. Wir alle waren Zuschauer. Mit Ausnahme der Toten und ihrer Angehörigen, und der Verwundeten und der Helfer.

            Wir anderen waren Zuschauer. Und es war ein faszinierendes Schauspiel, sonst würde das Fernsehen es ja nicht immer wieder zeigen. Aber als ein deutscher Künstler zu sagen wagte, dass es uns ästhetisch faszinierte, dass wir angezogen würden, das Schauspiel zu schauen, ja, da wurde er von ganz Europa überfallen und musste alles wieder zurücknehmen. Und zur selben Zeit zeigten die Fernsehschirme wieder und wieder und wieder die Flugzeuge, die in die Gebäude rasen und sie in Brand stecken, während man von den Äußerungen dieses Ärgernis erregenden Deutschen berichtete...

            Heuchelei - Ehrlichkeit. Es geht um einen Mut, einzusehen, dass man Zuschauer ist und nur punktuell Teilnehmer, und nicht so zu tun, als wäre man mehr als das. Aber wir sind versucht, Gefühle und Sinn und Bedeutung aus etwas zu ziehen, ohne den Preis dafür zu zahlen, dass wir dabei sind. Aber wir ziehen Sinn und Bedeutung und Gefühle und Erkenntnisse daraus. Und in diesem Sinne sind wir alle Voyeure, in irgendeinem Ausmaß.

            Künstler sind oft diejenigen, die uns das sagen können. Weil ihr Metier ja das Sehen ist; das Sehen und ihm einen Ausdruck Verleihen. Jörgen Leth ist genau einer von ihnen, der ununterbrochen darum kreist, zuzusehen, aus dem Abstand. Und es zu benutzen in einem künstlerischen Ausdruck, im Film. Und ist das zulässig? fragt er sich selbst. Kann man sich erlauben, Leiden und Grausamkeit zu zeigen? Wo verläuft die Grenze, wenn man die Leiden anderer ausnutzt und dadurch die Welt künstlerisch zeigen will, wie es in der Welt ist?

            Ich möchte schließen mit einem anderen Künstler, einem Belgier. Es ist ein Gedicht darüber, Zuschauer zu ein bei den Leiden anderer, und darüber, was die Opfer vielleicht denken mögen. Es ist ein Lied von Jacques Brel, in meiner eigenen Übersetzung - damit muss man sich zufrieden geben:

 

Die Stiere

Die Stiere langweilen sich am Sonntag.
Wenn sie in der Arena für uns laufen sollen.
Etwas Sand, etwas Sonne, einige Planken,
etwas Blut, so dass ein bisschen Schlamm entsteht.
Das ist die Stunde, in der die Gemüsehändler glauben, sie seien Don Juan,
das ist die Stunde, in der die englischen Damen sich weg träumen.
ahh
wer kann uns sagen, war der Stier denkt
während er läuft, und kehrt macht
und plötzlich entdeckt, dass er wehrlos ist
ahh
wer kann uns sagen, wovon er träumt
wenn der das Auge hebt
und die Hörner sieht
auf der Stirn aller Hörnerträger.

Die Stiere langweilen sich am Sonntag.
Wenn sie in der Arena für uns leiden müssen.
Sieh, jetzt sind die Picadores da, und die Volksmenge ist voller Rache,
sieh, jetzt sind die Toreadores da, und die Volksmenge gibt sich hin.
Das ist die Stunde, in der die Gemüsehändler glauben, sie seien Garcia Lorca,
Das ist die Stunde, in der die englischen Damen sich weg träumen wie Carmen

Die Stiere langweilen sich am Sonntag
Wenn sie in der Arena für uns sterben müssen.
Gleich wird der Degen hindurchgehen, die Volksmenge lehnt sich nach vorn um zu sehen
Jetzt ist der Degen hindurchgegangen, die Volksmenge erhebt sich und jubelt.
Das ist der Augenblick des Siegs, in dem die Gemüsehändler glauben, sie seien Nero
das ist der Augenblick des Siegs, in dem die englischen Damen sich weg träumen mit Wellington
ahh
vermutlich werden die Stiere, während sie zur Erde fallen
vermutlich werden sie träumen von einer Hölle,
in der Menschen und Toreadores verbrennen
ahh
oder wie?
während sie fallen
ob sie uns dann vergeben,
weil sie an alle unsere Niederlagen denken?
an die in Karthago, Waterloo oder Verdun?

Amen



Pastorin Inger Hjuler Bergeon
Odense, Dänemark
E-Mail: ihb(a)km.dk

Bemerkung:
Übersetzung aus dem Dänischen: Dietrich Harbsmeier


(zurück zum Seitenanfang)